Steffen Martus, Aufklärung

  • Das kopiere ich aus dem Strang 'Ich lese gerade' hier herein:



    Gestern habe ich das Buch von Steffen Martus beendet. Nach rund 880 Seiten Text (der Rest der über 1000 Seiten des Buches sind Anmerkungen und Literaturverzeichnis) bleibt mein Urteil zwiespältig. Immerhin - ich bin drangeblieben, denn auf den vielen vielen Seiten des Buches findet man immer wieder interessante Geschichten, Fakten, Details, die einen als Leser bei der Stange halten.


    Mit seiner Form des 'Epochenbildes' hat Steffen Martus aber eher ein Such- und Wimmelbild geschaffen, in dem ich mich als Leser allzu häufig verloren fühlte. Über Seiten werden Themen und Entwicklungen ausgebreitet, bei denen ich mich gefragt habe, warum der Autor mir das erzählt. Seine Herangehensweise ist ja, keine durchgehend stringente Sicht oder Theorie der Aufklärung zu präsentieren, sondern die Epoche auch in ihren Widersprüchen, Unentschlossenheiten und ihren Fragwürdigkeiten darzustellen. Dabei scheint er sich mitunter selbst in der Fülle der Themen verlaufen zu haben. Dass man als Leser oft viel Vorwissen mitbringen muss, hatte ich schon zuvor erwähnt. Für mein Empfinden hätte der Autor bei einem Werk dieses Umfangs, für das man ja auch als Leser viel Zeit braucht, immer wieder mit einer 'road map' dem Leser helfen müssen, in dem er ihm Orientierung gibt, wo im Ablauf der Darstellung er sich befindet, was im kommenden Abschnitt das Thema sein wird, wozu der Autor sich gerade aufmacht.


    Das unterbleibt. Die Vielfalt der Epoche wird in aller Detailversessenheit über dem Leser ausgeschüttet. Und dabei kommt es zu mitunter sehr seltsamen Lücken oder Leerstellen. Wenn in einem Kapitel über viele Seiten das Werk von Barthold Hinrich Brockes beleuchtet wird, in einem anderen Kapitel die Literaturtheorie von Gottsched - warum verliert der Autor kein Sterbenswörtchen darüber, wie das eine sich zum anderen verhält? Oder wie kann jemand viele Seiten über Leipzig im frühen 18 Jahrhundert schreiben, ohne nur einmal zu erwähnen, dass ein gewisser Johann Sebastian Bach in dieser Zeit in der Stadt lebte und arbeitete?


    Zwar gelingt dem Autor immer mal wieder eine treffende Pointierung oder griffige Formulierung, aber überwiegend bleibt sein Stil doch wenig anschaulich, mit einem Hang zum Professoralen.


    Es ist kein schlechtes Buch, aber es hätte ein deutlich besseres Buch werden können, wenn der Autor sein Thema stärker gestaltet und dabei konzentrierter geschrieben hätte. Das hätte allerdings erfordert, dass er mit einer ordnenden Hand an den Stoff gegangen wäre, mehr gewertet und eingeordnet hätte. Offenbar wollte er genau das nicht. Schade.


    Ich wäre aber sehr froh, wenn auch andere hier sich zu diesem Werk äußern würden. Da die Aufklärung keinesfalls eine Epoche ist, in der ich mich gut auskenne, liege ich vielleicht mit manchen Einschätzungen ganz falsch.

  • Hallo JHNewman,


    jetzt kommen mit überaus großer Verspätung und wahrscheinlich schon gar nicht mehr erwartet, einige Bemerkungen zur "Aufklärung" von Steffen Martus.
    So ziemlich genau vor einem Jahr fiel sie mir in die Hände, sie ziert meinen Bücherschrank, und ich habe sie von Anfang bis Ende gelesen, am Anfang zum Teil in meinem irischen Stamm-Pub mit passendem Getränk. :zwinker:


    Steffen Martus war mir kein Unbekannter. Seine Biographie der Brüder Grimm (2010) hatte ich bereits mit Gewinn gelesen. Darin suchte ich etwas: woher kam nun diese Märchenwelt, die teilweise überhaupt nicht jugend- oder gar kindgerecht ist, mit ihrem "Blut im Schuh", Verbrennungen im Backofen, bösen Wölfen, (die aber heute wieder angesiedelt werden sollen, obwohl auch noch schafvertilgenderweise böse), und die Guten kommen oft gerade einmal so davon, keineswegs ohne Dellen und Beulen! Das Gute siegt ja gar nicht immer! Von wegen "Volksmärchen"!
    Steffen Martus gab mir eine plausible Antwort: einige westfälische adlige Damen aus den Geschlechtern von Haxthausen und von Droste-Hülshoff, darunter die bekannte Annette von Droste-Hülshoff (mit deren Art Jakob Grimm aber nicht so recht klar kam), machten sich einen tierischen Spaß daraus, solche Horrorgeschichten zusammenzuspinnen und Wilhelm Grimm zwecks literarischer Ausgestaltung gefällig zu überlassen, die dann den richtigen "Märchen-Sound" schufen, der so gut ankam, dass "Grimms Märchen" zum "Weltkultur-Erbe" gehören sollten. Es gab auch einige wenige echte Volksgestalten unter den Zulieferern, darunter einen abgedankten Soldaten, aber eben nicht das Mütterchen, das am schnurrenden Spinnrad sitzt. Also Steffen Martus zum Ersten.


    Und jetzt lieferte er ab, was ich erwartete: eine "historische Erzählung" über die Aufklärung und keine fremdwortgesättigte Analyse. Die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens zeigt sich schon darin, dass drei Überschriften nötig sind: es geht nicht nur um die Aufklärung (an sich), sondern um "das deutsche 18. Jahrhundert". Damit ist also gesagt, dass es sich um "deutschsprachige Territorien" handelt, einschließlich Österreich und deutschsprachige Schweiz (Haller, Gessner, Bodmer lassen sich im 18. Jahrhundert noch gar nicht trennen von der literarischen Entwicklung im gesamten deutschsprachigen Raum). Und dann will Martus noch "Ein Epochenbild" bieten.


    Ich glaube völlig zu verstehen, JHNewman, was Du meinst. Steffen Martus scheint sich in Details zu verlieren und hätte mehr strukturieren und ordnen sollen.
    Eine synthetische Darstellung zur Aufklärung ist sicher sehr schwierig zu bewerkstelligen. Literaturwissenschaftler, Philosophen, Säkularhistoriker, Theologen nähern sich dem Gegenstand "Aufklärung" von verschiedenen Seiten.
    Die in Halle tätigen Historiker Andreas Pecar und Damien Tricoire haben gleichfalls im vorigen Jahr 2015 versucht, eine Debatte über die Aufklärung zu beginnen: "Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?", ohne das gleichzeitig erschienene Buch von Steffen Martus zu kennen, mit dem Ergebnis: bei etlichen Aufklärern vor allem französischer Herkunft finden sich die Ursprünge rassistischer, antisemitischer, intoleranter, frauenfeindlicher Auffassungen, so dass es unmöglich werde, "die Aufklärung" für den emanzipatorischen Fortschritt und die Toleranzidee der Moderne in Anspruch zu nehmen. Sie konzentrieren sich bei ihrer Untersuchung "der Aufklärung" in den Debatten der Jetztzeit vorwiegend auf Autoren aus dem französischen und dem englischen Sprachraum. Was ist aber mit dem deutschsprachigen Raum? Nimmt man dort lediglich auf, was aus Westeuropa kam?
    Auf 230 Seiten können Pecar/Tricoire nicht "Zentrum und Peripherie" der Aufklärung in Europa gänzlich erfassen.


    Es stellt sich die Frage: von welchem Aufklärungs-Begriff wird ausgegangen? Gemeinhin verweist man auf Kants "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" (1784), und die Zitate werden dann auch noch aus dem Zusammenhang des Aufklärungs-Diskurses in Preußen gerissen, der von dem Prediger Zöllner initiiert worden war und in dessen Rahmen Moses Mendelssohn eine ebenfalls interessante Antwort vorlegte.
    Wir haben es mit einem Spannungsfeld zu tun zwischen radikaler Aufklärung (Jonathan Israel lässt sie in seiner Trilogie von Baruch Spinoza ausgehen), in Deutschland etwa Dippel, Knutzen, Edelmann, und aufgeklärten Reformbestrebungen etwa im katholischen Süden Deutschlands und in Österreich (darüber ist 2016 ein Sammelband unter dem Titel "Josephinismus", hrsg. von Franz Leander Fillafer und Thomas Wallnig, erschienen). Aufklärung und Esoterik (Freimaurertum) schlossen keineswegs einander aus), Reformen der Aufklärungszeit, die das "Glück des Volkes" befördern sollten, das Bildungswesen und Medizinalwesen betrafen, jedoch nicht an die staatliche und kirchliche Ordnung rührten: "Alles für das Volk, nichts mit dem Volk." (Joseph II.)
    Nehmen wir den Titel von Frank Kelleter zur Hand "Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Realität im Zeitalter der Revolution", Paderborn u. a. 2002. Auf 852 (!) Seiten ist davon die Rede, wie vor allem rationalistische Ideen aus dem Mutterland der amerikanischen Kolonien über den Atlantik in die Neue Welt gelangten und die Rechte von versklavten Afroamerikanern und Frauen mit Argumenten der kontinentalen Aufklärung eingefordert wurden. Aufklärung wird hier vor allem mit "Rationalismus" in Verbindung gebracht.


    Michael Schippan legt in seinem Buch "Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert" (2012) auf annähernd 500 Seiten dar, dass man kaum von dem einen Aufklärungs-Begriff ausgehen könne, sondern "prosveshchenie" (russ. für Aufklärung, aber auch Erleuchtung, Taufe, Volksbildung) die verschiedensten Bedeutungsebenen erfassen könne. Er untergliederte sein Buch in drei Teile: chronologische Entfaltung der Aufklärung von einer Frühaufklärung bis zur Spätaufklärung (wie das auch Martus tut), räumliche Entfaltung (nicht nur in den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg, sondern auch in der Provinz, bei Martus wechselnde Schauplätze in deutschen Territorien - Hamburg, Leipzig, Berlin usw.) sowie Themen der Aufklärungsdebatten (Russland und Europa bzw. Asien, Krieg und Frieden, Ökonomie, Bildungswesen, Theologie der Aufklärung, Geschichtsschreibung usw.).


    Und Steffen Martus? Ich will in einem Post der kommenden (hoffentlich nicht allzu entfernten) Zeit versuchen, einmal ein paar Thesen zu seinem Buch zu formulieren.