Beiträge von Regal

    Oh ja ... bei dem bin ich ca. nach einem Drittel rausgefallen, obwohl mir das sehr zugesagt hat. Aber ich hatte von der Handlung und den Personen schon wieder so viel vergessen, dass ich mir dachte, ich sollte nochmal von vorne anfangen.

    Es ist schwierig, in Deutschland an vollständige Übersetzungen der chinesischen Klassiker zu kommen, aber ich habe bisher die etwas überarbeiteten Übersetzungen Franz Kuhns von den "Räubern vom Liang Schan Moor", dem "Kin Ping Meh" und nun auch zum zweiten Mal vom "Traum der roten Kammer" gelesen und kann nur zum wiederholten Male betonen, dass diese Übersetzung, deren Passgenauigkeit zum Original ich nicht beurteilen kann, an sich eine sprachliche Glanzleistung sind.


    Ein Freund von mir hat eine vollständige Übersetzung des Jin Ping Mei, die doch deutlich expliziter pornographisch ist als die weichgezeichnete von Kuhn - sagte er mir, ich kenne beides noch nicht, und der gigantische Umfang der vollständigen Übersetzung schreckt mich auch nachhaltig ab.

    Wie kommt es wohl, daß Romane von literarischem Wert (so nenn ich es jetzt mal) in Vergessenheit geraten?


    Ganz einfach: Es sind zu viele! Wenn wir Schickeles Geburtendekade ansehen, würde ich davon ausgehen, dass Konrad Weiß, Leo Perutz, Ernst Weiß, Leonhard Frank, Wilhelm Lehmann, Oskar Loerke, Fritz von Unruh, Carl Einstein, Gustav Sack, Franz Theodor Csokor, Ina Seidel, Berthold Viertel, Albert Ehrenstein, Raoul Hausmann, Arnold Zweig, Bruno Frank, Ernst Wiechert, Albert Paris Gütersloh, Robert Müller, Franz Jung, Georg von der Vring und Walter Serner neben den bekannteren Autoren Robert Musil, Stefan Zweig, Ernst Stadler, Franz Kafka, Lion Feuchtwanger, Hermann Broch, Gottfried Benn, Hugo Ball, Kurt Schwitters, Hans Arp, Jakob van Hoddis, Georg Heym, Georg Trakl und Alfred Lichtenstein allesamt von nicht geringerem literarischem Wert als René Schickele sind. Wer sich da so richtig vertieft, hat das Problem, das er anderes, wichtigeres versäumt - das ist mein Fehler, aber es lebt sich auch damit ganz gut.

    :)

    Und ich will auch nicht Otto Flake, Paul Zech, Rudolf Pannwitz, Ludwig Rubiner, Wilhelm Klemm, Paul Boldt, Albrecht Schaeffer, Max Herrmann-Neisse, Oskar Kokoschka, Reinhard Goering, Ernst Sommer, Friedrich Wolf, Siegfried Kracauer, Ludwig Renn und Paul Kornfeld missen - um bei den zwischen 1880 und 1889 Geborenen zu bleiben.

    Mein Lektüreschwerpunkt war lange Zeit die deutschsprachige Literatur von ca. 1890 bis 1950, und so habe ich neben diversen anderen "vergessenen" Autoren auch Schickele gelesen, einerseits als Lyriker in den gerne und oft zur Hand genommenen reclam-Anthologien, andererseits als Romanautor in einem Zufallsfund in einem Münchner Antiquariat: Maria Capponi (1925). Ich war nicht sehr angetan, was mich aber motiviert, es nun nochmals zu versuchen, ein Viertel habe ich nun also wieder zurückgelegt.


    Ich empfinde das Buch nicht als besonders "rund" - die Sentimentalitäten wie in einem Briefroman, der komplizierte Aufbau mit Rückblenden bis zum Uropa und Napoleon, die bisweilen gesuchte, aus dem Expressionismus stammende Bildlichkeit wachsen für mich bislang nicht so ganz zusammen. Vielleicht sollte man aber wirklich alle drei Bände der Trilogie lesen, um das Konzept "Entwicklungsroman eines Landes" würdigen zu können. D.h., man sollte ordentlich Sitzfleisch mitnehmen.

    Ich denke, dass Dystopien (und Utopien) doch generell nicht nur eskapistisch als literarische Fiktion gemeint sind sondern zur Kritik an den Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft aufrufen, und dass das besonders bei Brave New World auch sehr gut funktioniert hat und immer noch funktioniert, da Huxleys Vision unserem Leben näher ist als die von Orwell und Samjatin. Insbesondere die Vergnügungs-"Kultur", das Verdrängen von Alter und Tod, die Respektlosigkeit gegenüber ungeborenem Leben. Heute funktioniert Huxley aber somit anders als damals: Während Huxley manche Wertigkeiten einfach auf den Kopf stellte (Promiskuität als moralische Verpflichtung) hat sich die Realität in manchen Dingen recht nahe an seine boshaften Scherze angenähert (der Selbstmord des Wilden ist für mich der boshafteste Scherz des Buches, dem weniger ein Schmunzeln als ein Feixen zugeordnet werden könnte).

    Was wiederum praktisch jeder Utopie oder Dystopie eignet. Und der Zukunftsforschung. Und der Städtebauplanung. Und ... und ... und ... ;)

    Also die Utopie vergrößert doch nicht die Mißverhältnisse sondern entwirft eine positiv gemeinte Gegenwelt. Bei der Dystopie wäre es denkbar, dass in einem Schreckensszenario ein Charakter zum Mitfühlen einlädt, wofür er ja etwas anderes sein muss, als eine lächerliche Karikatur. Worauf ich hinauswollte, ist, dass bei Brave New World nicht nur die Gesellschaft und Technikverwendung sondern auch alle Figuren Überzeichnungen sind, abstoßend, bedrohlich. Man kann dem Roman vorwerfen, dass man innerlich distanziert bleiben muss, was die Betroffenheit reduzieren könnte, dass somit die pädagogische Wirkung auf der Strecke bleibt und der kalte Spott übrigbleibt. Dennoch hat der Roman, denke ich, Generationen betroffen gemacht.

    Meine Huxley-Lektüre ist auch zu lange her, um noch was Gescheites dazu sagen zu können. Obwohl ich als Gymnasiast nachher auch noch sein Schweinchen-Epos las...



    Habe ich selber zwar auch noch nicht gelesen; Kollege scheichsbeutel war in unserm Blog allerdings nicht zu 100% überzeugt. (Achtung! Wir halten uns in unserm Blog nicht an die offiziöse Regelung, wonach von Romanen das Ende nicht verraten werden soll.)

    Wir ist doch genauso genial wie Brave New World und 1984, besonders interessant wird es, wenn man sich damit vertraut gemacht hat, worauf Samjatin damit reagiert: In Russland gab es tatsächlich Überlegungen, den Menschen zu normieren, damit er besser als Arbeitstierchen geeignet ist. Auch bei Wir muss einem klar sein, dass es sich auch um Satire handelt. Heute ist uns das vielleicht schon zu fremd, weil offiziell der Individualismus gepredigt wird.

    Gerade abgeschlossen: Meinrad Inglin: Werner Amberg. Die Geschichte einer Jugend (1949). Genauer genommen die Kindheit und Jugend eines an seiner freien Entwicklung gehinderten sensiblen Außenseiters auf dem Lande in einfachem klarem Erzählstil. Zum Glück nicht ganz so schwarz, wie manches aus der Zeit, sehr angenehm zu lesen, auch, wenn man müde ist.

    Alles andere ist zwar unglaublich interessant aber an sich wird nur an der Oberfläche gekratzt, nichts wird gedanklich oder beschreibend zu Ende geführt.
    Das größte Problem ist meiner Meinung nach die angenommene Existenz von Gott, denn auch Ford ist Gottersatz und damit stellt sich Huxley sozusagen selbst ein Bein. Gott ist ein Konstrukt, um unter anderem dem Leben (vermeintlichen) Sinn zu geben, Unerklärliches zu erklären und um mit der Angst vor dem Tod umzugehen. Dies alles ist in Huxleys Welt nicht existent, also ist die Existenz eines höheren Wesens absurd. Auch die völlig übertriebenen religiösen Handlungen der Wilden, insbesondere von John (zum Beispiel dessen Selbstgeißelung) ergibt überhaupt keinen Sinn. Er will büßen - für was denn? Warum beschimpft er geifernd Lenina und tötet (?) sie? Weil sie promisk ist und ihn haben will? Na und? Er müsste doch erkennen, so wie er vieles andere erkennt, dass sie nicht anders kann. Lindas Tod ist ebenfalls inkonsequent.

    [...]

    Der Schluss, der daraus gezogen wird (Eisbergstruktur der Intelligenzgrade) stellt im Grunde übertrieben das dar, was heute keiner mehr wahrhaben will, aber schon immer Realität ist, der man Rechnung tragen muss.
    Der Wert des Romans liegt für mich in dem Denkanstoß, sich zu fragen, ob es sich um eine Utopie oder Dystopie handelt.

    Du übersiehst, dass neben den dystopischen Elementen die der Satire den Roman dominieren. Sämtliche Figuren sind Zerrbilder der damaligen Realität, ebenso wie die angenommene Entwicklung der Gesellschaft eine Vergrößerung sich anbahnender Mißverhältnisse darstellt. Weder der Wilde noch Lenina sind Figuren, mit denen man sich identifizieren soll, letztlich gibt es nichts, womit man sich identifizieren kann, des Wilden Gegenentwurf zur geistlosen Lustbefriedigung ist genauso geistesgestört wie die dominierende Gesellschaft, alles ist tragisch und lächerlich. Wie man auf die Idee kommen kann, in dem Roman statt einer Dystopie eine Utopie zu sehen, ist mir etwas schleierhaft, Monds Position ist doch radikal zynisch.

    Kürzlich las ich einen Roman, der das Zerbrechen einer bürgerlichen Familie zur Zeit des ersten Weltkriegs zum Inhalt hat, Bernard von Brentanos Theodor Chindler (1936). Während mich vor allem die von mir so empfundene bitterböse Härte des Erzählers gegenüber seinen Geschöpfen entzückte und der damit verbundene trockene Humor, sind für dieses Thema hier wohl vor allem die politischen Aspekte (die Hauptfigur ist katholischer Reichstagsabgeordneter, seine Tochter mit einem Revolutionär verbandelt, die Söhne mehr oder weniger stramme Soldaten) und die Folgen des Kriegsdienstes (Fremdgehen, Verwundung) von Interesse. Dass Brentano in Lexika so gerne übergangen wird, kann ich nicht nachvollziehen, ich habe den Band als sehr stark empfunden.

    Ich habe vor ein paar Jahren mehrere zeitnahe Bewältigungen gelesen:


    1916 Fritz von Unruh: Opfergang - expressionistisch verzerrt

    1916 Walter Flex: Der Wanderer zwischen beiden Welten - sehr christlich, mit dem Glauben ringend

    1920 Ernst Jünger: In Stahlgewittern - sachlich, heroisch

    1926 Johannes R. Becher: Levisite - spätexpressionistisch(?) mit Fokus auf Giftgas und Revolution(?)

    1928 Ludwig Renn: Krieg - sachlich, unheroisch, aus der Perspektive des Verantwortungsvollen

    1929 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues - sachlich, mit Betonung der Sinnlosigkeit


    Den Jünger habe ich dann kürzlich nochmal gelesen - zuerst hat mich der Heroismus trotz drastischem Gräuelrealismus abgestoßen, nun wollte ich als Leser dem Text besser gerecht werden, und die Sinnstiftung als Leistung anerkennen, obwohl sie mir fremt bleibt. Wahrscheinlich ist es der beste Text der 6 und auch geschichtlich der interessanteste, da man den Weg zum nächsten Weltkrieg besser verstehen wird: Im Krieg wurde ein neuer Menschentyp geboren, der dann sozusagen an die Herrschaft drängt.


    Das ständige Bemühen, ausgerechnet christlichen Sinn in der Schlächterei zu finden, hat mich bei Flex ziemlich genervt, den sollte ich auch nochmal lesen. Schließlich sollte Lektüre besonders interessant sein, wenn sie nicht die eigenen Gewohnheiten abbildet, oder?


    Die übrigen sind Antikriegstexte, wobei ich an den Becher kaum Erinnerungen habe. Renn ist weniger "modisch" neusachlich als Remarque und beschäftigt sich mehr mit den positiven Regungen des verantwortungsbewußten Vorgesetzten.


    Wie das damalige Frontleben (oder -sterben) funktionierte ist stets faszinierend (der historisch reale Horror liegt mir mehr als der fiktive) aber die unterschieldichen Arten, damit umzugehen, sind vielleicht noch interessanter.