Juli 2005 - Franz Kafka: Das Schloss

  • Hallo!


    Inzwischen habe ich 14 Kapitel gelesen, bin also ziemlich genau in der Mitte des Buches angelangt.


    Ein Aspekt, der mir sehr wichtig erscheint, ist K.s Leben, bevor er den weiten Weg ins Dorf auf sich genommen hat.
    Wenn ich nichts überlesen habe, so gibt es bis dahin nur zwei Stellen, die sich damit beschäftigen:
    Einmal in Kapitel 2 die Sache mit der Friedhofsmauer (sehr wichtig!) und dann in Kapitel 13 seine medizinischen Vorkenntnisse, weswegen er "bitteres Kraut" genannt wurde (damit kann ich noch nicht viel anfangen).
    Ich habe leider jetzt keine Zeit mehr, darauf einzugehen, werde das aber noch tun. Vielleicht möchte ja einer von Euch diesbezüglich den Anfang machen.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo zusammen,


    habe jetzt auch die Geschichte der Familie Barnabas gelesen. Ich finde sie nicht nur nicht traumartig sondern sehe auch keine fremden Moral- und Sittenvorstellungen. Der Chef - die Regierung, der König, die Kirche in dem Fall das Schloß bestimmen die Moral.
    Erinnert mich an einen Fall letzt im Fernsehen, wo eine Familie den Pfarrer wegen sexuellen Mißbrauchs der Tochter angezeigt hat. Pfarrer ist zwar suspendiert, steht auch schon länger wegen solcher Vorkommnisse in Verdacht - die Bösen sind aber die Familie die es öffentlich gemacht hat. Der Ort steht hinter dem Pfarrer.
    Ich denke auch an die Nazizeit, wo normale Vorstellungen von Sitte und Moral außer Kraft gesetzt waren.
    Das Individuum ordnet sich einer Macht unter. In diesem Falle fragt man sich, ob im Schloß überhaupt jemand lebt, der Regeln aufstellt, jemand wirklich Mächtiges ist noch nicht in Erscheinung getreten. Man hat so ein Zwiebelgefühl, je mehr man ins Innere vordringt, gibt es letztendlich keinen Kern. Vielleicht funktioniert das System auch nur, weil alle denken es gäbe eine Macht....
    Sollte mal jemand nachschauen gehen, ob jemand der Ausganspunkt der Macht ist.


    Liebe Grüße


    Sabine

  • Hallo zusammen :smile:


    Ich bin nun mit Kafkas Schloss zu Ende. Ich frage mich, wie oft ich dieses Buch noch lesen werde. Zuerst greife ich allerdings zu Kafkas Amerika . Was mich auch fasziniert, ist Kafkas Schreibstil, der vorsprachlich-mündlich eine eigene Komplexität entfaltet durch Aufbau, Gedankengänge etc., poetisch einfach und gleichzeitig hochkomplex.


    Ich habe mich gefragt, welches Alltagsmotiv der Hauptgeschichte zugrundeliegt, welche Geschichte dem Schloss am nächsten kommt, vielleicht die Geschichte eines heimatlosen Mannes, der versucht, die Aufenthaltsbewilligung und eventuell sogar den ihm eigentlich zustehenden Heimatschein zu erhalten und vorerst nur geduldet ist. Ein solcher Mann würde vielleicht auch eine Einheimische heiraten wollen... Dieses Grundmotiv wäre sogar sehr typisch für deutschsprachige Juden, welche an ihrer deutschen Heimat hingen und immer darunter zu leiden hatten, doch nicht ganz als Deutsche anerkannt zu sein.


    Zitat Kafka

  • Hallo!


    Wie angekündigt nun ein Gedanke über K.s Jugenderinnerungen im 2. Kapitel:


    K. gelang es lange Zeit nicht, die Friedhofsmauer zu erklimmen, aber an einem lichtüberfluteten Vormittag hatte er es doch geschafft, mit einer Fahne, die er dann oben positionierte, die Mauer zu besteigen. "Niemand war jetzt und hier größer als er... das Gefühl dieses Sieges schien ihm damals für ein langes Leben einen Halt zu geben."


    Das war wohl ein sehr prägendes Jugendereignis. ich gehe sogar so weit zu behaupten, daß es sich um das handelt, was im Sinne C.G. Jungs als ersten Kontakt mit dem "Selbst" bezeichnet wird, also einer ersten überpersönlichen, überaus beeindruckenden, kurzen, nicht"festhaltbaren" religiösen Erfüllung. Diese Erfahrung machen sehr viele Menschen. Es entspricht dem ersten Besuch im Grals-Schloß in der Parzival-Sage. Das Schloß in Kafkas Roman erinnert mich sehr an das Symbol des Grals-Schlosses bei Parzival: Es ist immer da, ganz in der Nähe, aber der Weg dorthin ist nicht ersichtlich. Daß K. nicht zum Schloß gelangt, bedeutet dann, daß er nicht in der Lage ist, die Sinnsuche in seinem Leben zu vollenden und an der (scheinbaren) Unerreichbarkeit religiöser Ganzheit zerbricht.
    Für mich hat die kleine Passage mit der Friedhofsmauer diesen religiösen, spirituellen Aspekt des Romanes greifbarer gemacht, der sich mir schon beim Sehen des Films aufgedrängt hat.
    Einerseits reflektiert Kafka so möglicherweise über seinen eigene Position zum Göttlichen, andererseits ist K. für mich aber auch ein Prototyp für den Menschen der Moderne, dem eine unbewußte Sehnsucht nach dem Religiösen innewohnt, der aber durch seine Geisteshaltung von religiöser Erkenntnis abgeschnitten ist.
    Denn die Geisteshaltung K.s ist unter diesem Aspekt genau die falsche, für ihn steht Selbstbehauptung, das Durchsetzen der eigenen Ideen, ja der "Kampf" mit dem Schloß (mehrfach so im Text erwähnt) im Vordergrund, obwohl das Zurücknehmen persönlichen Verlangens und die Öffnung für unbewußte Aspekte notwendig wäre.


    Ich sage nicht, daß ich alles (oder auch nur das meiste) in "Das Schloß" derart tiefenpsychologisch deuten möchte, aber der von mir erwähnte Aspekt ist für mich mit der wichtigste in dem Roman.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo zusammen!


    Der Müdigkeit und Erschöpfung werde ich mich anschliessend widmen, zuerst noch etwas anderes:


    Wie wirkt K. auf euch? - Ist er euch sympathisch, könnt ihr euch vorstellen, dass er Kafka ihn sympathisch zeichnen wollte? - Ich persönlich habe ziemlich Mühe mit K. Er kommt mir eigentlich gefühllos vor, sehr egozentrisch, kümmert sich hauptsächlich um sich selbst, das Schicksal der Barnabas kommt ihm zuerst zwar hart vor, je länger er zuhört, desto weniger erstaunt es ihn, desto weniger interessiert er sich dafür, es wird ihm fast ärgerlich, mit solchen Leuten verkehren zu müssen. Er scheint auch nicht immer aufrichtig zu sein, zu Frieda nicht, zu Olga nicht, zu sich selbst nicht. Man hat das Gefühl, er wisse selbst nicht so recht, was er eigentlich will: Was will er denn von Klamm, vom Schloss? - Will er aufgenommen werden? - Nie spricht er davon. Will er arbeiten? - Er weiss ja, dass niemand seine Landvermesserdienste braucht. Will er Frieda heiraten? - Wer heiratet schon eine Frau, die er erst seit zwei oder drei Tagen kennt? - Ausserdem würde Frieda gerne auswandern, was K. jedoch nicht will. Will er "schlicht und einfach" die Gunst des Schlosses? - Ja dann sollte er vielleicht nicht zu überheblich den Beamten gegenüber sein, die das Schloss doch eigentlich ausmachen, zwar soll es den Grafen Westwest geben, aber von ihm ist nur im ersten Kapitel die Rede, er tritt nie in Erscheinung, wird nie erwähnt, scheint also keine Bedeutung im alltäglichen Leben zu haben. Auch werden die Beamten als die eigentlichen Herren bezeichnet, während die Diener so leben, als wären sie die Herren, der Graf tritt nicht in Erscheinung...


    Könnte nicht auch hier ein Teil der Begründung für die Müdigkeit, das Traumhafte, die Erschöpfung liegen? - K. strengt sich an, etwas zu erreichen, aber was das "etwas" ist, liegt eher im Unklaren, im Nebel, wie das Schloss bei K.'s Ankunft, alles verschwimmt: Schlaf, Müdigkeit, Erschöpfung, Tag und Nacht, Liebe und Berechnung, Angst und Sadismus (seine Haltung Jeremias gegenüber, nachdem er ihn wegschickte), Mitleid und Abneigung (gegenüber Barnabas und der Familie z. B. ) und vieles mehr. Dies liegt allerdings nicht nur an K., das darf man nicht behaupten, auch das Schloss macht es schwer, ja fast unmöglich, Klarheit zu gewinnen: Nicht nur K. auch das Schloss lässt die Wahrheit verschwimmen: Die Telefone, die spasseshalber abgenommen und als Scherze beantwortet werden, die Briefe von Klamm, die nicht viel mit der Realität zu tun haben, die erwähnten Diener, die nichts arbeiten, während die Beamten "hart arbeiten", die Beamten, die sich im Privatleben nicht zu benehmen wissen und so weiter. Die Wahrheit ist vom Trug nicht unterscheidbar. Sebst Äusserlichkeiten sind nicht fixiert: Das Aussehen von Klamm kennt niemand genau, denn er soll im Schloss anders aussehen, als im Dorf und im Dorf sieht er auch nicht immer gleich aus oder auch die Gehilfen: solange sie zusammen Dienst taten, waren sie fröhlich und jugendlich, als K. sie verscheucht, wird Jeremias alt und krank... Zu erwähnen ist vielleicht noch, das K. sagt, er sei "bitteres Kraut" genannt worden, wegen seiner Heilkundigkeit. Zum einen weiss ich nicht, wie zuverlässig seine Aussage ist, zum anderen ist "bitteres Kraut" nur ein zweifelhafter Spitzname, da steckt mehr von Bitterkeit als von Gesundheit dahinter, meinem Gefühl nach jedenfalls.


    Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger scheint mir die Müdigkeit und Erschöpfung ein Zeichen von Lebensmüdigkeit zu sein: K. will nicht sterben, er will etwas erreichen; die Brückenhofwirtin und der Gemeindevorsteher sehnen sich auch nicht nach dem Ableben. Barnabas' Eltern sind zwar krank und Olga wartet auf das Ableben, erwähnt (soviel ich gesehen habe) nichts von Erlösung. Die Erlösung kann nur aus dem Schloss kommen, Olgas "Verdienste" könnten zwar wohl erst nach ihrem Tod anerkannt werden, dennoch scheint auch sie mir nicht wirklich todessehnsüchtig. Mir scheint, die ganze Müdigkeit und Erschöpfung, auch die Nachtverhöre sind teile davon, gehen vom Dunstkreis des Schlosses aus, sind wie ein Schutz vor Eindringlingen, da sie zermürbend wirken. Weshalb und wovor sich das Schloss zu schützen hat?


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Zitat von "binesa"


    Das Individuum ordnet sich einer Macht unter. In diesem Falle fragt man sich, ob im Schloß überhaupt jemand lebt, der Regeln aufstellt, jemand wirklich Mächtiges ist noch nicht in Erscheinung getreten. Man hat so ein Zwiebelgefühl, je mehr man ins Innere vordringt, gibt es letztendlich keinen Kern. Vielleicht funktioniert das System auch nur, weil alle denken es gäbe eine Macht....
    Sollte mal jemand nachschauen gehen, ob jemand der Ausganspunkt der Macht ist.


    Dies kommt mir sehr richtig vor! - Die Dorfbewohner ducken sich nicht vor realen Repressionen, sondern vor der Angst, es könnte Repressionen geben. Die Beamten, bzw. die Sekretäre sehen, wie auch die Dorfbewohner, die Vorschrift als unantasbar an, als vorgegeben und nicht abänderbar. Die Vorschrift selbst, ist die Macht im Innern geworden - ist Selbstzweck geworden, was im allgemeinen eine Gefahr ist: Wird ein Hilfsmittel, eine Regelung, die das Zusammenleben erleichtern sollte, eine Vermittlungsstelle oder sonst etwas ursprünglich untergeordnetes und Erleichterung versprechendes zum Selbstzweck, so ist es arg!


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Pius"


    Das Schloß in Kafkas Roman erinnert mich sehr an das Symbol des Grals-Schlosses bei Parzival: Es ist immer da, ganz in der Nähe, aber der Weg dorthin ist nicht ersichtlich. Daß K. nicht zum Schloß gelangt, bedeutet dann, daß er nicht in der Lage ist, die Sinnsuche in seinem Leben zu vollenden und an der (scheinbaren) Unerreichbarkeit religiöser Ganzheit zerbricht.
    [...]
    Ich sage nicht, daß ich alles (oder auch nur das meiste) in "Das Schloß" derart tiefenpsychologisch deuten möchte, aber der von mir erwähnte Aspekt ist für mich mit der wichtigste in dem Roman.


    Der Vergleich des Schlosses mit dem Parzival ist nicht neu, ob jedoch die Friedhofsmauererklimmung mit dem ersten Besuch Parzivals auf der Gralsburg verglichen werden kann? - Mir scheint es eher als Parodie! Sowieso: Diese Geschichte, dass er so viel Kraft aus dieser Erklimmung gewonnen haben soll und der Lehrer, der ihn mit einem Blick hinunterbefahl und dem er sofort und ohne zu überlgegen gehorchte, sich dabei sogar noch so verletzte, dass er kaum nach Hause kam, dass K. dennoch soviel auf dieses Erlebnis hält, so viel Kraft daraus zu schöpfen können meinte, das ist für mich eher ein Beispiel der Groteske! - Und ob K. ins Schloss oder nur im Dorf anerkannt und akzeptiert werden will, ist mir nicht ganz klar


    Die tiefenpsychologische Deutung des Romans ist bestimmt einer der möglichen Ansätzt, verknüpft mit der religiösen Interpretation, die vorallem auch Max Brod sehr stützte. Kafka setzte sich längere Zeit mehr oder weniger intensiv mit der Psychologie auseinander, offensichtlich war sie ihm jedoch nicht nur hilfreich und angenehm, sonst hätte er nicht (in den Aphorismen) geschrieben: "Zum letztenmal Psychologie!"


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo zusammen,


    ich bin im Urlaub ein ganzes Stück weitergekommen (man kann Kafka tatsächlich auch am Pool lesen) und frage mich immer mehr, was K. denn nun eigentlich will. Sein festes Ziel ist es, zum Schloss vorzudringen, aber was will er dort?


    Leider habe ich das Buch gerade nicht zur Hand, deshalb nur aus dem Gedächtnis einige Stellen:


    - Deprimierend fand ich, wie die Wirtin erzählt, dass das Ende ihrer Beziehung zu Klamm beherrschendes Thema ihrer frühen Ehejahre war. Sich vorzustellen, dass man aufgeweckt wird, weil die Ehefrau vom früheren Geliebten erzählen will :entsetzt:


    - Sehr amüsant dagegen das Kapitel mit dem Gemeindevorsteher und der Entstehung der Landvermesser-Konfusion. Diese ganze Geschichte mit fehlgeleiteten Briefen und nichtzuständigen Beamten hat mich lebhaft an Behördenskandale der jüngeren Zeit erinnert.


    - Den Grund für die Isolierung von Barnabas´ Familie fand ich merkwürdig. Die Dorfbewohner handeln hier in vorauseilendem Gehorsam, da ja offiziell keine "Anweisungen" vom Schloss kamen (Barnabas ist ja sogar für das Schloss tätig); sie hätten die Familie aber wieder akzeptiert, wenn diese sich aktiv gegen die Ausgrenzung gewehrt hätte...hm, daraus werde ich nicht schlau.


    - Die Art, wie Barnabas und Olga jede kleinste Begebenheit, Aktion oder auch das Nichtstun seitens des Schloss interpretieren und auseinandernehmen, erinnert mich an das Verhalten des Hofstaats an absolutistischen Königshöfen. Nur ist hier nicht klar, welcher Person diese übersteigerte Aufmerksamkeit gelten soll.


    alpha: Erschöpfung und Müdigkeit kommen tatsächlich sehr häufig vor, ob hier Kafkas eigener Zustand gespiegelt ist? Oder nimmt er damit schon das Scheitern K.´s vorweg?


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo, Alpha!


    Zitat von "alpha"

    Der Vergleich des Schlosses mit dem Parzival ist nicht neu, ob jedoch die Friedhofsmauererklimmung mit dem ersten Besuch Parzivals auf der Gralsburg verglichen werden kann? - Mir scheint es eher als Parodie! Sowieso: Diese Geschichte, dass er so viel Kraft aus dieser Erklimmung gewonnen haben soll und der Lehrer, der ihn mit einem Blick hinunterbefahl und dem er sofort und ohne zu überlgegen gehorchte, sich dabei sogar noch so verletzte, dass er kaum nach Hause kam, dass K. dennoch soviel auf dieses Erlebnis hält, so viel Kraft daraus zu schöpfen können meinte, das ist für mich eher ein Beispiel der Groteske!


    Ganz im Gegenteil! C.G. Jung selbst hatte so eine Erfahrung, als er die Sonnre hinter dem Münster in Zürich auf(unter-?)gehen sah und die Kirche in Licht getaucht war. Es war für ihn einer der bedeutensten Augenblicke seines Lebens. Ich hatte eine ähnliche Erfahrung. Äußerlich sind es vollkommen unspektakuläre Situationen, aber die persönliche Bedeutung ist gewaltig. Jener Abschnitt aus dem zweiten Kapitel hat mich sofort daran erinnert.
    Die Bedeutung des ersten Besuchs von Parzival im Gralsschloß entspricht psychologisch genau einer solchen Erfahrung, vergleiche dazu R.A. Johnsons Kommentare zur Parzival-Sage in "He - Understanding masculine psychology".


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo!


    Nun noch mal etwas zu der These: "K. ist gar kein (berufener) Landvermesser, sondern tut nur so."


    Ich habe einige "Beweise" dafür gesammelt:


    Kapitel 1: Hier zitiere ich einen früheren Beitrag von mir:

    Zitat

    Florian Wolfrum behauptet in dem von mir in den Materialen zitierten Text, dass K. überhaupt nicht der bestellte Landvermesser ist, sondern sich dies nur anmaßt. Dies scheint mir nach neuerlichem Lesen des ersten Kapitels ein interessanter Ansatz, dem ich geneigt bin zuzustimmen. Die Frage K.s „In welches Dorf habe ich mich verirrt? Ist denn hier ein Schloß?“ macht dadurch Sinn. Und als ihm droht, aus der warmen Gaststube in die winterliche Kälte herausgeschmissen zu werden, erfindet er die „Landvermesser-Geschichte“ – und hat Glück, daß das Schloß tatsächlich über einen Landvermesser bescheidweiß


    Kapitel 5: Zu den Erklärungen des Dorf-Vorstehers paßt ebenfalls gut die Tatsache, daß in Wirklichkeit gar kein Erlaß zur Berufung eines Landvermessers ausging. Exemplarisch dafür: "...von hier aus, ja selbst vom Amt aus [kann] nicht festgestellt werden, welcher Beamte in diesem Fall entschieden hat und aus welchen Gründen."


    Kapitel 15: "Durch Schwarzer war ganz unsinniger Weise gleich in der ersten Stunde die volle Aufmerksamkeit der Behörden auf K. gelenkt worden. ...Nur eine Nacht später hätte schon alles anders, ruhig, halb im Verborgenen ablaufen können. Jedenfalls hätte niemand etwas von ihm gewußt, keinen Verdacht gehabt, zumindest nicht gezögert, ihn als Wanderburschen einen Tag bei sich zu lassen. ...Wahrscheinlich hätte er bald als Knecht irgendwo ein Unterkommen gefunden. ...oder...K. am nächsten Tag in den Amtsstunden beim Gemeindevorsteher anklopfte und, wie es sich gehörte, sich als fremder Wandersbursch meldete, der...wahrscheinlich morgen wieder weiterziehen wird."


    Kapitel 17 (da bin ich gerade beim Lesen): "Ich bin aus eigenem Willen hierhergekommen und aus eigenem Willen habe ich mich hier festgehakt. ...Ich war hier zwar als Landvermesser aufgenommen, aber das war nur scheinbar, man spielte mit mir."


    Viele Grüße,
    Pius.

    Zitat
  • Hallo zusammen,


    nähere mich jetzt dem Ende. Ich finde die letzten Kapitel etwas langatmig, vor allem Bürgels Rede oder auch Pepis Klagen. K. wird mit einem Wortschwall überhäuft und damit auch der Leser. Im Falle Bürgels ist es mir gegangen wie K., ich wurde sehr müde und mußte am nächsten Tag weiterlesen. Und Pepi nervt nur. Die Welt dreht sich nur um sie, wenn in China ein Sack Reis umfällt, dann nur um sie zu ärgern. K. widerspricht ihr; für seine Verhältnisse recht barsch.
    Ich denke, Kafka hätte diesen ganzen Teil vor einer Veröffentlichung nochmal überarbeitet und gekürzt. Die Struktur geht ein wenig verloren. Die ersten Kapitel sind markanter, aussagekräftiger.


    Übrigens denke ich auch nicht, dass K. der Landvermesser ist. Sondern ich denke auch, er hat ein warmes Plätzchen gesucht, wollte irgendwo neu Fuß fassen.


    Viele Grüße


    Sabine

  • Hallo zusammen,


    so, ich befinde mich jetzt im Kapitel 20, was heißt, dass ich mich schon ziemlich lange mit Olga beschäftige. Sie kommt mir inzwischen wichtiger vor als Frieda und ich bin gespannt, welche Rolle sie noch für K. spielen wird. Verstehe ich das im 20. Kapitel richtig, dass sie den Dienern als Prostituierte dient?


    Die ganze Geschichte um Amalias Schande, ihres Vaters Verfall und Barnabas' Bemühen ist ja ziemlich deprimierend. Die Erzählung, wie der Vater an der Strasse auf einen Beamten wartet, hat mich an einen Roman erinnert, in dem beschrieben wird, wie französische Untertanen verzweifelt versuchen, dem Sonnenkönig Bittschriften zuzustecken, übrigens mit dem selben Erfolg (er steckte sie ungelesen zu seinem Schnupftabak).


    Der Bürokratie versetzt Kafka ja sehr schöne Seitenhiebe: Die Beamten verstehen nur Angelegenheiten ihrer eigenen Abteilung; manchmal entscheidet der Apparat scheinbar ohne menschliches Zutun; Telefone werden nur eingeschaltet, wenn ein übermüdeter Beamter sich zerstreuen will (den Eindruck habe ich auch öfters! :breitgrins: ); Bestechungen werden "der Einfachheit halber", aber ohne Gegenleistung angenommen...Amüsant auch die Meinung des Vorstehers: "Es ist ein Arbeitsgrundsatz der Behörde, dass mit Fehlermöglichkeiten überhaupt nicht gerechnet wird." Sehr bissig.


    Zu meiner persönlichen Einschätzung von K.: alpha, ich finde ihn auch nicht sympathisch. Für ihn ist nur wichtig, wie er seine (für den Leser im Dunkeln liegenden) Ziele erreichen kann. Als Frieda ihm vorwirft, er benutze sie nur, erwidert er nur kaltschnäuzig, das sei ja nur schlimm, wenn sie ihn nicht liebe. Wer geliebt wird, hat also jedes Recht, den anderen auszunutzen?! Ich kann mir nicht vorstellen, dass K. als Sympathieträger gedacht war.


    Evelyne Marti: Die Beziehung K.s zu Frieda ist tatsächlich interessant. In welcher jungen Liebe träumt wohl jemand davon, mit seinem Partner im Grab zu liegen? An anderer Stelle wird ja auch beschrieben, dass ein Tuch über die beiden gedeckt wird - wie ein Leichentuch.


    Pius: Ich gehe auch davon aus, dass K. kein Landvermesser ist.


    Euch allen eine schöne Woche.


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo!


    Ich habe gerade Kapitel 21 fertiggelesen. Mein Lesefluß geriet ins Stocken, zum Teil auch, weil ich die Episode mit dem Schicksal der Barnabas-Familie nicht besonders interessant fand. Ich weiß auch nicht, wieso das für den Roman so wichtig ist.


    K. ist mir ebenfalls nicht sympathisch, soll er aber auch nicht sein. Kafka hat in die Figur von K. vieles von sich selbst hineingelegt, und ich bezweifle sehr, daß Kafka von sich selbst ein positives Bild hatte. Ich verstehe auch, warum er nicht wollte, daß das Buch veröffentlicht wird. Es ist ein intimer Blick in seine Seelenlandschaft, die wohl nicht von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden sollte. Allerdings rechtfertigt der literarische Rang auf jeden Fall die Publikation.


    Speziell zu Kapitel 21: Er hat Frieda und seine Gehilfen verloren, letztere arbeiten sogar gegen ihn. Mir scheint damit sein Scheitern besiegelt. Ich will die Zahlensymbolik nicht überstrapazieren, aber die Vierzahl entspricht der Ganzheit. K. hätte die Gehilfen genau wie Frieda in sein Leben integrieren müssen. Sie entsprechen Teilen seiner Persönlichkeit, die er nicht realisiert, sogar fortjagt. Die Gehilfen sind "Puer"-Figuren, aber warum es zwei "Pueri" sein müssen, weiß ich nicht. Interessant ist, daß Jeremias stark gealtert ist. Hat jemand sich dazu Gedanken gemacht? Auch der Name Jeremia ist doch eine Anspielung auf die Bibel, von ihm stammen meines Wissens nach die Klagelieder (habe gerade keine Bibel zur Hand). Darüber lohnt es sich vielleicht auch, nachzudenken, gerade wenn man wie ich den religiösen Deutungsansatz verfolgt.


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "Pius"


    Ich habe gerade Kapitel 21 fertiggelesen. Mein Lesefluß geriet ins Stocken, zum Teil auch, weil ich die Episode mit dem Schicksal der Barnabas-Familie nicht besonders interessant fand. Ich weiß auch nicht, wieso das für den Roman so wichtig ist.


    Die Geschichte der Barnabas-Familie fandest du nicht interessant und siehst ihre Bedeutung nicht? - Ich kann mich nur wundern, denn für mich ist sie eine Einsicht in die Wirkungsweise des Schlosses, in den Aufbau des Dorfes, in die Spielregeln sozusagen. Aber du scheinst dich ja mehr auf K. selbst zu konzentrieren.


    Dass Kafka den Roman nicht veröffentlichen wollte, führe ich mehr darauf zurück, dass er ihn nicht beenden konnte - und unvollendete Werke zu veröffentlichen war ihm wohl ein Graus, ihm, der pedantisch Korrektur las. Gut, der Heizer wurde veröffentlicht, aber er war irgendwie in sich geschlossen.


    Zitat von "binesa"

    nähere mich jetzt dem Ende. Ich finde die letzten Kapitel etwas langatmig, vor allem Bürgels Rede oder auch Pepis Klagen. K. wird mit einem Wortschwall überhäuft und damit auch der Leser.


    Da hast du bestimmt recht, das Buch wird langatmig, ich allerdings verspürte dabei keine Langeweile, aber das sind vielleicht persönliche Eigenheiten. Ist euch aufgefallen, wie die Zeit fast stehen zu bleiben scheint gegen Ende? - Insgesamt sind es ja nur wenige Tage, keine Woche!


    Dass K. nicht DER Landvermesser ist, dürfte klar sein, ob er überhaupt Landvermesser ist, wage ich mich jedoch nicht zu beurteilen!


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo, Mitleser!


    Noch etwas zum bereits angesprochenen Thema der Müdigkeit und Ermattung: K. ist in Kapitel 23 (allerdings verständlicherweise) stark davon betroffen. Die folgenden Zeilen sind dem Ende dieses Kapitels entnommen (Rede von Bürgel):
    Sie müssen sich wegen ihrer Schläfrigkeit nicht entschuldigen, warum denn? Die Leibeskräfte reichen nur bis zu einer gewissen Grenze, wer kann dafür, daß gerade diese Grenze auch sonst bedeutungsvoll ist. Nein, dafür kann niemand. So korrigiert sich selbst die Welt in ihrem Lauf und behält das Gleichgewicht. Das ist ja eine vorzügliche, immer wieder unvorstellbar vorzügliche Einrichtung, wenn auch in anderer Hinsicht trostlos.
    Meine spontane Assoziation zu diesem Abschnitt war - der Tod. Die Ermüdung scheint mir ein Symbol für schwindende Lebenskraft, und die Grenze ist der Tod, durch den die Welt letztlich im Gleichgewicht bleibt - eine vorzüglichge, aber trostlose Einrichtung. Besonders plausibel scheint mir dies im Kontext zu Kafkas eigener körperlicher Verfassung während der Niederschrift.
    ...nur gibt es freilich Gelegenheiten, die gewissermaßen zu groß sind, um benützt zu werden...
    Das Erlangen von "transzendentaler" Erkenntnis?
    ...es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern...
    Kafkas Streben nach eben solcher Erkenntnis?
    Bevor meine Spekulationen ausarten, sei dies genug. Es sind meine ganz persönlichen Gedanken zur Lektüre, und ich schreibe sie hier nicht, um andere davon zu überzeugen, sondern zum Anregen, zur Diskussion.


    alpha:

    Zitat

    Die Geschichte der Barnabas-Familie fandest du nicht interessant und siehst ihre Bedeutung nicht? - Ich kann mich nur wundern, denn für mich ist sie eine Einsicht in die Wirkungsweise des Schlosses, in den Aufbau des Dorfes, in die Spielregeln sozusagen. Aber du scheinst dich ja mehr auf K. selbst zu konzentrieren.


    Ja, ich war\bin stark auf K. konzentriert; die vielen Informationen über die Wirkungsweise des Schlosses sind mir dennoch nicht entgangen. Ich weiß allerdings nicht, was Kafka damit sagen will. Es wäre sehr schön, Deine Gedanken dazu zu lesen.

    Zitat

    Dass K. nicht DER Landvermesser ist, dürfte klar sein, ob er überhaupt Landvermesser ist, wage ich mich jedoch nicht zu beurteilen!


    O.K., da war ich wohl etwas unpräzise... und das als Mathematiker! :redface:


    Ich hoffe, hier wird noch ein bißchen weiterdiskutiert, auch wenn der ein oder andere schon fertig mit Lesen ist!? Oder liegt es an :sonne: die letzten Tage?


    Viele Grüße,
    Pius.

  • Sei mir gegrüsst, Pius



    Nun, du scheinst zu Spekulationen zu neigen, die für mich nicht die naheliegendsten sind, obwohl sie natürlich ihre Berechtigung haben, was fern liegt ist nicht falsch! - Für mich sind diese Stellen ein Beispiel für die Ironie Kafkas: Die ganze Beschreibung trifft genau auf den Fall von K. zu, ohne dass dieser es merkt, ja, Brügel gelingt es sogar, die Müdigkeit K.'s noch wesentlich zu steigern, auf dass dieser ganz bestimmt nicht von der Situation profitieren kann. Ob nun aber in diesem Zusammenhang die Müdigkeit wirklich so direkt dem Tod entspricht, ist für mich mehr als fraglich, denn K. ist zwar müde (& betrunken), aber tot ist er erstens noch lange nicht und zweitens habe ich ihn auch nicht als resigniert oder resignierend, todessüchtig empfunden, das Gespräch mit Pepi und dann nachher auch mit der Wirtin und Gerstsäcker - für mich nicht Gespräche eines bald Abberufenen. - Ich sehe wieder mehr den Schutzschild des Schlosses, Schutz vor dem Zunahetreten.


    Zitat von "Pius"


    Ja, ich war\bin stark auf K. konzentriert; die vielen Informationen über die Wirkungsweise des Schlosses sind mir dennoch nicht entgangen. Ich weiß allerdings nicht, was Kafka damit sagen will. Es wäre sehr schön, Deine Gedanken dazu zu lesen.


    Was Kafka sagen wollte? - Nun, das weiss niemand, wusste er wohl auch nicht, erdreiste ich mich, zu behaupten! - Was er, oberflächlich, erzählt, ist die ergreifende Geschichte eines Familienschicksals, von dem nicht zu sagen, ist, ob es selbstverschuldet ist oder nicht und wie es zustande gekommen ist. Sie ist eher grotesk als langweilig. - Und sie hält K. eine Spiegel vor, er könnte lernen, was alles nichts hilft, er könnte lernen, dass das Schluss unnahbar fern ist, sogar von den Dorfbewohnern. (Wobei mir bewusst ist, dass es ja sein könnte, dass das Schloss freundlicher zu Fremden ist, als zu den eigenen, aber das Schloss hat keine Erfahrung mit Fremden (denn es scheint sich ausser K. selten oder nie jemdand derart zu verirren), hat also wohl auch keine Grund zu einer Sonderbehandlung.) Und dann wirft die Erzählung auch ein neues Licht auf die Beamten und Diener, die sich, ausserhalb ihrer Amtsgeschäfte, eher wie übles Gesindel im Dorf aufführen!


    Zitat von "Pius"


    Ich hoffe, hier wird noch ein bißchen weiterdiskutiert, auch wenn der ein oder andere schon fertig mit Lesen ist!? Oder liegt es an :sonne: die letzten Tage?


    Ich weiss auch nicht, weshalb wir hier allein diskutieren. Ich selbst habe das Buch seit mehr als einer Woche zu Ende gelesen, wobei ich in meiner Ausgabe leider kein 23. Kapitel finde, bei mir gehts nur bis zum 21.! - Sind bei euch die Kapiteleinteilungen etwas ander oder fehlt bei mir ein Teil??
    An der Sonne liegt es hoffentlich nicht - das wäre noch, wenn sie am Lesen hindern würde!


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo zusammen,


    bitte keine Vermisstenmeldung aufgeben, ich bin noch dabei. Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.


    Ich bin inzwischen mit dem Schloss fertig geworden, und es tun sich für mich viele Fragen auf. Leider habe ich das Buch gerade nicht greifbar und auch nicht die nötige Muße, deshalb werde ich mich heute abend noch ausführlicher melden.


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo nochmal,


    mit mehr Zeit und vor allem dem Buch daneben melde ich mich wieder zu Wort:


    Die Müdigkeit, die ja schon öfters Thema war und in der Unterhaltung mit Bürgel nochmals zu Tage trat, habe ich für mich nicht als Symbol für den Tod, sondern für immer stärkere Resignation gedeutet. Dieses Loslassen, "mir ist alles egal" - ob Kafka damit auch seine eigene Lebenssituation beschrieben hat? Ich meine ja.


    Das Schicksal der Familie Barnabas erscheint mir auch wie eine Illustrierung des Einflusses, der undurchschaubaren Regeln und der Macht des Schlosses. Was mir in diesem Zusammenhang einfällt: Graf Westwest hat sich unserer Spekulationen als sehr unwürdig erwiesen :zwinker: und ist einfach verschwunden. Was bezweckte Kafka wohl damit, ihn einzuführen und dann untergehen zu lassen? Oder hätte er in einer vollendeten Version wohl noch eine Rolle gespielt?


    Zum Namen Jeremias: Ja, ihm werden die Klagelieder zugerechnet. In dem interessanten Wikipedia-Artikel heißt es u.a., die Klagelieder würden von traditionellen Juden in der Trauerzeit gelesen. Was aber hat es mit Kafkas Jeremias auf sich? Er ist zwar stark gealtert, aber sonderlich traurig erscheint er mir nicht, immerhin hat er Frieda erobern können. Immerhin spricht er, dass Artur "Klage" über K. führe, also schon eine Anspielung auf die Klagelieder.


    Ach ja, Klamm. Nachdem er so wichtig erschien, lachen die Wartenden vor dem Wirtshaus über ihn bzw. schweigen betreten, und die Antwort "natürlich sei er unentbehrlich" sagt ja eigentlich das Gegenteil. Wieder mal ein Beleg dafür, dass man in Bezug auf das Schloss nichts als sicher und gegeben ansehen kann. Zwiespältig auch das Verhalten des Bürgel, sich bei Eintreten des K. die Decke über den Kopf zu ziehen und das nachher als "krankhaft" zu verurteilen.


    Zum Thema Landvermesser: im Gespräch mit der Wirtin wirft diese ihm vor, er sage nicht die Wahrheit, worauf er antwortet "Auch Du sagst sie nicht." Gibt er damit nicht zu, dass die Landvermessergeschichte eine Lüge ist?


    So, jetzt noch ein paar Fragen, die sich mir gestellt haben (völlig unsortiert):


    - Seht Ihr eigentlich eine Verbindung des Klamm-Vertreters Galater zu dem Galaterbrief des Paulus?
    - Was meint Frieda am Anfang des 22. Kapitels damit, sie habe "Protektion" gehabt?
    - Im Traum zertritt K. ein Glas - ist das nicht eine jüdische Sitte bei Hochzeiten, mit dem sie auf die Zerbrechlichkeit des Glücks hinweisen? Oder verwechsele ich hier etwas?
    - Kann es sein, dass K. eine Art Frauenheld ist? Immerhin verlieben sich Frieda und Olga in ihn und auch Pepi scheint nicht abgeneigt.
    - Pius, wer oder was sind pueri?
    - Eure Kapitel verwirren mich etwas, bei mir ist das letzte das 25. :confused:


    Zum Schluss noch ein Zitat, das mir gut gefällt: "Genau genommen ist man verzweifelt, noch genauer genommen ist man sehr glücklich". Aus dem Zusammenhang gelöst ist das für mich eine schöne Umschreibung für das abgedroschene "himmelhochjauchzend - zu Tode betrübt".


    So, jetzt hoffe ich, dass Euch dieser ellenlange Beitrag nicht bereuen lässt, nach den Mitlesern gefragt zu haben und wünsche einen schönen Abend.


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] &quot;Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden.&quot; [/size]

  • Hallo zusammen!


    Was Graf Westwest betrifft, so denke ich schon, das Kafka ihn in der letzten Fassung entweder zu Beginn gestrichen oder am Schluss nochmals auflebenlassen hätte...


    Leider kenne ich den Galterbrief des Paulus nicht, kann also dazu nichts sagen, werde ihn mir wohl suchen...


    Frieda hatte insofern Protektion, als sie, als Geliebte Klamms, als (oh weh, so viele "als" hintereinander, tut mir leid!) etwas besonderes angesehen wurde, sie war sozusagen eine respektable Person, welche mehr galt als ein normales Ausschankmädchen. Sie konnte wohl so ziemlich tun und lassen, was sie wollte, der Wirt hätte sie ja schlecht davonjagen können :zwinker:


    K. als Frauenheld? - Das hat wohl mit dem Reiz des Unbekannten zu tun, bei Pepi und Olga kommt bestimmt noch hinzu, dass sie hoffen, mit der Hilfe K.'s ihre Wünsche und Träume verwirklichen zu können, sie halten es beide für möglich, dass K., der Fremde, etwas noch nie Dagewesenes, Unerhörtes erreichen könnte im Schloss - und sei es nur, dass seine Gegenwart akzeptiert würde, denn Fremde scheint es sonst nicht zu geben.


    Es grüsst
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo an die verbliebenen Mitdiskutierer!


    Manjula:
    Zur Protektion und zum Frauenheld hat sich Alpha ja schon geäußert, und ich hoffe, er tut dies auch zum Galater-Brief, den kenne ich trotz meines frommen Namens auch nicht. Aber eine Verbindung zum Roman halte ich für möglich, "Das Schloß" ist von religiösen Motiven und Anspielungen durchzogen.
    Den Traum mit dem zerbrochenen Glas und dem Kampf mit dem griechischen Gott finde ich recht kryptisch. Ich vermute, Kafka hat einen eigenen Traum hier verschriftlicht. Die Symbolik ist mir leider nicht klar, ich denke aber noch einmal darüber nach. Insgesammt macht mir der Traum einen sehr negativen Eindruck, da K. am Schluß alleine ist und das Glas zerbrochen ist - vielleicht eine Vorankündigung eines Verlustes oder gar des Todes.
    "Puer" ist lateinisch und bedeutet "Junge". Das Symbol des "Puer" und besonders des "Puer aeternas" (ewiger Junge bzw. Jüngling) spielt eine große Rolle in der Archetypen-Psychologie von C.G. Jung.


    alpha:
    Bei mir hat der Roman 25 Kapitel. Zum Vergleich: In Kapitel 10 erhält K. von Barnabas einen Brief von Klamm, in Kapitel 20 endet Olgas Rede und Kafka trifft auf den gealterten Jeremias, Kapitel 25 und damit der Roman endet mit "man hatte Mühe, sie zu verstehn, aber was sie sagte".


    Dann nochmal etwas aus dem Beitrag von Hafis50 im Kafka-Religion-thread:
    Der kafka der romane und novellen zeigt den irrenden menschen in all seinen schrecken, seiner verlassenheit, -den menschen, der den zusammenhang mit eben jenem 'unzerstörbaren', von dem die aphorismen und oft auch die tagebücher melden, vrloren hat, -den menschen, der im glauben unsicher geworden, gestört ist, den halt- und ratlosen menschen, zu dem hin jener urglaube nur noch von ferne, fast unerreichbar, fast unverständlich, wie eine dunkle ahnung erklingt...


    Im nachwort (zum schloß oder prozeß) sieht er demgemäß das schloß als die instanz der gnade, als die göttliche lenkung menschlichen schicksals und die wirksamkeit der zufälle. Der prozeß und das schloß seien die beiden erscheinungsformen der gottheit (im sinne der kabbala) -gericht und gnade. Sie zeigen auch den abstand menschlichen begeifens und göttlicher gnadenfügung. Der mensch ist scheinbar im recht und hat dennoch auf unbegreifliche art unrecht.


    Das entspricht auch meinen Eindrücken, die ich beim Lesen hatte. Im Prozeß steht für mich aber die religiöse Bedeutung des Gerichts nicht im Vordergrund, es ist sehr von Kafkas persönlichen (Vater-)Komplexen durchsetzt, ermöglicht aber gleichfalls ein modernes Weltbild, in dem "etwas fehlt" bzw. das Individuum sich verirrt, untergeht.


    Das Schloß in "Das Schloß" ist für mich definitiv etwas, daß mit dem Göttlichen verbunden ist (auch wenn das Symbol immer noch z.B. von der "Beamten-Thematik" durchsetzt ist, also das Schloß für mehrere konzeptionelle Bezüge herhält), DAS Schloß, es bleit ja namenlos - ein Indiz, daß es um Archetypisches geht - ist wie in der Gralssage ein Ort, wo der mensch als Individuum göttliche Erfahrung machen kann, und zu dem er hinstrebt. Ich hatte das schon ausgeführt.


    Ich werde mir nun bald nochmal den Film mit Maximilian Schell als K. ansehen, den ich auf Video habe, und vergleichen. Im Film ist K. am Schluß gestorben. Ob sich Kafka zu einem solchen Ende geäußert hat, weiß ich nicht.


    Viele Grüße,
    Pius.