J.W. von Goethe: Faust I und Faust II

  • Hallo!


    Ts, ts, ts, diese Ignoranz...
    Sandhofers Argumente kann ich schon nachvollziehen, dennoch...
    Aber ich will darüber nicht streiten. Goethe braucht zudem keine Verteidiger. Mir bedeutet Faust II sehr viel, und ich bin glücklich, daß es diese "Fortsetzung" gibt. :sonne:


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Guten Abend


    vielleicht kann ich die Diskussion zum Faust mit einem neuen Beitrag wieder in Gang bringen, wäre spannend.


    Ich denke, es lohnt sich unbedingt, nach dem ersten auch den zweiten Teil in Angriff zu nehmen. Die Gretchen-Tragödie führt keineswegs dazu, dass die von Pius gestellten Fragen in den Hintergrund treten. Goethe hat sie bestimmt nicht vergessen. Im Gegenteil: die im ersten Teil begonnene Geschichte ist noch lange nicht zu Ende (und auch Gretchen hat im zweiten Teil nochmals einen Auftritt).


    M.E. steht Faust zu Beginn des ersten Teils inmitten einer Midlife Crisis. Diese lebt er zuerst einmal auf der Genuss- und Triebebene aus, was zur Katastrophe führt. Erst der zweite Teil des Werkes - an dem ich gerade selbst intensiv zu beissen habe - bringt die (Er-)Lösung. C.G. Jung sagt das - stark verkürzt - etwa so: Man(n) muss den weiblichen Aspekt in sich selbst suchen, nicht ausser sich, um sich selbst zu werden (V. 12110-12111: "Das Ewig-Weibliche/Zieht uns hinan.").


    Auf bald hoffentlich


    Uhu

    Das Universum, das andere die Bibliothek nennen [...] (J.L. Borges, Die Bibliothek von Babel)

    Einmal editiert, zuletzt von uhu ()

  • Nun, ich behaupte ja nicht, dass man Teil 2 nicht lesen solle. Aber ich finde es nach wie vor "statthaft", nur Teil 1 gelesen zu haben. Oder auch umgekehrt. Auch Teil 2 kann man, wenn wir den Anfang, wo mehr schlecht als recht das Scharnier zum ersten Teil gezimmert worden ist, mal beiseite lassen, unabhängig von Teil 1 lesen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    Faust I und II zusammen lesen? Na, jedenfalls im Zusammenlesen sehe ich keinen tieferen Sinn. Aus dem Faust kann man beliebige Teile lesen, letztlich sogar in beliebiger Reihenfolge, sie haben alle ihren hohen dichterischen Wert, aber als ein Ganzes überzeugen sie mich nicht.


    Der Faust ist inhaltlich und formal ein Fragment, über Jahrzehnte hinweg zusammengestückelt, in allen Abschnitten unzählige Male um- und überarbeitet und nie richtig fertig geworden. Eine Textsammlung aus Vers- und Prosadichtung, gedanklich weit auseinanderstrebend und am Ende des 2. Teils nur notdürftig wieder zusammengeknüpft, teils durch die im Prolog eröffnete Rahmenhandlung, teils durch ein Wiederaufgreifen der Gretchenfabel.


    Ausgangspunkt war das alte Volksmärchen vom Doktor Faust, einem mittelalterlichen Quacksalber. Diese Figur dient zum Aufbau der Gretchentragödie. Wer diesen Aspekt betrachten will, dem reicht Teil I; man kann dabei streng genommen auch einige Einsprengsel wie die Blocksberg-Szene oder Auerbachs Keller weglassen - wenn sie nicht so funkelnde Stücke Dichtung wären.


    Teil 2 hat damit gar nichts mehr zu tun, hier geht es hauptsächlich um poetisch eingekleidete philosophische Betrachtungen, die sich am Geist der weimarer Klassik orientieren - folgerichtig wechselt auch das Götter- und Dämonenpersonal. Die nordisch-krude Mischung aus mittelalterlich geprägtem Christentum, Hexen- und Elementargeistern weicht den antiken Olympiern, und selbst Mephisto muss ich als Phorkyas maskieren. So divergente Mythen und Fabeln unter ein Dach bringen zu wollen, zeigt m.E.: das war nie als ein Ganzes durchdacht.


    Und noch eines: die Moral der Geschichte ist abscheulich. Soll das titanisch waltende Genie wirklich morden, sengen und brennen dürfen, wie es lustig ist, wenn es dabei nur nicht stille steht? Bedaure, dieser Meinung bin ich nicht (und teile hier Jean Pauls Meinung über die Person Goethes: "dahin muss das Genie kommen, wenn es keine Tugend hat").


    Also lest den Faust zusammen oder einzeln oder nur die schönsten Teile daraus, genießt die anmutige Lyrik, freut euch an wundervollen poetischen Blüten, an satirischen Kabinettstückchen, an tiefgründiger Philosophie; berauscht euch an der Vorstellung, vom Ewig-Weiblichen hinangezogen zu werden, bestückt euch in diesem unerschöpflichen Zitatenarsenal mit rhetorischen Flinten und Floretten. Alles das hat seinen -hohen- Wert, aber eine Lektüre beider Teile en suite, mit allen Abschweifungen und in allen Pfaden der Handlung(en) sehe ich eher als eine Ausdauerleistung.


    Nicht böse sein, liebe Goetheianer, von Zeit zu Zeit les ich den Alten selber gern.


    Grüße,


    Gronauer

  • So divergente Mythen und Fabeln unter ein Dach bringen zu wollen, zeigt m.E.: das war nie als ein Ganzes durchdacht.


    Andererseits ist Goethe damit ganz im aktuellen (postmodernen) Trend, man werfe z.B. einen Blick in Christoph Marzis Lycidas. (Der - bevor man mir etwas unterstellt - sprachlich allerdings ... nun ja ... hinter Goethe zurücksteht. Selbst hinter dem Kanzleideutsch des Juristen Goethe ... )

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  • Guten Abend


    Ein Fragment bezeichnet ein Bruchstück, etwas, das unvollendet geblieben ist. Und das ist der Faust nun gerade nicht. Ich denke, dass es bezeichnend ist, dass Goethe nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben als vollendet betrachtete, nachdem er den Faust beendet hatte. (Eckermann, Gespräche mit Goethe, 6.6.1831)


    Selbstverständlich kann man auch nur den ersten Teil lesen. Die Behauptung, Faust II habe mit Faust I nichts mehr zu tun, möchte ich aber in Abrede stellen. Faust muss seinen Weg voranschreiten. Er kann nicht dort stehenbleiben, wo er am Schluss von Faust I steht, mit Gretchen auf dem Gewissen. Der Zusammenhang zwischen den beiden Teilen zeigt sich sodann an dem, dass im zweiten Teil immer wieder Bezüge zum ersten hergestellt werden, nicht zuletzt durch Gegensätzliches (romantische Walpurgisnacht - klassische Walpurgisnacht z.B.) oder den Verlauf von Gretchen zu Helena zu Sophia (mater gloriosa).


    Schönes Wochenende!


    Uhu

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  • Andererseits ist Goethe damit ganz im aktuellen (postmodernen) Trend, man werfe z.B. einen Blick in Christoph Marzis Lycidas. (Der - bevor man mir etwas unterstellt - sprachlich allerdings ... nun ja ... hinter Goethe zurücksteht. Selbst hinter dem Kanzleideutsch des Juristen Goethe ... )


    Also meiner Meinung nach gelingt es Goethe doch nicht so schlecht, diese Divergenz der Mythen formal zusammenzubringen. Die entsprechenden Einfälle sind nicht unwitzig und auch Versmaß etc. sind geschickt gemacht. Ich schätze Faust II durchaus und sehe keinen Sinn darin, die beiden Teile gegeneinander auszuspielen.


    CK

  • Ich schätze Faust II durchaus und sehe keinen Sinn darin, die beiden Teile gegeneinander auszuspielen.


    Man verstehe mich recht: Ich wollte keineswegs die beiden Teile gegeneinander ausspielen, und auch ich schätze Faust II sehr. Mein Ausgangspunkt war die Frage: Kann man nur den Faust I lesen? Und da ist meine Antwort: Natürlich kann man. Allerdings würde ich im gleichen Atemzug empfehlen, ihn zumindest einmal - egal in welcher Aufführung - live auf einer Bühne zu erleben, und dann auch den zweiten Teil zu lesen. Und - ich habe, wenn's sein muss, einen langen Atem :breitgrins: - hinzufügen, dass ich persönlich allerdings den zweiten Teil nicht unmittelbar anschliessen würde, sondern zumindest die beiden Wilhelm Meister und einiges von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften noch vorher einschieben.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Also ich für meinen Teil kann die Anmerkung von Sandhofer nur unterstreichen. Mir ging es weiter oben auch nur um die Frage, welchen Wert die Teile des Faust jeweils für sich und im Verhältnis zu ihrer Summe haben.


    Allerding bestehe ich auf der Feststellung, dass der Faust insgesamt fragmentarischen Charakter hat. Mir kann jedenfalls niemand weismachen, dass der gesamte Opus in einer Form hinterlassen wurde, die der Geheime Rat a.D. sich als eine endgültige vorstellte. Und da unterscheidet sich der Faust eben auch von solchen Werken, die bewusst fragmentarisch angelegt waren und bei denen dann die Summe der Fragmente eben doch ein integrales Ganzes bilden, das man nicht wie einen Steinbruch nutzen sollte.


    Auch wenn das folgende Kriterium nicht so ganz germanistischen Ansprüchen genügen sollte, hilft es wenigstens als Indiz: liegt das Erstveröffentlichungsdatum mehr oder weniger lange vor dem Tod des Autors, spricht viel für eine bewusst bruchstückhafte Anlage. Wurde das Werk erst posthum veröffentlicht, spricht mehr dafür, dass der Autor mit einer Baustelle nicht mehr fertig wurde. Faust I und II als Gesamtwerk kam erst nach Goethes Tod heraus.


    Grüße,


    Gronauer

  • Hm ... Faust II wurde, wenn ich mich recht erinnere, im Sommer 1831 abgeschlossen. Goethe hat das Manuskript versiegelt und wollte eine Veröffentlichung erst nach seinem Tode. Aber für Genaueres müsste ich nochmals nachlesen, ich vermute, Eckermann hat die Story ...

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  • Guten abend


    Ich kann Sandhofer nur zustimmen. Die Stelle bei Eckermann ist 6.6.1831. Ein Fragment ist - schon vom Begriff her - etwas Unvollständiges. Zumindest Goethe hat nichts Unvollständiges in seinem Werk gesehen, sonst hätte er sich nicht so gegenüber Eckermann geäussert. Die postume Veröffentlichung war gewollt.


    Um noch etwas zu provozieren: Faust I, für sich allein genommen, hat sicherlich hohen dichterischen Wert. Seine wirkliche Bedeutung erlangt er aber erst im Zusammenhang mit Teil II. Faust macht eine Entwicklung durch, und zwar über die beiden Teile hinweg. Dass die beiden Teile zusammengehören, ergibt sich - wie schon erwähnt - auch daraus, dass im zweiten Teil nicht nur ganze Teile (wie v.a. die Walpurgisnacht) parallel vorkommen, sondern auch unzählige Fäden wieder aufgenommen werden, die schon im ersten Teil ausgelegt wurden. Beispiele:


    - Die Bedrohung, die von der Gottähnlichkeit (Inflation) ausgeht, V 4708 (vgl. V 2049)
    - Das erneute Auftauchen Wotans in V 5801 und V 10677 (vgl. V 2491ff.)
    - Referenz zur Hexenküche im ersten Teil in V 6229
    - "Verweile doch, du bist so schön!" (V 11582 bzw. V 1699)
    - "Die Uhr steht still - " in V 11592 und der entsprechende Text in V 1705


    Schönen Abend!


    Uhu

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  • Die Stelle bei Eckermann ist 6.6.1831.


    Danke. Ich hab's dann, ehrlich gesagt vergessen herauszusuchen ... :redface:


    I, für sich allein genommen, hat sicherlich hohen dichterischen Wert. Seine wirkliche Bedeutung erlangt er aber erst im Zusammenhang mit Teil II.


    Darüber lässt sich nun trefflich streiten. Eine seiner Bedeutungen, ja. Die, die ihm der alte Goethe geben wollte, ja. Seine "wirkliche" Bedeutung? Hm ... Ich stehe solchen Begriffen zusehends skeptischer gegenüber. Ein Klassiker zeichnet sich m.M.n. (auch) dadurch aus, dass der Gehalt seiner Bedeutungen nie ausgeschöpft ist - es also insofern keine "wirkliche" (was für mich beinhaltet: einzige!) Bedeutung gibt.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Zugegeben, meine Aussage war etwas absolut formuliert! Ich relativiere: seine wirkliche Bedeutung erlangt er für mich erst im Zusammenhang mit Teil II. Ich glaube aber, man muss auch aufpassen, die Gesamtbetrachtung der beiden Werke nur dem alten Goethe zuzuschreiben. Immerhin äussert er sich in einem Brief an Zelter vom 1. Juni 1831 wie folgt: "Es ist keine Kleinigkeit, das, was man im 20. Jahre konzipiert hat, im 82. ausser sich darzustellen."

    Das Universum, das andere die Bibliothek nennen [...] (J.L. Borges, Die Bibliothek von Babel)

  • Ich glaube aber, man muss auch aufpassen, die Gesamtbetrachtung der beiden Werke nur dem alten Goethe zuzuschreiben. Immerhin äussert er sich in einem Brief an Zelter vom 1. Juni 1831 wie folgt: "Es ist keine Kleinigkeit, das, was man im 20. Jahre konzipiert hat, im 82. ausser sich darzustellen."


    Ich will dem alten Goethe durchaus zu Gute halten, dass er mit 82 der Meinung war, einen Plan, den er schon mit 20 hatte, ausgeführt zu haben. Ich kenne jetzt aber keine Dokumente aus Goethes 20. Lebensjahr, die einen solchen Plan wie Faust II untermauern würden. Aber dann kenne ich natürlich auch nicht alle Dokumente ... :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Immerhin hat Goethe die Arbeiten am Faust II aufgenommen, lange bevor Faust I 1806 beendet war. So existiert ein Schema zur "Weiterdichtung" vom Juni 1797 (da war Goethe zugegebenermassen schon etwas älter als 20). Mit dem dritten Akt zu Faust II hat er 1800 begonnen.

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