Wo ist die Poesie ?

  • Hallo zusammen,
    Hallo Hubert


    "Tauben im Gras" - *an_die_Stirn_klatscht*
    Ich kanns' nicht fassen, daß ich nicht darauf gekommen bin. Solange ist es ja nun wirklich nicht her als ich das Buch las.


    Gruß Maria :schneemann:

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • hier noch, -analog zum kafka-muschg-vergleich-, spontan einige weitere beispiele für mehr (?) oder weniger (?) "schöne" sprache? (textanfänge zeitgenössischer oder moderner autoren):
    1- Im juli fuhr mein vater alljährlich ins bad und gab mich samt der mutter und den älteren brüdern den weißglühenden und betäubenden sommertagen preis. Wir blätterten, verrückt von licht, in dem großen ferienbuch, dessen blätter sämtlich vor hitze brannten und auf ihrem grund den bis zur ohnmacht süßen matsch goldener birnen hatten.
    Adela kehrte im leuchtenden glanz des morgens zurück wie pomona aus dem feuer des glutentbrannten tages und schüttete aus dem körbchen die bunte schönheit der sonne - funkelnde kirschen, voller saft unter der durchsichtigen haut, geheimnissvolle schwarze weichseln, deren duft alles übertraf, was ihr geschmack erfüllte; morellen, in derem goldenem matsch das mark langer mittage war; und außer dieser reinen poesie des obstes lud sie vor kraft und nährwert strotzende fleischlappen mit der klaviatur von kälberrippen aus, gemüsealgen wie erschlagene kopffüßler und medusen - das rohmaterial des mittagessens, noch ungeformten und schalen geschmacks, vegetative und tellurische zutaten des mittagessens von wildem feldgeruch.


    2- An jenem lichthellen februarmorgen, als beatriz viterbo starb, nach einem herrscherhaft durchgestandenem todeskampf, der nicht einen augenblick in sentimentalitäten oder angst abglitt, fiel mir auf, daß die eisenschilder an der plaza constitucion mit einer neuen reklame für iregendeine blonde zigarettenmarke aufwarteten; die entdeckung tat mir weh, denn sie ließ mich fühlen, daß die rastlose und weiträumige welt sich bereits anschickte, von ihr fortzugehen, und daß diese neuerung die erste einer endlosen serie war.


    3- Lieber freund, jetzt in den staubigen zeitlosen stunden der stadt, wo die straßen schwarz daliegen und im kielwasser der sprengwagen dampfen, jetzt, wo die betrunkenen und obdachtlosen in den gassen oder auf verlassenen grundstücken im schutz der mauern gestrandet sind und katzen hochschultrig und mager durch trostloses gelände streunen, jetzt inmitten dieser rußschwarzen ziegel und kopfsteinigen durchgänge, wo die schatten der leitungsdrähte die kellertüren in schauerliche harfen verwandeln, wird keine seele gehen außer dir


    4- Während der kürzesten, verschlafensten wintertage, auf beiden seiten -vom morgen bis zum abend- in die pelzränder der dämmerung gehüllt, da sich die stadt immer tiefer in die labyrinthe der winternächte verzweigte, die mit mühe von einem kurzen schein zur besinnung und umkehr gerufen wurden, war mein vater schon jener sphäre verfallen, verkauft und verschworen


    5- Jeder weiß, daß während einer reihe außergewöhnlicher, normaler sommer die absonderlich gewordene zeit manchmal aus ihrem schoß andere sommer, merkwürdige sommer, entartete sommer gebiert, denen mitunter -wie ein sechster kleiner finger an der hand- ein dreizehnter, falscher monat wächst


    6- Schon damals fiel unsere stadt immer schneller dem chronischen grau der abenddämmerung anheim und überwucherte an den rändern mit flechten des schattens, quellendem schimmel und eisenfarbenem moos.
    Kaum aus den bräunlichen rauchschwaden und nebeldünsten des morgens geschält, neigte sich der tag schon einem niedrigen, bernsteinfarbigen mittag zu, wurde nach einem weilchen durchsichtig und golden wie dunkles bier, um darauf in die vielfältig gegliederten, phantastischen gewölbe bunter und ausladener nächte hinabzusteigen


    7- Die gelben, langweiligen wintertage waren gekommen. Die kupferfarbene erde bedeckte eine durchlöcherte, zu kurz geratene tischdecke aus schnee. Auf vielen dächern reichte sie nicht aus, und so blieben schwarze und rostige schindeldächer und schwibbögen über, die verrußte bodenkammern in sich bargen: schwarze, verkohlte kathedralen, die rippen ihrer sparren, querbalken und riegel gesträubt - die dunklen lungen der winterstürme. Jedes morgengrauen entdeckte neue schornsteige und dachluken, in der nacht geboren und vom nachtwind aufgezogen: schwarze pfeifen einer teufelsorgel


    8- Ich nenne es einfach das buch, ohne weitere bezeichnung und ephita, und es ist in dieser enthaltsamkeit und beschränkung ein ratloses seufzen, eine stille kapitulation vor der unermeßlichkeit des transzedenten, da kein wort, keine anspielung so funkeln, duften oder gar mit dem schauer der angst, dem vorgefühl dieses namenlosen dinges verschmelzen kann, dessen erster geschmack auf der zungenspitze schon das fassungsvermögen unseres erzückens überschreitet
    gruß hafis

  • oops, ein zitierfehler:
    5- muß natürlich heißen: "...während einer reihe GEWÖHNLICHER , normaler sommer..."

  • Hallo hafis,
    hallo zusammen !


    Deine Textanfänge habe ich mit Interesse gelesen. Ob sie Poesie sind oder was Poesie überhaupt ausmacht - ich kann das auf keinen Fall beurteilen oder beschreiben. Ich kann nur sagen, ob die Texte mich berühren, ob sie etwas anrühren, ob sie Interesse am weiterlesen wecken:


    zu 1: Das ist mir eindeutig zuviel Obst :zwinker: - schöne Bilder, die in mir eine gewisse süße Klebrigkeit entstehen lassen, zuviel für meinen Geschmack


    zu 2: gefällt mir, die Bilder des Todes mit der vergänglichen Welt draußen - schön; (Antunes ?)


    zu 3: macht auf jeden Fall neugierig, wobei ich persönlich die Bilder als etwas zu realistisch empfinde


    zu 4: würde ich auf jeden Fall weiterlesen


    zu 5: damit kann ich nichts anfangen - weckt eher Unverständnis als Poesie


    zu 6: obwohl ich zu Bier eher eine negative Grundhaltung habe - die Metaphern Natur mit den geschilderten gelben Farben, dazu das Grau als Gegensatz - schön !


    zu 7: ist mir auch zu realistisch geschildert, die Bilder wecken nichts in mir


    zu 8: ja, so ähnlich gehts mir manchmal auch mit besonderen Büchern


    Ich bin ja schon gespannt auf deine Auflösung !


    Gruß von Steffi

  • die ursprüngliche frage war ja, welche werke reicher an poesie sind. Unter poesie verstehe ich eine sprache, die sich selbstzweck ist, und nicht nur medium zum erzählen einer geschichte ist.
    Zu den weniger "poetischen" autoren würde ich kafka und den autor von 2-, nämlich jorge louis borges ("das aleph") zählen.
    Da ich noch ziemlich unbelesen bin, fielen mir spontan zur gruppe der autoren mit einer poetischeren sprache nur 2 ein:
    3- ist cormac McCarthy -verlorene-, und der pole bruno schulz, aus dessen band mit erzählungen, "die zimtläden", der rest stammt (1- august, 4- die zimtläden, 5- die nacht der großen saison, 6-heimsuchung, 7- die vögel).
    Da ich bei ersterem nur den anfang gelsen habe, kann ich nicht sagen, ob diese sprache repräsentativ für das gesamte buch ist. Bei schulz kann ich dies bejahen. Ich kenne keinen anderen, der ein bildreichere, visionärere und phantastischere sprache hat. Wilpert hier ganz zutreffend: "autobiographische erinnerungen mit phantastiasch-absurden, magisch-pathologischen visionen, barocke bilder- und farbenflut, wortmalerei u. melodische sprache". Nur die angebliche beeinflussung von kafka wird von anderen relativiert: dieser band erschien, bevor schulz kafka las und ins polnische übersetzte. Aber es gibt biographische und inhaltliche parallelen zu kafka. Die visionen bei schulz sind aber phantastischer. Auch kommt der alles überwuchernden, überbordenen natur (kindler) eine besondere rolle zu. Die beschreibung des korbinhalts in 1- ist der beginn einer unglaublich dichten, fast schon orgiastischen zeichnung der pflanzen, tiere und luft an einem sommertag ("zu viele früchte" hier zu sehen, war also die absicht des autors und reflektiert die stellung der natur zum menschen hier).
    Eine rezension sah dieses buch die "verlorene sache der poesie" verteidigen.
    Das nachwort sieht "üppigkeit u. ungestüm" der sprache und "dichterische überwirklichkeit" dargestellt. Hallo steffie-, du schreibst, die schilderung sei zu realistisch. Hier würde ich widersprechen und sagen, kafka und borges sind viel realistischer, weil präziser und nüchtern ohne jede "schnörkel".
    Die dachböden als lungen bzw. als orgeln gehen in meiner meinung schon über einen realismus hinaus, vielleicht im sinne des obigen überrealismus.
    "Ihm dient das wort nicht nur zur bezeichnung gewisser zustände und gegenstände, sondern es hat für ihn einen autonomen wert als schmuck, musikalischer refrain und als ornament".
    Francois bondy zählt ihn zur generation der phantastischen realismus, "der dichterischen erneuerung der prosa aus intellektuell-visionärer kraft und grotesken humor". Ich glaube, hier wurde auf robert walser hingewiesen: Bondy sieht eine "verwandschaft mit einem dichter, der gleichfalls expressionismus ohne pathos, wuchernde phantastik der wortberauschtheit mit demut, liebe zum kleinen, geringen verband -robert walser".
    gruß hafis

  • Hallo hafis,


    danke für die links - ich habe mir eigentlich über Poesie noch nie Gedanken gemacht und während dieses threads ist mir auch kein Schriftsteller eingefallen, den ich wirklich als poetisch bezeichnen würde. Deine Definition
    Unter poesie verstehe ich eine sprache, die sich selbstzweck ist, und nicht nur medium zum erzählen einer geschichte ist. finde ich sehr treffend.


    Ich habe nun richtig Lust bekommen, "Die Zimtläden" von Bruno Schulz zu lesen. Ich stelle immer wieder fest, wie klein meine Kenntnis von wirklich interessanten Autoren ist :zwinker:


    Gruß von Steffi

  • Hi Parsival


    Zitat

    viele gute Bücher, mit unglaublichen Denkansätzen, Plot und herrausgearbeiteten Charakteren, aber was ich immer vermisse ist die Poesie


    Versuchs mal mit Gedichten. Die sind oft voller Poesie.


    Gruß


    Der Poet

  • Hallo Parzival.


    Wenn du wirklich poetische Prosa suchst, solltest du vielleicht mal NOVALIS lesen. Zum Beispiel Heinrich von Ofterdingen. Das ist sehhr schön...


    Ja oder auch Hölderlin. Mit dem nach mir benannten Text. :zwinker:
    Bis denn
    Hyperion

    John fragt ihn: "Did you come?"
    <br />&quot;No&quot;, antwortet der Alte.
    <br />John fragt ihn: &quot;Did she come?&quot;...