April 2006: Stendhal - Rot und Schwarz

  • Hallo Zola, Manjula und alle,

    Zitat von "Zola"

    Nach der Tat, die nahe Verurteilung zum Tode vor Augen, wandelt sich Julien plötzlich. Zum einen scheint er jetzt echte Liebesgefühle verspüren zu können: für Mathilde (die diese nun als genauso ehrlich wirkendes Gefühl erwidert) und für Frau de Renal.


    Mir kommt es vom Text her nicht so vor, als ob Julien Mathilde nun liebt, eher im Gegenteil. Vielleicht werden hier durch die unterschiedlichen Übersetzungen die Akzente verschoben. Julien bemüht sich zwar am Ende, Mathilde nicht allzu deutlich zu zeigen, wie sie ihm auf den Geist geht, jetzt, da er das Unverstellte, Unberechnende von Frau de Renal endlich lieben gelernt hat, aber Mathilde merkt es ja, dass Julien ihr gegenüber erkaltet. Daher ist der Schluss mit seiner bombastischen Geste
    (Mathilde mit Juliens Kopf nach Motiven ihrer Vorfahren) ja auch ganz besonders sarkastisch! Denn das ist wieder Geste, nicht wirkliches Gefühl.
    Stendhal hat mal in einem Kapitel dafür das Wort "Hiernliebe", jedenfalls in meiner Übersetzung, geprägt.

    Zitat von "Zola"


    Ich denke Julien war sich selbst bewußt, dass er erst jetzt, das drohende Todesurteil vor Augen, echte menschliche Liebe verspüren konnte und vielleicht wollte er genau deshalb das Todesurteil vollstreckt haben, da er wußte, dass eine Begnadigung ihn nur wieder zur alten kalten Berechenbareit zurückführen würde ?
    Der Autor läßt dies offen.


    Da stimme ich dir völlig zu, und außerdem konnte Stendhal schnell sein Buch beenden. Die Lustlosigkeit ist am Ende einfach zu auffällig!



    "Lucien Leuwen" würde ich in der nächsten Zeit nicht mitlesen, weil ich das Buch nicht habe und mich der Autor momentan nicht so vom Hocker reißt, dass ich mit einem seiner weiteren Werke meinen unermesslichen SUB weiter vergrößern wollte.


    Wie geschrieben, bei mir steht die "Armance" in den nächstenWochen /Monaten an. Übrigens ein interessantes Thema: Da geht es um Impotenz:
    Ganz schön gewagtes Thema zu der Zeit!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,


    mein Lesetempo kann mit Eurem nicht mithalten :zwinker: egal, so habe ich noch länger etwas von dem Buch.


    Ich bin nun im zweiten Buch angelangt. Die Figur des Julien kann ich nach wie vor nicht einschätzen: einerseits ist er ein Karrierist, dem der gesellschaftliche Aufstieg extrem wichtig ist. Andererseits lässt er aber auch weiche Seiten erkennen: z.B. als ihm die Häftlinge leid tun oder als er Abbé bei dessen Abschied aus dem Seminar Geld anbietet. Und sein anfängliches abweisendes Verhalten gegenüber Mathilde ist ja nicht unbedingt angetan, ihm Vorteile im Haus de Mole zu verschaffen.


    Die Beschreibung des Duells und seiner Folgen fand ich lustig: da man sich ja nicht mit einem Niemand duelliert haben kann, muss dieser zu einem illegitimen Sohn eines Adligen "befördert" werden!


    In meinen Anmerkungen sind übrigens u.a. interessante Hinweise auf die mit Stendhals eigenen Kommentaren versehene Bucci-Ausgabe enthalten, in der er sich z.T. recht witzig über sein Werk auslässt. So hat er z.B. in dem Kapitel, in dem er bei Mme. Rênal durchs Fenster eindringt, nach folgender Stelle


    Zitat

    Die Stille war tief und undurchdringlich. Nur eine Eule schrie eine Viertelmeile entfernt; die Schönheit des Abends rührte Julien und ließ ihn ein wenig von seinem Mut verlieren. Welch ein Glück, sie in die Arme zu schließen.


    handschriftlich angefügt:


    Zitat

    Wen? die Eule?

    :breitgrins:


    Leider haben diese aufschlussreichen Anmerkungen auch einen deutlichen Einfluss auf mein Lesetempo...


    EDIT: Jetzt fällt mir noch etwas zu den verschiedenen Übersetzungen ein, von denen wir es ja am Anfang hatten: Es gab zwischen 1901 und 1949 acht Übersetzungen (von denen eine "Rot oder Schwarz" hieß!). Diese müssen sich wohl recht stark unterscheiden, in einer seien Kapitel verschoben und Passagen ganz gekürzt, in der nächsten wurden Sätze einfach ausgeschmückt...Schade, dass es nicht möglich ist, alle Werke im Original zu lesen, man ist doch so sehr stark von der Qualität der Übersetzung abhängig.


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

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  • Zitat von "finsbury"

    [...]
    Wie geschrieben, bei mir steht die "Armance" in den nächstenWochen /Monaten an. Übrigens ein interessantes Thema: Da geht es um Impotenz:
    Ganz schön gewagtes Thema zu der Zeit!


    HG
    finsbury


    Hallo finsbury,


    in meinen Anmerkungen (schon wieder!) heißt es, dass Stendhal durch einen Roman, der eben von diesem Thema handelte, zu "Armance" angeregt wurde.


    Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    Zitat von "Manjula"

    In meinen Anmerkungen sind übrigens u.a. interessante Hinweise auf die mit Stendhals eigenen Kommentaren versehene Bucci-Ausgabe enthalten, in der er sich z.T. recht witzig über sein Werk auslässt.


    Kannst du etwas mehr über diese Bucci-Ausgabe sagen? Scheint ja sehr interessant zu sein.


    Vielen Dank auch für deine Erwähnung der acht Übersetzungen: Da sieht man, dass Stendhal doch wohl den Nerv der Zeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts getroffen hat. Die Weimarer Republik und die Nachkriegszeit hatten ja durchaus auch restaurative Züge, in denen ein Charakter wie Julien auch seine Schwierigkeiten gehabt hätte, nicht zum Karrieristen zu werden.


    Weiterhin vergnügliche Lektüre


    HG


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo finsbury und Zola,


    so, jetzt habe ich Rot und Schwarz auch abgeschlossen und bin sehr zufrieden mit der Lektüre. Besonders faszinierend fand ich die Charakterschilderungen von Julien und Mathilde, wahrscheinlich, weil sie mir so fern lagen und ich mich so gar nicht mit ihnen identifizieren konnte. Julien, der aufstiegsfixierte Karrierist, aber dann auch wieder so widersprüchlich, wenn es um seine "Liebes"-beziehungen geht (ob er Mathilde wirklich geliebt hat? Ich kann es nicht so recht glauben). Und Mathilde - sie ist ja die leibhaftige Verkörperung des "überspannten Frauenzimmers".


    Worüber ich noch lange nachgedacht habe: Warum eigentlich hat Julien auf Mme. de Rênal geschossen? Eine Affekttat war es ja nicht. Was hatte er sich davon versprochen? Ich werde nicht schlau daraus. Was meint Ihr dazu?


    Zu der Bucciausgabe: es handelt sich um eine Erstausgabe, in der Stendhal Notizen, Korrekturen und Kommentare angebracht hat (diese sind zum Teil bis heute nicht entziffert). Nach seinem Tod war dieses Buch - ebenso wie einige andere - eben wg. der handschriftlichen Hinzufügungen unverkäuflich, so dass Stendhals Cousin sie dem Antiquitätenhändler Donato Bucci (ein Freund Stendhals) überließ. Heute ist der gesamte Buchbestand im Besitz der Biblioteca Communale in Mailand.


    Was die Übersetzungen betrifft, kam mir die Zahl auch hoch vor, aber im Vergleich zu anderen Werken ist sie wohl niedrig (von Madame Bovary soll es mindestens 25 Versionen geben).


    Jedenfalls ein sehr lesenswertes Buch - diese Leserunde hat mir viel Spass gemacht :smile:


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    zunächst danke für die Erläuterungen zur Bucci-Ausgabe. :blume:

    Zitat von "Manjula"


    Worüber ich noch lange nachgedacht habe: Warum eigentlich hat Julien auf Mme. de Rênal geschossen? Eine Affekttat war es ja nicht. Was hatte er sich davon versprochen? Ich werde nicht schlau daraus. Was meint Ihr dazu?


    Ich glaube, dass Julien unglaublich erregt war, weil er auf dem gerade erreichten Gipfel ins Bodenlose gestürzt wurde. Dass dieser Sturz gerade von Mme de Renal verursacht wurde, hat ihn derartig angefressen, dass er sie, der er ja vollkommen vertraut und die er unbewusst die ganze Zeit weitergeliebt hatte, ebenfalls zerstören wollte.
    In dieser geistigen Situation war er bis zum Mordanschlag. Er ist erst wieder zu seinem besseren Selbst gekommen, als er dachte, dass er sie ermordet hätte.



    Ich fand auch, dass es eine schöne Leserunde war.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo Zusammen,


    Zitat von "finsbury"


    Ich glaube, dass Julien unglaublich erregt war, weil er auf dem gerade erreichten Gipfel ins Bodenlose gestürzt wurde. Dass dieser Sturz gerade von Mme de Renal verursacht wurde, hat ihn derartig angefressen, dass er sie, der er ja vollkommen vertraut und die er unbewusst die ganze Zeit weitergeliebt hatte, ebenfalls zerstören wollte.
    In dieser geistigen Situation war er bis zum Mordanschlag. Er ist erst wieder zu seinem besseren Selbst gekommen, als er dachte, dass er sie ermordet hätte.


    wobei ich mich frage, ob er Mme de Renal wirklich geliebt hatte. War diese Liebe nicht eher Eigenliebe gewesen, die Eitelkeit von ihr geliebt und begehrt zu werden und war vielleicht gerade deshalb die Enttäuschung so groß, weil er ihr Handeln als Verrat an ihrer Liebe zu ihm empfand ?


    Zitat von "finsbury"


    Ich fand auch, dass es eine schöne Leserunde war.


    Dem möchte ich mich anschließen :zwinker:


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo,


    Zitat von "Zola"


    wobei ich mich frage, ob er Mme de Renal wirklich geliebt hatte. War diese Liebe nicht eher Eigenliebe gewesen, die Eitelkeit von ihr geliebt und begehrt zu werden und war vielleicht gerade deshalb die Enttäuschung so groß, weil er ihr Handeln als Verrat an ihrer Liebe zu ihm empfand ?


    Da hast du sicherlich Recht: Bei Julien ist das klar. Allerdings ist wohl jede Liebe zumindest zu einem großen Teil Eigenliebe, denn wenn wir uns von unserem Partner nicht angenommen fühlen, dann bleiben wir wohl kaum bei ihm/ihr. Oder höchstens ein paar Masochisten :zwinker: .


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von ()

  • Hallo zusammen,


    bei Juliens Gefühlen für Mme. de Rênal spielen wohl alle möglichen Facetten eine Rolle: Eitelkeit, Machtgier, Herausforderung, Geschmeicheltsein, Rache (an ihrem Mann), Genugtuung (gegenüber der Gesellschaft, die ihm keine andere Chance zum Aufstieg gibt)...Das als Liebe zu bezeichnen, fällt mir schwer. Andererseits ist die "reine Liebe" wohl eher eine Illusion, da stecken doch immer andere Gefühle mit drin. Und manchmal ist es besser, man fragt nicht, welche :zwinker:


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]