Heinz Grill – Die Schatten des Schah-in-Schah

  • Hallo zusammen!


    Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar reiten wieder …


    Habent sua fata libelli – Auch Bücher haben ein Schicksal. Was schon die alten Römer wussten, bestätigt sich einmal mehr im 21. Jahrhundert.


    Grills Buch führt den Untertitel ALTERNATIVE FORTFÜHRUNG VON KARL MAYS REISEERZÄHLUNGEN DER LÖWE DER BLUTRACHE UND BEI DEN TRÜMMERN VON BABYLON. Schon das weist auf eine ganz spezielle Entstehungsgeschichte.


    Ein Buch, geschrieben in der Mitte des 20. Jahrhunderts, zum ersten Mal veröffentlicht im 21. Jahrhundert, das Bezug nimmt auf eines aus dem Ende des 19. Jahrhunderts … Deklariert als Fortsetzung einer Reiseerzählung, die ein anderer Autor geschrieben hat. (Wobei dieser Autor die Geschichte unter diesem Namen und in der verlagsseitig erstellten Form nicht wieder erkennen würde.)


    Karl May wurde bekanntlich berühmt durch seine Abenteuerromane um Old Shatterhand und Winnetou, um Kara ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Er war einer der Autoren, der sich mit seinen Erfindungen so stark identifizierte, dass es Phasen gab, in denen er von sich behauptete, dieser Old Shatterhand zu sein, die Abenteuer mit Winnetou und dem kleinen Hadschi tatsächlich erlebt zu haben. Unvorsichtig, so etwas zu behaupten, wenn es Neider gibt, die dir nachweisen können, dass du zum Zeitpunkt als angeblich Winnetou in deinen Armen starb, in einem sächsischen Zuchthaus eingesessen hast.


    Dies und wohl auch seine eigene Entwicklung führte May irgendwann dazu, dass er sich von seinen Abenteuerschinken ab- und einer „symbolischen“ Schreibweise zuwandte. Das zu erwartende Resultat war, dass die meisten seiner Leser, sein Verleger inklusive, sich vor den Kopf gestossen fühlten, zwei angefangene Mehrbänder in der Luft hingen. Der eine, Am Jenseits blieb hängen, der andere, Im Reiche des Silbernen Löwen erfuhr nach Jahren eine Fortsetzung. Allerdings mutierte die Abenteuerstory zur symbolträchtigen Parabel.


    Schon bald nach Mays Tod und unterstützt durch seine Witwe, begann der Verleger, May in einen stromlinienförmigen Autor für die Jugend umzuwandeln. Das begann damit, dass Mays für einen (andern) Kolportageverlag geschriebenen Wälzer der sittlich anstössigen Stellen entledigt wurden, die auch May als Zusätze eines Fremden bezeichnet hatte. Um das Publikum nicht zu überfordern, wurde auch das Personal ausgetauscht bzw. umbenannt – die Kinderchen sollten ihren Sam Hawkens wieder finden und nicht eine Figur, die ihr zwar zum Verwechseln ähnlich sah, aber völlig anders hiess.


    Einmal angefangen zu sündigen, ging man immer weiter, und bald waren alle Werke Mays mehr oder weniger bearbeitet. Aus den – zugegebenermassen disparaten und lieblos zusammengestiefelten – ersten beiden Bänden von Im Reiche des Silbernen Löwen wurden die Bände Der Löwe der Blutrache bzw. Bei den Trümmern von Babylon.


    Der nächste logische Schritt des Verlags war es nun natürlich, der unbeendeten Geschichte von Am Jenseits ein Ende zu geben. Ein Verlagsmitarbeiter nahm es auf sich, im Stile des Abenteuerromanciers May die Fortsetzung zu verfassen: In Mekka. So wenig wie die Bearbeitungen zuvor wurde hier das ganze Werk als Werk eines Fremden bekannt gegeben.


    Was lag näher, als das unbefriedigende und nicht wirklich passende Ende vom Silbernen Löwen ebenfalls neu und „besser“ schreiben zu lassen? Diese Pläne sind dann nie verwirklicht worden, aber das im vorliegenden Band des Karl-May-Verlags der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Werk wurde eindeutig in diesem Sinn und Zweck verfasst.


    Es ist Grill im Übrigen sehr gut gelungen, sich in Tonfall und Denkweise des „Abenteuer-Mays“ einzufühlen. Die typisch May’schen Sequenzen von Reiten-gefangenwerden-reiten-sichbefreien-reiten-gefangennehmen-reiten-freilassen-reiten-etc. ad libitum werden wohl respektiert.


    Ein Buch nicht nur für May-Liebhaber sondern auch für solche, die ein Stück exzentrischer deutscher Verlagsgeschichte vor sich haben möchten.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus