Beiträge von Anton Thalberg

    Guten Abend, Alpha!


    Nun also noch ein paar Worte - wie vor einem halben Jahr (Peinlich!) einmal versprochen. Ich hatte damals tatsächlich mit einem Text zu Tychos Gottesbild begonnen, war aber nicht so recht zufrieden damit und vertagte die Aktion. Dann gab's neben dem Beruf eine größere familiäre Aufgabe (nicht's Schlimmes, gleichwohl zeit- und kraftraubend) zu lösen. Tja - und dann? ... lag meine letzte Mail ja schon sooo lange zurück, dass ich das Wiederschreiben brav vertagte, wodurch's natürlich nicht besser wurde.
    Bevor ich noch ein paar Worte zu Tycho verliere: Herzlichen Dank für das interessante Gespräch und Deine Geduld, Alpha! (Ich muss gestehen, dass ich nach wie vor kein Fisch im Wasser der Internet-Foren bin. )
    Doch zu Brods Roman: Was ist geblieben? Zunächst die Erinnerung an zwei ganz unterschiedliche Arten zu leben, dann die eindrückliche Figur des Tycho, die sich als homo viator erwies, schließlich das Bild eines Gottes, dessen Stärke in seiner Schwäche liegt. Ich hatte es früher bereits einmal erwähnt, dass ich nachts recht gerne (mit oder ohne Teleskop) unter dem Sternenhimmel stehe: Seit dem Frühjahr denke ich beim Sterngucken immer wieder an Brods Romanwelt.
    Und außerdem sind all die anderen Romandetails geblieben, an die ich mich aber nur in ihnen verwandten Lebenssituationen erinnere.


    Das war's; es soll meine letzte Mail zu Brods Tycho-Roman gewesen sein. Nochmals vielen Dank, Alpha!



    Herzliche Grüße,


    Anton Thalberg

    Guten Tag, Dostojevskij!


    Danke für den wertvollen Hinweis. Das Buch fehlt mir offensichtlich noch zum vollkommenen Glück! :zwinker:


    Als Mittel gegen dieses MEHR! MEHR! MEHR! darf ich gleich die Anschaffung weiterer Büchlein empfehlen:
    In einer Bibliothek der Exzentriker sollten unbedingt auch die Werke des Tom Hodgkinson stehen. Hodkinson plädiert z.B. in "How to be free" für die gemüterheiternde Mischung aus mittelalterlicher Lebensfreude, Anarchie und Existenzialismus. Hierbei vergisst er nicht auf den Wert der guten Zeit mit dem guten Buch hinzuweisen. Eines seiner Heiterkeitsvorbilder ist Franziskus; womit wir wieder bei christlichen Klassikern wären ...- Aber warum nicht? Exzentrischer Heiliger: Das dürfte gehen, v.a. wenn man auf die Zeilen eines Dostojevskij antwortet. :zwinker:


    Übrigens ist Hodgkinson einer der Erfinder des Idler-magazine (Der Name des Blattes ist Programm.) sowie des National Unawareness Day ("as a protest against the plague of awareness days", T.H.).



    In diesem Sinne alles Gute zum ersten Mai,


    Anton Thalberg

    Guten Abend!


    Herzlichen Dank für den Hinweis. Das verspricht eine interessante Reihe zu werden. Hier ein link auf das Bistum Essen, den ich soeben entdeckte:


    Zitat



    In den vergangenen Jahren habe ich mich immer wieder mit Klassikern des Christentums befasst und mich dabei gewundert, dass manche der christlichen Klassiker (zeitweilig oder dauerhaft) nicht erhältlich waren und sind. Einzig antiquarisch konnte ich nach und nach an das ein oder andere Bändchen gelangen, etwa an eine Ausgabe des Frankforter ("Theologia Teutsch"), der zu meinen Lieblingsklassikern des Christenums zählt. Einen kleinen Trost schenken mir da zwei Anthologien, die immerhin Kostproben der oft genannten und selten neu aufgelegten Werke bieten:


    - TRITSCH, Walter: Christliche Geisteswelt (2Bd.e); Hanau 1986 [=Werner Dausien]
    -GERLINGS, Wilhelm; GRESHAKE, Gisbert: Quellen geistlichen Lebens (2 Bd.e); Mainz 1995 [=TOPOS Taschenbücher]


    Peinlich finde ich in diesem Zusammenhang, wie es die pseudoreligiöse (sicherlich hie und da gut gemeinte) Erbauungskitschliteratur schafft, den Blick auf die Klassiker des Christentums zu verstellen.
    Aber eine Wochenzeitung scheint sich ja der Perlen zu entsinnen. Gut so!



    Alles Gute,


    Anton Thalberg

    Eine kleine Korrektur zu meinem Beitrag vom 21. März 2007: Karl Kraus’ Kommentar zum literarischen Betrieb in Prag lautet korrekt:


    Zitat

    Es werfelt und brodelt, es kafkat und kischt.


    (Nachzulesen an verschiedenen Stellen bei Serke (vgl. oben), z.B. als Glosse auf Seite 379)



    Alles Gute!


    Anton Thalberg

    Guten Abend!



    Ja, auch ich hatte erstaunlich wenig Mühe mit der Lektüre. Ich bereue nicht, diesen Roman gelesen zu haben, und halte das Buch sogar für eine kleine Entdeckung. Das liegt für mich unter anderem daran, dass hier über klassische Sinnfragen des einzelnen Menschen nachgedacht wird, und dass dieses Nachdenken nicht im luftleeren Raum der Reflexion geschieht, sondern den Zufällen des Lebens preisgegeben wird. (Dazu später mehr.)


    Vergangene Woche habe ich also die Lektüre abgeschlossen - vorläufig. Der Schluss gibt mir ziemlich zu denken. Gerne würde ich noch eine kleine Weile verstreichen lassen, dann nochmals die letzten Romanseiten durchblättern, die angestrichenen Passagen lesen ... - und hier dann schließlich ein paar Gedanken zum "Weg zu Gott" entwickeln, der ja im Titel genannt wird. Vor ein paar Jahren habe ich mich ziemlich intensiv mit religionsphilosophischen Fragen befasst, darunter die Frage, wie sich überhaupt angemessen über Religion und religiöse Erfahrung reden lasse. Vor diesem Hintergrund möchte ich dann nochmals betrachten, wie über Tycho Brahes religiöse Erfahrung gesprochen wird.



    Bis dahin alles Gute und bereits jetzt schon vielen Dank, alpha, dass Du Dich auf den Dialog (in einer Zweierrunde mit einem Neuling!) eingelassen hast! Übrigens habe ich gesehen, dass es eine Feuerbach-Leserunde geben soll ...



    Anton Thalberg

    Guten Tag!


    Hier die in der Leserunde erwähnte Passage:


    Zitat

    Wie man vielleicht noch in Erinnerung hat, zog sich durch das Buch von "der Auferstehung der Metaphysik" als Leitfaden das in einem solchen Zusammenhang etwas fremdartige Prinzip der Besonderung, und mit Recht hat mancher meiner Leser damals gefragt, was denn eigentlich dieses metaphysische Prinzip in einem solchen rein historischen Zeitgemälde der Philosophie zu suchen habe. Erst heute kann ich auf diese hier und da von kritischen Lesern gestellte Frage die Antwort geben, dass sich mir damals fast unbemerkt ein systematischer Gedankenfaden in das Geflecht der historischen Darlegungen hineingeschlungen hatte. [...] Aber einem Menschen, der eines Tages von einer besonderen Idee erfasst wird [...] , geht es oft so, dass er am Anfang sich selbst noch nicht klar ist über das, was in den Untergründen seiner Seele nagt und bohrt und Gestalt begehrt. In parzivalischer "tumpheit" muss er oft eine gute Weile umherirren, bis er dann endlich eines Tages seinen Trevrizent findet [...].


    Quelle:
    WUST, Peter: Naivität und Pietät; Münster 1964 [= WUST, Peter: Gesammelte Werke, Bd. II], S. 25f..



    Übel kalauernd die Moral von der G'schicht: Der Leser als Rezipient wird manchmal auch zum Trevrizent.
    Und, bevor ich hier noch weiter abstürze:




    Alles Gute,


    Anton Thalberg

    Guten Tag!


    Allem voran: Herzlichen Dank für Eure Antworten. Offensichtlich ist die Diskussion in Gang gekommen; sehr schön.


    Geschwind ein paar Zeilen. Zunächst: Dass Brod in seinem Kepler einen Typus des modernen Wissenschaftlers zeichnet und mit Brahe einen mehr mittelalterlich geprägten Forscher erkennen lässt, dem stimme ich ohne Wenn und Aber zu. Als Wissenschaftler ist Kepler auch bei Brod die modernere Existenz. Alles andere wäre schwerlich dem Roman (soweit ich ihn bislang kenne) zu entnehmen. Brod zeichnet hinsichtlich der wissenschaftlichen Bemühungen nun einmal genau jenes Gegensatzpaar, auf das Ihr hinweist.
    Der biographische Hinweis auf Einstein - Vielen und herzlichen Dank dafür! - bestätigt dies ja schön. Dass seine Zuordnung zur Figur des Kepler Einstein nicht gerade entzückt, das ist nur zu gut zu verstehen. Übrigens ist mir während der Lektüre wieder eingefallen, dass von Max Planck ja ähnliche Züge wie vom Brodschen Kepler überliefert sind (- wenn ich mich recht entsinne in Werner Heisenbergs Autobiographie "Der Teil und das Ganze"): Einerseits moderner Wissenschaftler, der auf der Höhe seiner Kunst denkt, und andererseits gläubiger Mensch, der an traditionellen Formen der Religion festhält.


    Der Erzähler kennzeichnet den genannten Gegensatz ja auch von Beginn an. Was ich mit modernerer Existenz gemeint habe und warum ich diesen Gedanken nur als Verdacht äußere, möchte ich nun noch rasch andeuten. Im Laufe der kommenden Woche folgt dann sicherlich eine ausführliche Argumentation. Ich darf hier ja nicht einfach nur gackern, die Diskussion lostreten - nur, um dann doch kein Ei zu legen... (Sollte ich doch damit beginnen, mit Smileys zu arbeiten? Es wäre jetzt wohl der zweite von links angebracht.)


    Hier also, das bin ich Euch schuldig, wenigstens einen Wink, in welcher Hinsicht ich den Verdacht äußerte:


    Zum Gedanken der moderneren Existenz: Ich meine, dass sich einzelnen Passagen entnehmen lässt, dass Tycho der existenziellere Denker ist (vielleicht muss ich mein Urteil ja noch ändern, da Kepler bislang recht introvertiert erscheint), dass er also - wie das Kepler im Fachbereich der Astronomie unternimmt - im Bereich der Fragen und Probleme der einzelnen Existenz mehr wagt. Kepler forscht und betet - Tycho erlebt, dass Gott schweigt. Im Verlauf der kommenden Woche mehr dazu und dann auch sauber zitiert.
    Weshalb der Gedanke ein Verdacht ist: Ich neige zu problemorientierter Lektüre. Das heißt, dass ich unter Umständen Zusammenhänge finde, wo Brod kein darstellen wollte, aber vielleicht doch dargestellt hat - etwa weil sie sich aus der Logik der Fabel ergeben oder weil Brod unbewusst an einem Problem arbeitete, das zwar sein Denken beschäftigt, aber noch nicht an die Oberfläche gelangt ist (Der Philosoph Peter Wust hat sich einmal über eines seiner frühen Werke sinngemäß so geäußert [Ich suche die Passage und stelle sie am Wochenende in den Materialien-Bereich]: In jenem Frühwerk habe er offensichtlich bereits an seinem Hauptproblem gearbeitet, ohne dass es ihm damals klar vor Augen gestanden hätte.) Es könnte also im Laufe dieser Lektüre eintreten, dass ich Dinge sehe, die zwar sehr wohl da sind, aber nachweislich von Brod nicht geplant wurden. Konkret: Dass Brod zwei Wissenschaftler einander gegenüberstellt, die sich idealtypisch dem Mittelalter bzw. der Neuzeit zuordnen lassen, und dabei Figuren darstellt, die unterderhand eine eigene Logik entwickeln, sich emanzipieren. (Der Schriftsteller-Topos von der sich emanzipierenden Figur, die ein Eigenleben entwickelt, wäre auch eine Diskussion wert...) Wobei mir klar ist, dass Romane nicht nur geschrieben werden, damit Anton Thalberg auf seiner geistesgeschichtlichen Ostereierjagd was finden kann. Nun also doch::zwinker:!


    Einer meiner privaten Literaturhelden, Ludwig Hohl, schildert in den "Notizen" ja recht amüsiert den Fall, dass der Leser bisweilen mehr erkennt als der Autor absichtlich hineingelegen wollte. (Womit ich kein billiges Selbstlob auf mich als den schlauen Leser vortragen möchte! Also noch einmal: :zwinker:! Ich will vielmehr darauf hinweisen, dass ich Hohl beipflichte, wenn er echtes Lesen als aktive und produktive Tätigkeit schildert.)



    Alles Gute, nochmals vielen Dank für Eure Anworten und bis bald!





    Es grüßt


    Anton Thalberg




    Übrigens: Die Qualität Brods als Schriftsteller kann ich noch nicht so recht einschätzen; dies ist der erste Brod-Roman, den ich lese. Dazu aber sicherlich am Ende (oder besser zwei, drei Wochen nach) meiner Lektüre etwas mehr. Bislang könnte ich lediglich eine kleine gedankliche Plus-/Minus-Liste wiedergeben - was mich aber nicht davon abhält, bereits jetzt auf Gelungenes hinzuweisen.

    Guten Abend!


    Reizend war es zu sehen (Kap.7), wie Tycho plötzlich Zweifel an der Redlichkeit seiner Beweggründe überfallen. Christine, seine Frau, fragt recht profitlich nach den Vorteilen, die sich für ihn aus dem Kontakt zu Kepler ergeben. Tycho argumentiert zunächst über die Universalität des Geistes, und folgt damit dem Gedanken Goethes, dass im Geistigen das Gesetz der Verschwendung zähle. (Aus Tychos Sicht: Je mehr er, der Geistesmensch Tycho, seine Schätze teilt, desto reicher werden Keplers Antworten sein.)


    Damit widerspricht Tycho dem praktischen Gebot der Alltagsökonomie, das Christine - wohl gewohnt durch Sparsamkeit den Haushalt zusammenzuhalten - im Sinn haben mag. Um Christine zu überzeugen, erklärt er ihr, dass Keplers Genius dermaleinst auch ohne die Hilfe des weitgerühmten Tycho zu größtem wissenschaftlichen Ruhm führen werde, und dass er, Tycho, doch gut daran täte, sich rechtzeitig mit diesem Ruhm biographisch zu verbinden:

    Zitat

    Während Tycho dies mit einem an ihm ungewöhnlichen, listigen Lächeln vorbrachte, wusste er eine Weile lang nicht, ob diese Gedanken, die ihm noch nie gekommen waren, für den Augenblick erfunden oder am Ende wirklich die geheimen Triebfedern seiner Vorliebe für Kepler waren. Da erschrak er, als hätte er das Medusenhaupt erblickt. Er sah das Edelste, Schönste seiner Seele entwürdigt, durch den Staub geschleift. Er wurde unsicher, begann zu stottern, ja, er errötete. Ein Schmerz, wie er ihn noch nie gefühlt hatte, verschlug ihm die Rede. "Denn auch der Gerechte sündigt siebenmal des Tages," fuhr er nach einer langen Pause fort, während das Lächeln auf seinem Gesicht erfror.


    Also wieder einmal befürchtet der philosophische Kopf, vielleicht doch nur ein egoistischer Brotgelehrter zu sein. Tycho ist sich erneut selbst das Rätsel.
    Langsam drängt sich mir der Verdacht auf, dass Kepler als der modernere Wissenschaftler der beiden dargestellt wird, während Tycho als die modernere Existenz erscheint. Tycho spürt die Freiheit, sich für diesen oder jenen der Gedanken, die ihm in den Sinn kommen, entscheiden zu können. Er spürt, dass er sich zwar zu seinen Einfällen kritisch verhalten kann - fürchtet dabei aber, dass moralisch fragwürdige Einfälle ihm selbst (als Teil seiner selbst) entspringen. Was sagst Du dazu?


    Übrigens lässt Brod, damit die zitierte Szene nicht ins allzu Pathetische kippt, im unmittelbar folgenden Satz Christine ihren Mann herzlich missverstehen - und wir sind wieder auf dem Boden der Tatsachen angelangt, die Erde hat die Leser wieder; schön, nicht?



    Nun noch einen guten Abend! Und - da ich derzeit mit der Lektüre ganz offensichtlich langsamer als Du vorankomme - vielen Dank für die Geduld! Übrigens: Solltest Du erste Überlegungen zum Ende des Romans haben: Nur her damit! Ich sehe kein Problem darin, zu wissen "wie's ausgeht". Die Perlen werden so oder so die Lesehütte mit Glanz erfüllen. Also, nur drauf los! Nach frischer Lektüre schreibt sich's ja manchmal nicht schlecht!



    Alles Gute!


    Anton Thalberg

    Guten Tag!


    Vielen Dank für Deine interessanten Beobachtungen. Das geht ja flott voran mit Deiner Lektüre. Ja, es ist so eine Sache mit Brahes Aberglauben. Um gleich einmal die Zitatfunktion auszuprobieren (Hoffe das klappt so schön wie in Deiner Mail mit den dunkelblauen Kästchen. Sollte das mit dem Zitierkästchen, das sich hoffentlich nach dem Senden von Zauberhand einstellen wird, nicht funktionieren, wäre ich für ein paar Tipps dankbar.), das folgende Zitat:


    Zitat

    "Nimm dich Jeppes an, denn stirbt er, so wirst auch du nicht mehr lange leben." Damals lachte ich und verscheuchte den Aberglauben. Jetzt aber finde ich einen Sinn in den Worten der Alten: Solange ich noch Kraft habe, dieses schwache Geschöpf zu schützen, solange werde ich auch für mich genug Kraft haben.




    Hier hat sich Tycho Brahe offensichtlich selbst überlistet. Aus Menschlichkeit kümmert er sich zunächst um Jeppe und nimmt sich dann sogar Jeppes für Lebenszeit an. Vor sich selbst aber nennt er dies den Aberglauben verscheuchen und gibt damit implizit zu, dass hier ein Handlungszwang aus Aberglaube im Spiel gewesen sein könnte - gewissermaßen als (von der sterbenden Alten klug berechnete) Möglichkeit aufgedrängt. Umso bemerkenswerter die nachträgliche Rationalisierung, die er offensichtlich sich selbst, seinem Gelehrtendasein, über das er sich hier definiert, schuldig zu sein glaubt. Ich glaube (bei Büchner?) einmal gelesen zu haben, dass man nie wissen könne, wer in einem selbst wen betrügt. Ähnlich in dieser Passage: Brod lässt den Figuren ihr Geheimnis und gestaltet sie dadurch sehr lebendig - wie ich meine. (Was wäre natürlicher als ein Mensch, der sich nicht selbst versteht?)


    Hier zeigt sich eine Geschicklichkeit, die staunenswert ist. Ich muss hierzu ein wenig ausholen und baue auf Deine Geduld:
    Bei der Brod-Lektüre fällt auf, dass sehr explizit erzählt wird. Damit meine ich, dass Brods Erzähler ständig die einzelnen Charakterzüge und Aktionen der Figuren mit vielen Adjektiven genau kennzeichnet - womit er ein hohes Risiko eingeht. Bei dieser Erzähltechnik lauert überall die Gefahr der Banalität. Doch wird dieses durch Passagen wie die oben zitierte durchkreuzt. Der Leser muss sich dann selbst zusammenreimen, wie es um die Motive der Figuren bestellt ist. Konkret: Wenn ich über eine solche Passage nachdenken und ein eigenes Urteil über Tychos wahre Gründe fällen muss, kann es vorkommen, dass ich punktuell Tycho besser durchschaue als er sich selbst - zumindest glaube ich dies dann bereitwillig. Ich erlebe also Tycho als meinesgleichen [Ich red' jetzt nur von mir!], der sich ja auch tagtäglich in die Tasche zu lügen bereit ist. Tycho wird lebendig.
    Sollte ich daher bereits jetzt einen Grund angeben, weshalb es sich lohnt, den Roman zu lesen, dann käme mir sicherlich diese feine psychologische Mischung in den Sinn, die sich geglückt aus glaubwürdigen und dabei stimmigen Charakteristiken sowie vornehmer Zurückhaltung im Urteil zusammensetzt.


    Eine weitere Beobachtung: Tengnagel erinnert mich an den zuhausegebliebenen der beiden Söhne in der Parabel vom verlorenen Sohn, der seine Treue aufrechnet und nach Verdienst schielt. Wie Schillers Brotgelehrter äugt er argwöhnisch auf Kepler, in dem er nur die Konkurrenz erblickt - der Gedanke hingegen, dass Kepler eine Bereicherung darstellt, kommt ihm (bislang?) jedenfalls nicht in den Sinn. Ich schließe daher mit einer Sentenz aus Goethes Wahlverwandtschaften (Abschnitt "Aus Ottiliens Tagebuche"): Gegen große Vorzüge eines anderen gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.



    Alles Gute!


    Anton Thalberg

    Aber gerne! Am Wochenende schreibe ich dann auch die versprochenen Zeilen für die Hauptleserunde. Hier also das Sonett Flemings, das ich der Conrady-Sammlung entnehme.



    An sich


    Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren,
    Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
    Vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
    Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.


    Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,
    Nimm dein Verhängnis an, lass alles unbereut.
    Tu, was getan muss sein, und eh man dir's gebeut.
    Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.


    Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
    Ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
    Dies alles ist in dir. Lass deinen alten Wahn,


    Und eh du förder gehst, so geh in dich zurücke.
    Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
    Dem ist die weite Welt und alles untertan.



    Paul Fleming [1641]



    [Conrady schlägt vor, "Glück" im Sinne von "Fortuna" zu lesen. ]


    Alles Gute,
    Anton Thalberg

    Hier noch ein Werk, das man getrost als Standardwerk zur deutschsprachigen Literatur Prags (und Böhmens) bezeichnen kann, und das ich wärmstens empfehlen möchte:


    SERKE, Jürgen: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft; Wien, Hamburg o.J. [= Paul Zsolnay]



    Serke stellt hier nach einem einleitenden Essay (Titel: Europa starb in Prag) eine ganze Reihe von literarisch hochrangigen Autoren vor, die häufig nur wenigen bekannt, wenn nicht gar komplett vergessen sind. Die vier großen Autoren Prags (Kafka, Rilke, Werfel und Kisch - vgl. Karl Kraus: In ganz Prag kafkats und rilkets und werfelts und kischts!) erscheinen naturgemäß auf fast jeder Seite des Werks, doch widmet ihnen Serke keine eigenen Kapitel, da er seine Aufgabe in der Erinnerung an jene anderen Autoren sieht, die - wie er überzeugend darlegt - zu Unrecht vergessen wurden. Der einleitende Essay zeigt, wie es zwei totalitäre Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts vermochten, eine reiche Kulturlandschaft zu zerstören. Ausführliche Informationen zu Max Brod finden sich übrigens auf den Seiten 377-388, darunter auch wertvolle Hinweise zu "Tycho Brahes Weg zu Gott" und Brods Philosophie, die u.a. in unserem Roman zum Ausdruck kommt. Nicht zu vergessen: Das Buch ist reich bebildert. Die Fülle des seltenen und erstaunlichen Bildmaterials lässt nur erahnen, welche Arbeit sich Serke mit seinem Projekt gemacht haben muss.


    ICH EMPFEHLE DIESES BUCH ALLEN, DIE VERGESSENE AUTOREN MIT KLASSIKERPOTENTIAL WIEDERENTDECKEN MÖCHTEN!


    Serke ist es zu verdanken, dass etwa Leo Perutz wiederentdeckt wurde. Übrigens taucht in dessen Prag-Roman "Nachts unter der steinernen Brücke", den ich ebenfalls empfehlen möchte, im Kapitel "Der Stern des Wallenstein" auch Kepler auf. Nach der Brod-Lektüre werde ich also sicherlich wieder ein Kapitel Perutz lesen.




    Viele Grüße,


    Anton Thalberg

    Guten Tag!


    Meine Freizeit ist momentan leider eher begrenzt. Ich habe erst die ersten drei Kapitel gelesen. Hier rasch ein paar Eindrücke, am Abend hoffentlich noch ein paar Überlegungen mehr.


    Mir ist aufgefallen, dass die Nebenfiguren bereits an dieser Stelle deutlich konturierte Charaktere bilden. Die Zusammenkunft auf dem Schloss gerät beim Abendessen fast schon zu einer menschlichen Versuchsanordnung. Tycho erscheint dabei als humanistisch geprägter Geist, dessen Lebensaufgabe letztlich darin besteht, das eigene Gleichgewicht zu halten und dem Leben SINN abzugewinnen. Er erinnert dabei ein wenig an Montaigne, der mit Sinnsprüchen an den Dachbalken seines Wohnturms (... in welchen sich M. vor der eigenen Familie flüchtete!) versucht, die als bedeutend erkannten Weisheiten buchstäblich im Blick zu behalten. Tychos Lebenserfahrung ist die des Barockmenschen, der sich angesichts der Vergänglichkeit (hier: der Vergänglichkeit der förderlichen Arbeitsbedingungen und guten Lebensumstände) in stoischem Gleichmut übt. Ich musste bei der Lektüre außerdem an das berühmte Sonett Paul Flemings denken ("An sich"), in dem sich ein lyrisches Ich selbst Mut zuspricht. Alpha, soll ich das Sonett hier einmal wiedergeben? Ich finde, es passt gut zum brodschen Tycho.
    Übrigens: Zu Kepler habe ich auch noch etwas zu sagen. Mir geht es mit ihm, glaube ich, ähnlich wie Dir. Dann bleibt also auch die Spannung, was aus Keprler noch wird.



    Alles Gute,


    Anton Thalberg

    Guten Abend!



    Ja, die Lektüre wird mit Sicherheit spannend. Neben der Frage nach dem weiteren Handlungsgang ist natürlich interessant, wie Max Brod den historischen Roman in Angriff nimmt. Deinen Beobachtungen zum ersten Kapitel kann ich nur zustimmen.
    Es ist geschickt, Tycho Brahe noch nicht sofort ins Spiel zu bringen (ohnehin ein Tipp für Literaten, den Helden erst in Außenperspektiven darzustellen; vgl. Wallenstein bei Schiller oder die Figur des Goethe in Thomas Manns „Lotte in Weimar“…). Damit wird Neugierde erzeugt und eventuell auch Sympathie für die künftige Hauptfigur. Denn ein nicht ganz uneigennützig motivierter Gerechtigkeitsreflex lässt uns ja auch im Alltag gerne die Urteile über abwesende Personen skeptisch beäugen -behaupte ich jedenfalls einmal.
    Die von Dir angesprochene Ambivalenz ist interessant. Sie scheint in der Tat Erzählprinzip zu sein. Um es etwas salopp zu sagen: Mit dieser Ambivalenz werden dem Leser Perspektiven auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund untergejubelt:
    Ganz unaufdringlich erfährt er aus einem der Widerspruchsreden des Hofarztes etwas über die politische Situation der erzählten Welt – wodurch eine geschichtliche Belehrung durch den Erzähler eingespart wird, welche der Leser vielleicht als Unterbrechung der erzählten Handlung empfunden und mithin als Langatmigkeit wahrgenommen hätte. An anderer Stelle ergibt sich aus dem Gesprächswiderspruch ganz organisch ( <= um es mit einem etwas ideologischen Bild zu sagen) der Gegensatz zwischen religionsrivalisierender Tagespolitik (sowie deren Alltagsnöten) und dem Glanz der erwachenden naturwissenschaftlichen Zuversicht – durch welchen das Zeitalter ja geprägt war. Hierzu vielleicht später einmal etwas mehr.


    Alles Gute! Auch ich bin auf die weitere Lektüre gespannt!



    Grüße,
    Anton Thalberg

    Guten Tag!


    Dann kann es also losgehen. Schön! Vielen Dank für die Materialhinweise! Da ich Mitglied der VDS (in diesem Fall steht VDS für "Vereinigung der Sternfreunde") bin, möchte ich ergänzend auf die Geschichtsrubrik meines Clubs hinweisen (http://geschichte.fg-vds.de/ ), die einen guten Überblick zum Forschungsfeld der Astronomiegeschichte bietet. (Übrigens muss ich auf diese Seite verweisen, da ich selbst kein Experte der Astronomiegeschichte bin.)


    Am wohl eher späten Abend werde ich sicherlich meine ersten Leseeindrücke und Gedanken zum ersten Kapitel schildern können. Die ersten Seiten sind ja vielversprechend.



    Alles Gute und eine angenehme wie lehrreiche Lektüre!


    Anton Thalberg

    Guten Abend!


    Na, das ist eine rasche Antwort. Vielen Dank auch für die Duz-Auskunft. Ich schließe mich gerne den Gepflogenheiten an und grüße Dich!
    Meine Zusage steht, die Leserunde wäre also gegeben. Aber vielleicht lohnt es sich ja auch noch ein wenig zu warten? Ich habe, wie bereits angedeutet, keine Erfahrung mit dem Zustandekommen von Leserunden. Daher würde ich gerne Dir das Startsignal zur Brod-Lektüre überlassen.
    Meinetwegen kann das Lesen ab sofort beginnen - oder erst in ein paar Wochen. In jedem Fall wäre ich gerne dabei.



    Alles Gute wünscht


    Anton Thalberg

    Lieber alpha!


    Vielen Dank für den interessanten Vorschlag. "Tycho Brahes Weg zu Gott" steht seit wenigen Wochen - ungelesen wie so vieles - in meinem Regal. Ich konnte den Band (Kurt Wolff-Verlag, 1917) antiquarisch erstehen und sehe es natürlich als kleine Fügung an, dass Sie ausgerechnet diesen Roman hier zur Lektüre vorschlagen. Nun, ich würde gerne diesen Roman lesen und ein wenig darüber plaudern. Mit einem Wort: Ich bin im Boot.
    Sie sehen vielleicht, dass diese Zeilen meinen ersten Beitrag in diesem Forum darstellen. Weshalb ich gleich einmal fragen muss: Ist es üblich, sich im Internet zu duzen?


    Nun, das ist er, mein erster kleiner Beitrag. Ich hoffe, dass die Leserunde zustande kommt.


    Ihnen alles Gute,
    Anton Thalberg