August 2006: Anna Seghers - Transit

  • Hallo scheichsbeutel,


    na, da hast du aber kräftig zugeschlagen mit deinem Totalverriss.
    Da muss ich doch ein wenig zur Ehrenrettung des Romans schreiten, der nicht zu meinen Lieblingsbüchern gehört, den ich aber dennoch sehr lesenswert finde.


    ich hätte mir gewünscht, dass Seghers es bei einer bloßen Beschreibung des Flüchtlingselends belassen und auf diese unselige, sich durchs Buch ziehende Liebesgeschichte verzichtet hätte.


    Dann würde das Hauptagens des Romans wegfallen. Nicht der Deus ex machina bringt Marie nach Marseille, sondern das Erzählinteresse der Autorin: Der Ich-Erzähler wird dadurch zweifach in Emotionen verstrickt, die er nicht bewältigen kann: in seine Liebe zu Marie und sein Schuldgefühl gegenüber ihrem verstorbenen Mann, auch ein wenig gegenüber dem Arzt, der im Gegensatz zu ihm Sinnvolles leistet.
    Aufgrund seiner inneren Heimatlosigkeit ist er die Personifikation des Exils, das alle menschlichen Bindungen und ethischen Verpflichtungen beeinträchtigt.
    Die spartanische Sprache und entspricht dieser inneren Armut der Hauptfigur, weshalb der Roman in sich stimmig ist, wenn auch nicht leserfreundlich.


    HG
    finsbury

  • Hallo!



    Dann würde das Hauptagens des Romans wegfallen.


    Das ist mir schon klar. Aber eben diese ganze Konstruktion rund um dieses Flüchtlingsschicksal war für mich wirklich nur Konstruktion, eine Art von Rechtfertigung dieses Buch zu schreiben. Wobei es einer solchen Rechtfertigung gar nicht bedurft hätte, man hätte die Hauptfigur auch ohne mysteriösen Koffer des verstorbenen Schriftsteller nach Marseille schicken können. Ganz ohne (für mich überhaupt nicht plausibel wirkende) Liebesgeschichte die Verlorenheit dieser Menschen schildern können.


    Ich empfand einen tiefen Bruch zwischen gut beschriebenen kleinen Szenen, die den Alltag dieser entwurzelten Menschen schilderten, und der ganzen Geschichte, den Zufällen (und ich gebe zu: Ich mag Zufälle in Romanen gar nicht, v. a. dann nicht, wenn dem Roman eigentlich eine realistische Konzeption zugrunde liegt - bei Dickens dürfen sie vorkommen :-) ), dem Identitätswechsel der Hauptfigur (Marie ist auf diese Weise wieder mit ihrem verstorbenen Mann vereint, (den sie verlassen, in den Selbstmord getrieben hat?) mit der Möglichkeit zu psychologischen Interpretationen ad infinitum).



    Die spartanische Sprache und entspricht dieser inneren Armut der Hauptfigur, weshalb der Roman in sich stimmig ist, wenn auch nicht leserfreundlich.



    Ich habe nichts gegen "prosaische Prosa", im vorliegendem Fall schien sie mir aber vom anfangs gelungenen Stilmittel zur sprachlichen Hilflosigkeit abzusinken. Nicht jeder muss wie Th. Mann schreiben, ich mag etwa Nossack oder Kafka ebenso. Trotzdem: Hauptkritikpunkt bleibt für mich dieses unsägliche Handlungsgerüst, das der Beschreibung des Flüchtlingselends aufgepropft wurde, zu dem sie sich scheinbar verpflichtet sah. Ich empfand auch keinerlei "Spannung", ob dieses Versteckspiel aufgelöst würde, vielmehr ertappte ich mich eher bei Gedanken der Art "jetzt sag's ihr schon, damit endlich Ruh' ist und andere Beschreibungen in den Vordergrund treten können". - Es hilft nichts, ich nehme diesem Ich-Erzähler seine emotionalen Verstrickungen einfach nicht ab, sie wirken auf mich ausgedacht.


    Aber Geschmäcker sind verschieden, Eindrücke ebenso - und das soll wohl so sein!


    Grüße


    s.


  • Hallo scheichsbeutel,



    so soll es wohl sein.


    Bei mir bewirkt diese Kargheit des Stils, dass mir das Lesen weniger Spaß macht, aber der Eindruck stärker haften bleibt.


    Aber - s.o.: Spachkunst kommt unterschiedlich daher und wird auch von jedem anders wahrgenommen und akzeptiert.
    Bei Doderer und Dickens treffen wir uns dann wieder. :zwinker:


    HG


    finsbury