März 2005: Geoffrey Chaucer - Canterbury Tales

  • Hallo Chaucerianer!


    Für die märchenhafte Erzählung von Knappen gibt es laut Martin Lehnert kein bekanntes Vorbild, auch wenn ein solches anzunehmen sei. Aufgefallen ist mir der Versuch, den Zauberspiegel rational zu erklären:


    Drauf meint ein anderer, ganz natürlich gehe
    Das zu, nur durch die Winkelkonstruktion
    Und klug berechnete Reflexion,
    Genau so einer sei in Rom zu sehen.

    [V. 363ff.]


    Was man nicht kennt, könne magisch wirken:


    So wundert mancher sich beim Donner sehr,
    Bei Nebel, Spinngewebe, Ebbe, Flut,
    Bis er den Grund erfährt, dann ist es gut.

    [V. 256ff.]


    Gut erkannt, nur im Märchenkontext eigentlich sehr unpassend.


    Die Erzählung des Gutsbesitzers ist nun wieder eine besonders didaktische, die in einem auffälligen Kontrast zu den früheren negativen Ehegeschichten steht. Hier wird dem Leser nach gerade ein Musterbeispiel ehelicher Tugend vorgeführt, samt happy end.


    Naturgemäß gut gefiel mir, dass Gott der Konfusion bezichtigt wird:


    "Ewiger Gott, der du mit Vorbedacht
    Die Welt uns lenkst durch deine große Macht,
    Unnützerweise schufst du nichts am Ende.
    Doch diese grausig schwarzen Felsenwände
    Sind wohl Gebilde der Verwirrung nur,
    Kein schönes Werk, an welchem wir die Spur
    Von deiner weisen Schöpferhand gewahren,
    Wie konntest du so unbedacht verfahren? [...]

    [V. 865ff.]


    :sonne:


    CK

  • Hallo Chaucerianer!


    Die Erzählung des Arztes variiert das beliebte Motiv "Jungfrau-tötet-sich-selbst-heroisch-um-Ehre-zu-retten", was natürlich dazu führt, dass die Bösen bestraft werden.


    In erfrischender Offenheit berichtet der Ablasskräner von seinem Geschäft:


    Mein ganzes Streben ist zu profitieren,
    Nicht etwa, Sünden zu korrigieren.

    [V. 404f.]


    Sein erzähltes Exemplum fand ich frischer zu lesen als einige andere des Buches, was vermutlich an den Protagonisten liegt. Als kleinen Vorgeschmack auf die Suada der Priorin schon hier ein antisemitischer Seitenhieb:


    Sie rissen Christi heiligen Leib in Fetzen
    - Als ob ihn Juden nicht genug zerissen -
    [V. 474f.]


    Mehr als Schwank denn als erbauliches Exemplum angelegt ist die Erzählung des Schiffsherrn rund um einen gerissenen lebenslustigen Mönch, der sich durch raffinierten "cash flow" einen Gratisbeischlaf bei der Gattin seines Freundes verschafft.


    Schließlich die Erzählung der Priorin, die - passenderweise muss man sagen - eine klassische antisemitische Geschichte erzählt. Ein siebenjähriger Junge wird wegen seiner Marienverehrung heimtückisch ermordert. Solche Vorwürfe haben immer wieder Pogrome ausgelöst:


    Unser Erzfeind, Schlange Satanas,
    Ihr Wespennest ist in der Juden Brust [...]

    [V. 558]


    Zitat von "Saltanah"

    Weiß jemand, wer
    Hugh of Lincoln, likewise murdered so
    By cursed Jews
    war?


    Aus meinem Kommentar:

    Zitat

    Von der angeblichen Ermordung dieses Jungen durch die Juden im Jahre 1255 während der Zeit der aufkommenden Judenverfolgung berichten zahlreiche Urkunden und Chroniken jener Zeit. Wie James Winny [...] darlegt, entbehren diese Anschuldigungen gegen die Juden der authentischen Grundlage und entstanden aus blinder Judenfeindlichkeit.
    (S. 730f.)


    In Saltanahs Ausgabe scheint dieser Text ja an einer früheren Stelle angeordnet zu sein. Martin Lehnert schreibt zur Editionspraxis:


    Zitat

    In den besten Chaucer-Manuskripten, so auch in der Ellesmere-Handschrift, folgt auf das VI. Fragment das VII. Fragment, das von vielen neueren Chaucer-Herausgebern thematisch hinter das II. Fragment gesetzt wird.


    [S. 724]


    Habe heute das Buch über die Ellesmere-Handschrift bekommen. Macht auf den ersten Blick einen spannenden Eindruck.


    Weiter gelesen habe ich bisher noch nicht, will die Erzählungen nun aber bald abschließen.


    CK

  • Hallo Chaucerianer!


    Alle schon aufgegeben?


    Habe die Insel TB Edition nun beendet und möchte über meine letzten Lesefrüchte berichten.


    Die Erzählung vom Mönch kompiliert (naturgemäß in didaktischer Absicht) diverse berühmte Schicksale, die von Glück und Reichtum ins Unglück und/oder Armut gestürzt werden, um das Walten der Fortuna zu illustrieren.


    Darunter auch eine königliche Leserin, Zenobia:


    Und wenn ihr Herz auch nach dem Weidwerk stand,
    War sie mit fremden Sprachen doch bekannt;
    Denn wenn sie Muße fand für ihr Bestreben,
    Studierte sie gern Bücher allerhand,
    daraus zu lernen, tugendhaft zu leben.

    [V. 2306]


    Erwähnenswert auch noch die düstere Geschichte des Grafen Ugolino, die im 18. Jahrhundert Gerstenberg zu einem berühmten Sturm-und-Drang-Drama verarbeitete.


    Die Erzählung des Nonnenpriesters gehört wohl zu den besten des Bandes. Es handelt sich um eine Tierfabe, die das Thema "Fuchs und Hahn" variiert und in Zusammenhang mit dem bekannten "Reinecke Fuchs" Stoff steht. Im Mittelpunkt steht Hahn Chanteklär und seine Lieblingshenne Pertelot. Sehr amüsant fand ich die scholastische Diskussion (mit allem Drum und Dran), die sich die beiden zum Thema Träume widmen. Dabei kommt auch der Gelehrtenstreit zur Sprache, ob Gottes Allwissenheit einen strikten Determinismus bedingt:


    Doch was Gott weiß, trifft auch ein,
    Wie einige Gelehrte es verstehen.
    Wer selbst gelehrt ist, wird mir zugestehen,
    Daß über diesen Punkt viel Zwistigkeit
    Auf Schulen herrsche und daß dieser Streit
    Seit Jahren Hunderttausende entzweie.

    [V. 3233ff.]


    Im starken Kontrast zu diesem Genre steht die daran anschließende Erzählung der zweiten Nonne. Sie erzählt das Martyrium der heiligen Cäcilie. Damit wäre nun auch eine Heiligenlegende in den "Canterbury Tales" zu finden, womit die Sammlung alle Prosagenres des Mittelalters abdeckt. Oder übersah ich eines?


    Die Erzählung des Dienstmanns des Stiftherrn zählte ich ebenfalls zu den besten Texten der Sammlung. Thema ist die Alchimie, deren Prozeduren in einer Ausführlichkeit geschildert werden, dass auch Historiker der Chemie ihre Freude daran haben dürften.
    Im Mittelpunkt steht ein Betrüger, der durch Manipulation einen naiven Pfarrer um sein Geld bringt. Ein Verfahren, das ja heute auch noch sehr erfolgreich von Alternativ"medizinern" und Esoterikern aller Coleur praktiziert wird :grmpf:


    Bemerkenswert finde ich, wie die Alchimie als Sucht geschildert wird, die einen nicht nur an die Spielsucht erinnert:


    Und bleiben ihm ein Bettuch nur aus Leinen,
    Worin bei Nacht er sich einhüllen mag,
    Und nur ein schlechter Mantel für den Tag,
    Verkauft er sie und wird das Geld verwenden
    Für seine Kunst, vorher kann er nicht enden.

    [V. 879ff.]


    Sehr hübsch die Erzählung des Verwalters. Eine "mythologische-Krähen-Entstehungsgeschichte" :smile:
    Eine Krähe verrät den Ehebruch der Gattin und wird deshalb von ungerechter Rache ereilt. Interessant ist die vertretene moderne Instinkt-Theorie:


    Man wird nichts zwingen, was der Kreatur
    Einmal ist eingepflanzt von der Natur.

    [Es folgen einige Beispiele]
    [V. 161ff.]


    Sehr modern auch der Hinweis auf die Unterschiedlichkeit der Bewertung von Handlungen, je nachdem, wer diese begeht:


    So sind ein unrechtmäßiger Tyrann,
    Ein Räuber und ein vogelfreier Mann
    Nur dadurch unterschieden voneinander,
    Wie vorgehalten man auch Alexander,
    Daß den Tyrannen, dem zuteil geworden,
    Durch Heeresmacht die Menschen zu ermorden
    Und Haus und Heim zu plündern und zu brennen,
    Wir deshalb fälschlich einen Feldherrn nennen;
    Weil ein Verbannter mit nur kleiner Schar
    Nicht so wie jener Not bringt und Gefahr
    Und nicht ins Unglück stürzt ein ganzes Land,
    Wird er ein Räuber oder Dieb genannt.

    [V. 223ff.]


    Nun werde ich einmal abwarten, wer noch bis zum Ende kommt


    Ich werde mich noch einige Zeit weiter mit Chaucer beschäftigen und u.a. die rororo bildmonographie über ihn lesen. Außerdem will ich mir das Ellesmere Manuskript näher ansehen.


    CK

  • Hallo Chaucerianer, darunter hallo Xenophanes,


    nein, ich habe noch nicht aufgegeben :entsetzt: und werde das auch nicht tun.
    Die Bücher, die ich inh meinem Leseleben nicht zu Ende gelesen habe, stehen alle auf einem Din á 4 -Blatt und kommen irgendwann noch dran.
    Chaucer wird sicher nicht zu dieser Liste kommen.


    Nachdem ich Griseldis glücklich überstanden hatte, konnte ich gestern Nacht die Erzählungen des Kaufmanns und des Knappen lesen.


    Beide haben mich nicht sonderlich beeindruckt, was aber auch ganz einfach an diesen Gattungen liegt, die Chaucer vorwiegend verwendet: Schwänke und moralisch-didaktische Erzählungen, wobei er diese Genres, z.B. in der Erzählung des Kaufmanns auch recht gerne mischt.


    Interessant finde ich, dass er in der Erzählung des Knappen bis in die mongolischen Steppen schweift. Überhaupt hatte das Mittelalter ja einen Hang zur literarischen Globalisierung. Wenn die beiden Amerikas und Australien bekannt gewesen wären, hätte man wohl auch in diesen
    Gebieten Geschichten angesiedelt. Es ist schon faszinierend, wenn man z.B. mit Frenzels "Stoffen" und "Motiven der Weltliteratur" einen Einblick in die weltweite Verzweigung literarischer Motive und Stoffe erhält. Die Literatur ist nicht erst in unseren Tagen mobil geworden!


    Die Turnübungen im Birnbaum der Erzählung des Kaufmanns können ja durchaus mit komplexen Sexualtechniken mithalten, allerdings erscheint mir das Ende der Geschichte, die von Proserpina Mai in den Mund gelegten Worte, ziemlich billig. Damit konnte man wohl auch im Mittelalter den verblendetsten Greis nicht an der Nase herumführen...
    Aber mittelalterliche Literatur beugt sich ja selten unseren neuzeitlichen Vorstelllungen von Logik.


    Bei der Erzählung des Knappen wüsste ich gerne, ob es Untersuchungen darüber gibt, ob Chaucer die Geschichte wirklich absichtlich abgebrochen hat - wie die Zusammenfassung der Fortsetzung der Ereignisse am Ende vermuten lässt - und warum er das tat. In einigen der folgenden Geschichten soll das ja auch so sein.


    @ Xenophanes,
    hast du nun herausbekommen, ob die Reihenfolge der Lehnert-Übersetzung dem Ellesmere- Manuskript folgt?


    Einen schönen Start in den Wonnenmonat wünscht euch allen


    finsbury :blume: :sonne:

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Huhu :hallo: ,


    hier ist ja gar nichts mehr los.


    Ich habe aber nicht aufgegeben. Langsam geht's voran. Inzwischen habe ich mir die Erzählungen des Gutsbesitzers und des Arztes zu Gemüte geführt.


    Dabei hat mir Erstgenannte recht gut gefallen. Zwar wird auch sie von Tugendbolden regiert, aber ich finde es interessant, dass hier die Natur - ungewöhnlich für mittelalterliche Texte - als Gefühlsträger thematisiert wird. Im Allgemeinen wird sie in der Literatur dieser Zeit ja nur allegorisch stilisiert oder in ihrem Nutzen dargestellt.


    Dass die bretonische Felsenküste konkret, verortbar und in ihrer Gefühlswirkung beschrieben wird, ist für mich schon neu. Auch wenn die niederziehende Wirkung mit Dorigens Gemütszustand des Verlassenseins
    und ihrer Sorge um die sichere Heimkehr ihres Gatten korrespondiert, ist
    die Beschreibung sehr konkret und "modern" und Dorigens Wunsch nach Bezähmung geradezu utilitaristisch.


    Die Erzählung des Arztes finde ich nur in der Passage über die Erziehungsmethoden, die von Chaucer selbst hinzugefügt wurden, interessant.
    Die Verse
    "Ihr Väter und ihr Mütter, lasst euch sagen,
    Ihr müsst für eure Kinder Sorge tragen,
    Ob eins, ob mehr, euch sind sie übergeben,
    Solang sie unter eurer Leitung leben.
    Habt Acht, dass sie durch euer Beispiel nicht,
    Und weil ihr nachlässig in eurer Pflicht,
    Zu strafen (Heute: Grenzen zu setzen), ganz verkommen ..."
    (V.93 ff),


    würde ich gerne heute noch manchen Eltern ins Stammbuch schreiben.
    (Ach ja, der Job ...!)


    Habe jetzt mit dem Prolog des Ablasskrämers begonnen: Sehr witzig und wieder ganz Chaucer!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo Finsbury!


    Zitat von "finsbury"


    Die Erzählung des Arztes finde ich nur in der Passage über die Erziehungsmethoden, die von Chaucer selbst hinzugefügt wurden, interessant.


    Diese Stelle ist mir aufgefallen. Tendenziell widersprechen solche Zitate doch der gängigen Auffassung, dass es im Mittelalter keine "Kindheit" im modernen Sinn gab, weil diese eine "bürgerliche Erfindung" ist. Offenbar wurden Kinder sehr wohl als eigenständige Wesen wahrgenommen, die spezieller Aufmerksamkeit bedürfen.


    CK

  • Huhu :winken:


    Nach Job-Beginn-Stress und Bergeinsamkeit ohne Strom und Chaucer weile ich auch wieder unter den Lebenden und Lesenden! Ich hoffe es stört Euch nicht, wenn ich gemütlich weiterlese und mit einiger Verspätung noch auf Eure Beiträge eingehe!


    Zur Erzählung der Frau von Bath hatte ich spontan den gleichen Gedanken wie Regina:

    Zitat von "Regina"

    Enttäuschend, dass nach diesem elaboraten Prolog so ein harmloses Geschichtchen folgt.


    Interessant wäre noch, dem Verhältnis von Prolog und Tale etwas genauer nachzugehen. Ist es eine Ergänzung, Illustration, oder sogar ein Widerspruch?


    Zitat von "finsbury"

    Ich nehme mal an, Chaucer hatte selbst besonderen Spaß an dieser Figur, weil dieser Prolog ja ausufernd lang ist, länger als die Erzählung selbst.


    Eine gute Begründung! Das Wesentliche scheint hier im Prolog zu stehen, und die Geschichte ist wie ein Anhängsel.


    Zitat von "xenophanes"

    Hochgradig verblüfft hat mich die lange Rechtfertigungsrede der Frau von Bath im Prolog, die meinem Eindruck nach nur noch wenig Mittelalterliches an sich hat. Die Gute ist sich durchaus ihre individuellen Rolle im Leben bewusst und hat auch ausführlich über ihr Lebenskonzept nachgedacht. Pikant auch ihre innovativen religiösen Interpretationen, die sie mit Bibelstellen belegt.


    Auch dass sie Bibel, Kirchenväter und Klassiker so gut kennt ist sowohl unmittelalterlich wie auch unweiblich!
    Ich finde es interessant, wie sie (männliche) Autorität/Lehrmeinung und (weibliche) Lebenserfahrung gegenüberstellt.


    Wie bringt man überhaupt 5 Ehemänner unter die Erde?! Gibt es irgendwelche Hinweise auf "Nachhilfe"?


    Im Prolog zur Geschichte des Bettelmönchs kündigt der Büttel schon die Revanche an: offenbar soll auch hier das Prinzip der Erwiderung angewendet werden, die Spannung wird so schon in der Rahmenhandlung aufgebaut!


    Herzliche Grüsse,
    Maja


    P.S. finsbury:

    Zitat

    Die Bücher, die ich in meinem Leseleben nicht zu Ende gelesen habe, stehen alle auf einem Din á 4 -Blatt und kommen irgendwann noch dran.

    ...da müsste ich aber klein schreiben :breitgrins:

  • Hallo Chaucerianer,


    auch ich bin an diesem langen Wochehende etwas weitergekommen.

    Zitat von "xenophanes"


    Diese Stelle ist mir aufgefallen. Tendenziell widersprechen solche Zitate doch der gängigen Auffassung, dass es im Mittelalter keine "Kindheit" im modernen Sinn gab, weil diese eine "bürgerliche Erfindung" ist. Offenbar wurden Kinder sehr wohl als eigenständige Wesen wahrgenommen, die spezieller Aufmerksamkeit bedürfen.


    Ich glaube wirklich, wir haben einiges Anachronistische wie Chaucers Anmerkung zur Kindererziehung und auch seine belesene und selbstbewusste Frau von Bath ( Maja) seinem überzeitlichen Genie zu verdanken, nicht umsonst liest sich das Werk - zumindest in seinen Zwischenkommentaren zur Reisegesellschaft so frisch und fast modern.


    Ich habe inzwischen
    Die Erzählung des Arztes, des Ablasskrämers, des Schiffsherrn, der Priorin und Chaucers über Sir Thopas gelesen.


    Die Erzählung des Ablasskrämers hat mir ebenso wie der Prolog und Epilog besonders gut gefallen, außerdem kenne ich eine ganz ähnliche Ballade von Emanuel Geibel, die die gleiche Story in den wilden Westen verlegt: "Die Goldgräber". Da wird nach dem Fund des Goldes ebenfalls der Jüngste weggeschickt, um Getränke zu holen, die beiden älteren verschwören sich ihn zur Gewinnmaximierung um die Ecke zu bringen, werden aber auch von ihm vergiftet und so sterben alle in schöner Eintracht.
    Da Lehnert nur von Motivähnlichkeiten mit älteren Textquellen schreibt, gehe ich davon aus, dass Geibels unmittelbare Quelle der Chaucer ist.


    Weiterhin äußerst gelungen fand ich die Sir Thopas-Satire, auch mit der scheinbar bescheidenen Einleitung und dem Abbruch durch den Wirt: Eine mehrfache ironische Brechung verbrauchter maniristischer Gestaltungsweisen und eigener Kunstfertigkeit!


    Über die Erzählung der Priorin braucht man wohl nichts weiter zu sagen, das hast du ja schon getan, xenophanes. Gerne wüsste ich, ob Chaucer hier den gleichen Antisemitismus vertritt oder auch wieder nur einen bestimmten literarischen Topos vorführt.
    Bis zum Pfingstwochenende wird's jetzt wieder langsam vorangehen, aber ich möchte gerne bis zum 15. fertigwerden, weil dann die Leserunde zu den 'Flegeljahren' beginnt.
    Hoffe mich daher bald zum Abschlusskommentar melden zu können.


    Weiterhin schönes Chaucern


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Huhu,


    tja, so schnell wird das doch nichts mit dem Abschlussbericht. Hab an Pfingsten mein anderes Leserundenwerk beendet, das mich doch ein bisschen mehr an der Stange hielt.
    Nur die Erzählung des Mönchs konnte ich "abhaken". War ein kleiner Parforceritt durch die Kenntnis antiker Stoffe, von denen ich die meisten kannte: Nur Zenobia war mir bisher eine Unbekannte.


    Mit der Erzählung des Nonnnenpriesters habe ich gerade angefangen: Sie erinnert mich von der "Personnage" her an das umfangreiche "Märchen vom Gockel Hinkel und Gackeleia" von Clemens Brentano. Das habe ich allerdings auch noch nicht gelesen, ich weiß daher nicht, ob es nähere Bezüge gibt.


    Euch eine schöne Arbeitswoche


    HG
    finsbury


    PS: Wer liest eigentlich noch mit oder guckt hier mal rein?


    Saltanah, Maja, Xenophanes (aber du bist ja durch), Regina?? :rollen:

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Zitat von "finsbury"

    PS: Wer liest eigentlich noch mit oder guckt hier mal rein?


    :winken:
    Ich! Zwecks besserer Übersicht habe ich gestern mal ein paar Stellen aus Euren früheren Postings ausgedruckt, und hoffe, mich dazu noch äussern zu können. Hintendreinlesen ist sehr aufwendig, vor allem, wenn man zitieren will. Zum Glück beherrsche ich mittlerweile wenigstens die Technik mit mehreren Fenstern...


    Gestern habe ich die Geschichte des Bettelmönchs gelesen, und versuche nun, daraus schlau zu werden. Der Bettelmönch schliesst unwissentlich einen Vertrag mit dem Teufel (Handels-Bruderschaften waren natürlich sehr wichtig, aber mir scheint es doch ein wenig übertrieben, gleich nach 5 Minuten schon Bruderschaft bis in den Tod zu schwören. Chaucer'sche Ironie??), wird er nun eigentlich dafür bestraft oder nicht?
    Dann wünscht ein Fuhrmann seine Pferde zum Teufel, muss sie aber dann doch nicht abliefern, weil er noch rechtzeitig Gott und Jesus für die Hilfe dankt. Danach wünscht eine Witwe den Büttel zum Teufel, was dann gilt. :confused:
    Ich habe es noch nicht aufgegeben, Sekundärliteratur zu lesen (Hallissy: A companion to...), und hoffe, heute abend da noch etwas klarer zu sehen.


    @ xenophanes: Wie steht es eigentlich mit dem Cambridge Companion? Hast Du ihn nun? Gelesen? Gibt es Berichtenswertes daraus?


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "finsbury"

    .... Ordensbruder und Kirchenbüttel ....typisch derbe Schwänke.


    Nicht nur, für ma. Leser/Hörer waren Hölle und Teufel durchaus eine Realität, und die Frage nach der Bedeutung der menschlichen Entscheidungen bedeutsam. Der entscheidende Punkt ist offenbar wirklich die Absicht: Der Büttel würde wegen seinem Bündnis mit dem Teufel noch nicht in der Hölle landen, weil er dieses unwissentlich schliesst. Aber dann fordert er das Schicksal heraus (er bliebe ihm treu, auch wenn es der Teufel wäre), und er erpresst absichtlich die Witwe, ohne Reuebereitschaft zu zeigen.


    Zitat von "xenophanes"

    Theologisch interessant, dass die Teufel auf die Macht Gottes angewiesen sind:


    Ja, und vor allem die Begründung fand ich interessant: (V. 1497-1498)
    Whan he withstandeth oure temtacioun,
    It is a cause of his savacioun

    Die Menschen müssen von den Teufeln in Versuchung geführt werden, damit sie ihre Tugend unter Beweis stellen können!


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo!


    Am Wochenende las ich die sehr empfehlenswerte rororo bildmonopgraphie über Chaucer. Darin findet sich auch folgende ironische Selbstbeschreibung:


    Selbst von Nachbarn, die Du fast
    Zunächst der Haustür wohnen hast,
    Hörst du nicht die noch das; denn ist,
    Dein Tagewerk vollbracht und bist
    Mit Deinem Rechnen fertig Du,
    Suchst Du Zerstreung nicht, noch Ruh;
    Nein, gehst zu Haus, und wie ein Stein
    Sitzes Du stumm für Dich allein
    Und nimmst ein andres Buch zur Hand
    Und trübst dir Augen und Verstand,
    Lebst wie ein Klausner, hältst du gern
    Dich auch vom strengen Fasten fern.

    [S. 33f.]


    Bin froh, dass nicht nur ich so lebe :breitgrins:


    CK

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "xenophanes"

    Habe die Insel TB Edition nun beendet und möchte über meine letzten Lesefrüchte berichten.


    Ich auch, ich auch! Hab's geschafft!


    Und ich muss sagen, trotz der Mühen, die mir dieses, als Genre nicht sehr zusagendes Meisterwerk gemacht hat: Es hat sich gelohnt! Ich bin um viele Hintergründe der Tradierung antiker und mittelalterlicher Stoffe und Motive reicher geworden, ich habe ein ungemein farbiges Gesellschaftsbild des englischen Spätmittelalters aus erster Hand bekommen und nicht zuletzt steht auch Shakespeare noch weniger als wurzelloser Gigant vor meinen Augen. Da ist ein enges Band zwischen Chaucer und ihm und der wundervolle Humor in der englischen Literatur findet hier einen ersten Höhepunkt.



    Zitat von "xenophanes"

    Die Erzählung des Dienstmanns des Stiftherrn zählte ich ebenfalls zu den besten Texten der Sammlung. Thema ist die Alchimie, deren Prozeduren in einer Ausführlichkeit geschildert werden, dass auch Historiker der Chemie ihre Freude daran haben dürften.
    Bemerkenswert finde ich, wie die Alchimie als Sucht geschildert wird, die einen nicht nur an die Spielsucht erinnert:


    Dem kann ich nichts hinzufügen: auch für mich vielleicht sogar die beste der Erzählungen: So aus dem Leben geschnitten und miterlebbar habe ich mittelalterliche Literatur selten genossen. An dieser Geschichte kann ich auch nicht wie an den anderen ermüdende, dem Genre geschuldete Passagen erkennen, wie an den religiös oder didaktisch geprägten Erzählungen oder auch den Schwänken, die ich häufig sehr wenig lustig und einfallsarm finde.




    Genau diese Stelle hat mir auch so gut gefallen, dass ich sie in meine Lesefrüchtesammlung, ein Zitatebuch, übernehmen werde.



    So, das war nun auch mein Abschlussbericht: Zum Ende hat es sich sehr hingezogen, aber wie gesagt, es hat sich gelohnt. Euch vielen Dank auch für eure interessanten Beiträge und auf ein baldiges Wiedersehen in einer Leserunde!
    :winken:
    HG finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Zitat von "xenophanes"

    Du meinst sicher Tausendundeine Nacht im Juli? :winken:


    CK


    Hallo xenophanes,


    nein, leider nicht! Wenn ihr die alte Zusammenstellung lesen würdet, vielleicht, da diese bei mir auf dem SUB liegt, eins der wenigen angefangenen, aber noch nicht beendeten Bücher: Ich hab's überhaupt nicht mit Märchen und anderer formelhafter Literatur, was mir ja auch schon bei unseren Canterbury-Geschichten die Lektüre erschwert hat.
    Aber natürlich habe ich den Ehrgeiz, meine Ausgabe zu Ende zu lesen, werde mir aber gewiss keine andere zulegen.


    Ich schau sicher mal rein in eure Runde, aber nicht aktiv.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,
    Eure Endspurt-Postings haben mich angespornt, und ich habe in einem Zug Griseldis hinter mich gebracht.
    Den Anfang fand ich gut, geradezu filmreif den Schwenker vom Marquis ins Dorf von Griseldis!
    Danach hat mich aber weniger Griseldis genervt, sondern vielmehr ihr Mann, der ganz einfach spinnt. Sie hatte ja keine andere Wahl, erstens durch ihren Stand und zweitens durch ihr Versprechen, als ihm zu gehorchen und alles zu erdulden!


    Im "Lied" ist mir aufgefallen, dass alle 6 Strophen die gleichen Reime haben:
    -ence
    -aille
    -ence
    -aille
    -ynde
    -aille


    Am Ende kommt wieder Gott, aber ausgerechnet in dieser superfrommen Geschichte nicht in einem "Möge Gott..." sondern in einem Fluch:
    By Gottes bones...wusste nicht, dass Gott Knochen hat :breitgrins:


    Tugendsame Grüsse,
    Maja

  • Hallo!


    Noch ein kleiner Nachtrag:


    Wolfgang Riehle: Geoffrey Chaucer
    (rororo monographie)


    Dieses vorzügliche kleine Buch über Chaucer erschien 1994 und ist im Moment in den einschlägigen Ramschbuchläden zu finden. Riehle informiert selbstverständlich über die bekannten Fakten zu Chaucers Werk, im Mittelpunkt stehen jedoch die Werke. Von "Das Parlament der Vögel" über "Troilus und Criseyde" zu den "Canterbury Tales", für die berechtigterweise fast das halbe Buch reserviert ist.
    Riehle gelingt es ausgezeichnet die ästhetischen Verdienste Chaucers herauszuarbeiten und seine exponierte Stellung zwischen Mittelalter und Renaissance zu beschreiben. Ohne Einschränkung empfehlenswert!


    CK

  • Herbert C. Schulz: The Ellesmere Manuscript of Chaucer's Canterbury Tales
    (Huntington Library)


    Dieser kleine bibliophile Band beschreibt im Detail das berühmteste Manuskript der "Canterbury Tales". Die zahlreichen Illustrationen geben einen guten Eindruck über die herausragenden Qualitäten der beteiligten Buchkünstler. Berechtigterweise geht Schulz ausführlich auf die als Verzierung gemalten Pilger ein sowie auf das berühmte Portrait Chaucers unter ihnen.
    Weitere Kapitel über die Illustration, den Text sowie die Geschichte des Manuskripts runden das gelungene kleine Buch ab.