An dieser Frage war Faust gescheitert. In der Eröffnungsszene von »Faust II« steht -in Analogie zu »Faust I« - wieder ein großer Monolog Fausts, in dem Goethe unter der Hand eine Antwort gibt.
In der Morgendämmerung erwartet Faust den Aufgang der Sonne. Als sie endlich hinter einer Bergschulter hervortritt, trifft ihr »Flammenübermaß« seine Augen so schmerzhaft, dass er sich abkehren muss. Doch lässt das »Feuermeer« in ihm eine Erkenntnis aufblitzen, die er sich erschrocken als Frage formuliert. »Ist´s Lieb´? Ist´s Hass? Die glühend uns umwinden, / Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer, / So daß wir wieder nach der Erde blicken, / Zu bergen und im jugendlichsten Schleier.« (Verse 4711 – 14)
Das »ewige Licht« der Sonne steht für Erkenntnis. Goethe paraphrasiert hier das Höhlengleichnis Platons.* Setzt man für die Dichterworte »Lieb´« und »Hass« die Begriffe Sozialität und Aggressivität, hat man das Spannungsfeld, in dem Leben sich verwirklicht, die Pole, zwischen denen es alterniert, - im Kleinen wie im Großen. Die beiden gegensätzlichen Elementar-Triebe treiben die Evolution voran. Sie sind sie von gleichem Gewicht wie Mutation und Selektion.
* -> [http://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6hlengleichnis]
Mit »Lieb'« und »Hass« (Sozialität und Aggressivität), die »glühend uns umwinden« (unentrinnbar) trifft Goethe eine anthropologische Aussage. Aggressivität (sublimiert als Konkurrenz, Wettbewerb) und Sozialität (Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftsgefühl) sind in jedem Menschen angelegt, auch bei nicht domestizierten Säugetieren, die in sozialen Verbänden leben. Am stärksten entwickelt sind sie beim Menschen, dem Zoon politikon. Im günstigsten Falle halten sich beide Antriebe die Waage. Doch das Mischungsverhältnis kann sehr unterschiedlich ausfallen. Im Extrem bleiben nur Egoismus und Konkurrenzdenken, vielleicht mit einem gelegentlichen Anflug von sozialem Empfinden. Das andere Extrem ist soziales Engagenment bis zur Selbstaufgabe.
Die missionierende These "Ohne Christentum keine Moral" trifft nicht zu. Soziale Antriebe, die Wurzeln der Moral, sind älter als das Christentum. Es kodifiziert lediglich die Bedürfnisse nach Sozialität (der Appell Jesu Christi „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“) und perhorresziert Aggressivität (das mosaische Gebot „Du sollst nicht töten“). Gefordert wird hier und dort, was anthropologisch bereits angelegt ist. "Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewußt." (Faust I, Prolog im Himmel).
Heute sucht die Physik nach einer mathematischen Erfassung der Welt, nach der ´Weltformel´ und wendet auf dieses Bemühen das Goethewort von ihrem innersten Zusammenhalt an. Fausts Suche dagegen hatte der Lebensdynamik gegolten (»Des Lebens Fackel wollten wir entzünden«). Sein schreckhaftes Erkennen der geheimen Doppelnatur des Menschen löst sogleich Abwehr aus, "So daß wir wieder nach der Erde blicken, / Zu bergen uns im jugendlichsten Schleier", d. h. in Nichtwissen.
In den maßgebenden, von Albrecht Schöne zusammengetragnen Kommentare zu Goethes Faust [Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1994] werden die Verse 4711 -14 nicht kommentiert.
Abbildung des Monologs im Erstdruck (1828): ->
[http://commons.wikimedia.org/w…lebendig.jpg#Beschreibung]