Liebe Fontane-Freunde,
Es heißt jetzt, mehr als ein Jahrhundert zurückzugehen und das Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Augen Fontanes zu betrachten.
Bei der Lektüre Fontanes ist es m.E. ebenfalls wichtig, dass man ein Gefühl für die Wertvorstellungen dieser Zeit erhält, also sprich ein Gefühl für die "Sittenmoral" und eine dynastische "Familienehre" altgedienter Häuser. Dadurch kann man die Andeutungen und Anstößigkeiten dieses Buchs besser erahnen. Wenn beispielsweise eine junge Witwe namens Pittelkow mit einem 10-jährigen Mädchen vorgeführt wird, dann kann man schon erahnen, dass diese irgendwo im Gespräch ist.
Umgang mit Lärm und Stille
In "Stine" besuchen wir das Berlin der Gründerzeit, nach dem Krieg mit Frankreich 1870/71, der einen der Haupthelden seine Gesundheit kostete. In dieser Gegend um Invalidenstraße und Chausseestraße in Berlin-Mitte wohnen die Heldinnen des Romans oder der Erzählung. Da fahren klingelnde Pferdebahnen, aber es wird insgesamt immer leiser und stiller, eine Eigenart des alternden Fontane, auf die ich durch Seilers Buch aufmerksam gemacht wurde. Aber richtig, es sollen hier keine Deutungen vorweggenommen werden.
Der Lärm, das Rauschen der Großstadt verschwinden immer mehr, und wir können den Gesprächen der handelnden Personen, ungestört durch Hintergrundgeräusche, zuhören.
Die Wechselwirkung von Lärm und Stille lässt sich als erzähltechnischer Eingriff auffassen. Was man als rein auditiven Effekt wahrnehmen kann, lässt sich auch synästhetisch visuell begreifen. Die Wirkung von Beschleunigung entsteht dadurch, dass das breite Panorama des Handlungsschauplatzes mit aller Ausführlichkeit dargestellt wird. Zu Beginn der Erzählwerke Fontanas tritt häufig der "zoom-Effekt" ein, der sich schon als Vorwegnahme der filmischen Darstellens deuten lässt. Aus dem Panorama des Berliner Ambientes wird ein Ausschnitt aufgezeigt, in diessem Fall das Haus der Pittelkow. Auch in anderen Romanen Fontanes haben wir diesen erzählerischen Eingriff. Man denke nur an die Vorstellung des Hauses Hohen Kremmen in Effi Friest, für dessen Beschreibung sich die Erzählinstanz viel Zeit nimmt. Die genauen Details dienen dazu, einen Gegensatz zwischen dem Beständigen und dem einmaligen Ereignis aufzustellen.
Der "unerhörten" Handlung stellt Fontane das Panorama entgegen, was bleibt. In dem Roman, wie auch allen anderen, ist es nicht nur das preußische Lokalkolorit, sondern auch das Gerede. Der erste Redebeitrag stammt von einem "alten Lierschen", die sich über das Fenster-Putzen ihrer Nachbarin mokiert und somit die zentrale Nebenfigur, die Witwe Pittelkow, einführt. Auch am Ende des Romans erscheinen die Sozialgeräusche aus dem Mund der am Türrahmen lauschenden Polzins, die am Ende den hämischen Satz "Das wird nicht wieder" äußert. Denn gerade das "Gerede" ist die zentrale Macht in den Romanen Fontanes, gegen das die Figuren permanent ankämpfen.
Liebe Grüße