Beiträge von besserwisser


    Ich fand gerade einen schönen Artikel über das Erinnern und eine längere literarische Kritik zur gehäuteten Zwiebel. Hoffentlich schwenkt die Debatte bald etwas mehr auf das Literarische des Buches ein, denn sonst bleibt alles bei Schlagabtäuschen zwischen Befürwortern und Gegnern des Menschen Grass und geht das Künstlerische völlig unter. Das wäre ein Verlust. FA


    Entschuldigung, wenn ich mich besserwisserisch melde, aber ums Künstlerische ging's bei der Debatte, die ja nun hoffentlich vorbei ist, wirklich nicht. Natürlich ging's um den Menschen Grass, um den ach so andauernd und unentwegt öffentlichen Menschen Grass.
    Und ich finde, für den ist das Ganze ja nun höchst peinlich.
    Peinlich nicht, weil er bei der Wehrmacht, bei der Waffen-SS war oder weil er als ganz junger Mann das Dritte Reich gut gefunden hat. Das wäre nicht mehr als eine Fußnote in seiner Biographie, und so wird es in allen Beiträgen, die ich gelesen habe, auch gesehen. Es mag aber sein, dass ich Attacken dieser Art nicht mitbekommen habe.
    Peinlich ist aber jedenfalls, dass ausgerechnet Grass selber es anscheinend als großen Makel sieht - warum hätte er sonst so lange geschwiegen? - und gleichzeitig vermeintliche oder wirkliche Gegner attackiert, denen er unterstellt, ihm das vorzuwerfen, dessen er sich selbst so öffentlich schämt. (Gesteh ich's nebenbei: von seiner Urteils- und Kritikfähigkeit habe ich nie viel gehalten.)


    Peinlich natürlich auch, dass das späte Geständnis von einem kommt, der sich jahrzehntelang als Praeceptor Germaniae, als moralische Instanz in so ziemlich allem, was aufs Tapet kam , gefühlt und geriert hat. Von einem, der gerade jetzt wieder die 'verlogene' Adenauer-Ära als fast schlimmer als die Nazi-Zeit empfindet. Gleichgültig ob sein Vorwurf stimmt, so kann er doch nur sich darauf richten, dass in den Nachkriegsjahren nicht wenige ihre Vergangenheit verschwiegen und verdrängt hatten. Und nun zu hören, dass der unerbittliche Richter Grass selber 60 Jahre geschwiegen hat - nein, frei von Peinlichkeit ist das nicht.


    Aber so richtig peinlich wird's für mich, weil ich unabweisbar empfinde, dass sich die Seelenqual des Günter Grass ('das musste raus') gerade zu einem Zeitpunkt nicht mehr beruhigen ließ, da seine Autobiographie zur Auslieferung bereit lag. Da musste er Interviews hier und Interviews da geben. Und peinlicherweise muss er nun zusehen, wie sein Buch sich richtig gut verkauft.
    Ich weiß, das klingt hart. Und so hat's mich denn auch ein wenig gewundert, als ich meinen ersten bösen Verdacht ausgerechnet in der 'Zeit' auf der ersten Seite wiederfand. In der 'Zeit', die Grass immer zu Wort kommen ließ, auch auf der ersten Seite, wenn der wieder etwas zu sagen hatte. Was ja nicht selten war. In eben dieser 'Zeit' las ich etwas später auch, dass unter den Leuten, die ein Vorab-Exemplar der Grass'schen Autobiographie bekommen hatten, kaum einer war, der auch nur bemerkt hätte, welch brisante Enthüllung diese Buch bringt. Zwei Seiten sollen's sein, höre ich. Und fast alle lasen drüber weg. Grass bei der Waffen-SS? Wer in Deutschland hätte da sofort gesagt: 'Aber das hat er 60 Jahre nicht gesagt'. Wem wäre das aufgefallen? Aber Grass und nicht auffallen? Nein, das ging nicht, da musste schon öffentlich nachgelegt werden. Denn wenn es eine Konstante im Leben des Nobelpreisträgers gibt, dann ist es sein Drängen in die Öffentlichkeit. Dagegen ist prinzipiell ja nicht viel zu sagen - höchstens sei angemerkt, dass Grass nicht nur allezeit präsent war und gehört wurde, sondern dass er sich bei aller Beachtung, die er stets fand, auch noch in der Rolle des Mundtot-Gemachten gefiel. Aber nun in diesem Fall: öffentliche Scham, die zumindest nicht ganz frei ist von Reklame - wirklich richtig peinlich.


    (Tja, das Literarische blieb wieder außen vor. Ein persönlicher Satz: Grass ist für mich ein mittelmäßiger Schriftsteller, wenn auch besser als Böll und zehnmal so gut wie Frau Jelinek - um im Kreis der Nobelpreisträger zu bleiben.)

    Zitat von "manes"

    Das ist es doch gerade, Céleste: Fontane will die (wie du es nennst) "hohlen" Leute ohne Charakter darstellen. Und das geht nun mal am besten mit der Darstellung von "hohlen" Leuten ohne Charakter :zwinker:



    Schön, ich riskier’s mal und melde mich nach einiger Zeit des Lesens und Lauerns im Hintergrund erstmals und ungebeten hier zu Wort, auf die Gefahr hin, meinem selbstgewählten nickname gleich Ehre zu machen.


    Aber es tut mir weh zu lesen, dass ‘Effi Briest’ von ‘hohlen’ Menschen handle. Auch dann, wenn Fontane dafür gelobt wird, wie gut er diese ‘hohlen’ Menschen entlarvt habe.


    Es ist ja vielleicht wirklich die Frage, ob man ‘Effi Briest’ in der Schule lesen soll. Ob der Roman trotz Ehebruch und Pistolenduell nicht zu leise, zu diskret, zu vielschichtig und subtil ist für Schüler, die an ganz andre Lese- und Fernsehkost gewöhnt sind. Aber dann dürfte man kaum was Klassisches als Schullektüre wählen. Auf jeden Fall kann auch ein guter Lehrer nur einzelne Aspekte rüberbringen.


    Trotzdem, Celeste: Was habt ihr für einen Lehrer, der es nicht hinkriegt, euch spüren zu lassen, dass Fontanes Figuren bestimmt nicht ‘hohl’ sind? Mit ‘hohl’ meinst du ja: zu dumm, zu borniert, um aus gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen, insbesondere aus dem Ehrenkodex bestimmter preußischer Schichten, aus der für uns lachhaften Vorstellung, nur ein Duell könne die gekränkte Gattenehre wieder herstellen (‘ein Götzendienst’ für Fontane). Stimmt, kaum einer schafft das im Roman. Aber Fontanes Figuren sind keineswegs die üblichen Klischees von sturen Preußenköpfen, keine Karikaturen, nicht eindimensional, sondern ‘volle’ Menschen, komplexe Menschen mit ihren Widersprüchen, ihren guten und schlechten Seiten, mal sympathisch, häufig auch weniger sympathisch. Vor allem aber wissen sie oft selbst, wie fragwürdig ihr Verhalten ist. Gerade Innstetten, Effis Mann, der nach heutigen Begriffen so ziemlich alles falsch macht, ist kein strammer Preuße. Fontane hat ihn viel subtiler angelegt. Innstetten hat viel Unsympathisches an sich, aber er ist bestimmt kein Dummkopf. Im Gespräch mit Wüllersdorf ist er imstande, sich sehr differenzierte Gedanken zu machen und sogar das gesellschaftlich Bedingte, das Zeitabhängige des preußischen Ehrenkodex zu sehen. Dass er dennoch nicht dagegen ankommt, führt genau zu einem zentralen Thema des Romans.


    Denn es geht ja um den preußischen Ehrenkult nur als aktuelles Beispiel aus Fontanes Zeit für die ewige Frage nach dem Verhältnis zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichen Konventionen mit ihren Zwängen. Dass es Fontane gelingt, dieses abstrakte Problem (fast) ohne Theoretisieren in Handlung und Charaktere umzusetzen, macht ‘Effi Briest’ zu einem der großen Romane im klassischen Sinne. Und ich denke, Fontane wollte eines ganz sicher nicht: dass ein Leser sich überlegen fühlt und die Figuren als ‘hohl’ verachtet. Besser wäre die Frage ‘Wie würde ich mich in entsprechender Situation verhalten? Hätte ich die Kraft, die Fontanes Figuren nicht haben? Denn Fontane weiß einerseits, dass keine Gesellschaft ohne Konventionen auskommt (‘Hilfskonstruktionen’ heißt das bei ihm). Er weiß auch, welche Opfer es kostet, sich gegen die Norm zu verhalten. Aber er lässt auch keinen Zweifel daran, dass nicht grundsätzlich und immerzu, aber in bestimmten Situationen, menschliche Größe darin besteht, gesellschaftliche Regeln nicht zu beachten. Wozu auch gehört zu erkenen, wann eine solche Situation gegeben ist. Diese Größe fehlt Innstetten. Das macht ihn nicht unbedingt verachtenswert, aber höchst durchschnittlich. Denn wie lässt Fontane den alten Briest auf der allerletzten Seite eine Art Fazit ziehen, angesichts von Rollo, dem Hund, der nach dem Tod von Effi nicht mehr frisst: “Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht soviel mit uns, wie wir glauben....” Mit uns Menschen nämlich und all unsrer Kultur. Ja, Fontane war kein gemütlicher alter Herr. Und nebenbei: Ich hoffe, es ist von daher verständlich, dass kein strahlender Held im Mittelpunkt steht, sondern normale Menschen, nicht ‘hohl’, aber so schwach wie, sagen wir, 99% von uns.


    Ich denke nun, wenn ‘Effi Briest’ überhaupt einen Sinn macht als Schullektüre, dann nur, wenn man drüber nachdenkt, ob man selbst heute solche Situationen erkennen würde und wie man sich verhalten würde.


    Ich kenne dich zwar nicht, Celeste, aber vielleicht passt mein Beispiel für dich: Wie würdest du reagieren, wenn sich von einem guten Bekannten, einem Freund vielleicht, plötzlich heraustellen würde, dass er heimlich aktiv in rechten Kreisen ist? Wäre das Persönliche, die Freundschaft stärker als das gesellschaftlich Erwartete?


    Oder, als Hinweis auf Fontanes Aktualität, denkt doch mal an den Frankfurter Polizeimann, der dem gefassten Entführer mit Gewalt drohen ließ, um das Versteck des Opfers zu erfahren. Nach allem, was zu hören war, verstieß der Polizeichef bewusst gegen Regeln und Gesetze. Ich glaube, Fontane hätte ihm zugestimmt. Aber der Streit geht genau darum: War das eine solche ‘Situation’? Eben, hundert Jahre später entscheidet sich sowas leichter. Und dann ist es leicht, Menschen für ‘hohl’ zu halten.


    Ja, ja, ich weiß...klingt alles mächtig besserwisserisch. ;-)