Musil - MoE 1, 116 - 123, MoE 2, 1 - 15

  • Ich muss vorher einräumen, dass ich gerade stark erkältet bin und die hier dargestellten Kapitel halb gelesen, halb geträumt habe. Schon vorher habe ich sicher vieles nicht richtig oder nicht tief genug begriffen, jetzt wird das noch stärker der Fall sein.


    Kapitel 116: Nach einer weiteren Sitzung zur Parallelaktion mit insgesamt immer weiter bröckelnder Beteiligung stehen am späteren Abend Diotima, der gerade heimgekehrte Tuzzi und der erst jetzt aufgetauchte Graf Leinsdorf sowie Arnheim, General Stumm und Ulrich zusammen. Leinsdorf ist unzufrieden mit den ausbleibenden Ergebnissen der Beratung und spürt die Auflösungserscheinungen. Der General macht einen militärischen Vorschlag der Aufrüstung von Forts an der südtirolischen Grenze und wird dabei von Tuzzi unterstützt, der die Zustimmung seines Hauses, des Auswärtigen Amtes signalisiert. Das Ganze wird aber von den beiden selbst auf eine Ebene der Lächerlichkeit gehoben, die das Unvermögen der Abstimmung der verschiedenen Ressorts betrifft. Diotima beendet das Geplänkel, indem sie darauf hinweist, dass Österreich dann dem Vorbild des sich aufrüstenden Deutschlands folgen würde, welches die europäischen Nachbarn mit großem Argwohn beäugten.

    Nun geht es eine Weile um Deutschlands Weg und den Grund dafür. Arnheim führt Deutschlands Großmannssucht auf seine Lage in Mitteleuropa und die damit starke Beobachtung durch die Nachbarn zurück, die über alles lästern und herziehen würden. Ulrich erinnert daran, dass es auch in Österreich eine starke deutschnationale Bewegung gebe und diese auch Demonstrationen gegen die Parallelaktion plane, weil man darin das Deutsche vermisse. Tuzzi glaubt inzwischen, dass Arnheim eigentlich ein Agent der Russen sei und deshalb dauernd im Hause seiner Frau weile und drängt damit seine Eifersucht zurück.

    Dann wird es wieder kompliziert, weil Ulrichs Gedankenwelt referiert wird, diesmal im Symbol zweier Bäume sich ausdrückend. Der eine umfasst Tat, Struktur und Ratio, der andere die Seele, Vertrauen, Hingabe und Liebe, also Softskills, deren Ulrich schon in den vorherigen Kapiteln nicht Herr wurde und die auch hier wieder eher zerfasert als erhellt werden. Aus diesen Gedanken heraus fordert er plötzlich ein "Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele"

    als Ziel oder Mittel der Parallelaktion, um überhaupt mal festzustellen, wie ein innerer empathischer Zusammenhalt für die Menschen in dieser zerrissenen Zeit mit ihren immer neuen technischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und Herausforderungen und der damit einhergehenden tiefen Verunsicherung gefunden werden kann. Interessanterweise stimmt ihm Leinsdorf zu. Dennoch endet die Versammlung wieder ohne einen Hinweis auf ein tragfähiges Konzept.


    In Kapitel 117 begegnen wir wieder unserem Buffo-Paar Rachel und Soliman, zwischen denen es nun zu einer erotischen Begegnung kommt, angeheizt von der körperlichen Hitze Solimans und seinem Wunsch nach Vollzug des Aktes, von seiten Rachels eher durch ihre unbestimmte, aber anscheinend nicht erfüllbare Zuneigung zu Ulrich und dem dadurch verursachten körperlichen Verlangen. Nach der körperlichen Begegnung fühlen sich aber beide voneinander abgestoßen, Rachel noch mit der zusätzlichen Sorge vor einer Schwangerschaft und trennen sich erstmal voneinander.


    Eine äußerst merkwürdige Begegnung zwischen Walter und Clarisse bietet das 118. Kapitel. Walter, der eigentlich in die Stadt möchte, um eine Demonstration der Deutschnationalen gegen die Parallelaktion zu beobachten, lehnt es aus beschützerischen Gründen ab, dass Clarisse ihn dorthin begleitet. Clarisse, in ihrer Autonomie verletzt, greift zu einem Band Nietzsche (einem Hochzeitsgeschenk Ulrichs), legt eine Stelle für sich so aus, dass sie sich gegen Walters musikalischen Dilettantismus richtet und beleidigt ihn entsprechend. Walter steht kurz davor, sie auch körperlich anzugreifen, vielleicht zu vergewaltigen, aber nach einigen Eskalationsstufen bezüglich Walters Kinderwunsch und ihrer Ablehnung desselben und ihrem Vorwurf, er sei mittelmäßig, gerät Walter in eine träumerische Vision, sieht sich auf der Straße zwischen Menschen und denkt gleichzeitig über seine Vorliebe für Fische nach, die nur in ihrer Welt überlebensfähig sind und daher klarer sind als die Menschen und andere Lebewesen, die in mehreren Sphären zurechtkommen. Diese Vision ist wohl seine Form von Eskapismus angesichts der aggressiven Situation mit Clarisse und vermag ihn etwas zu beruhigen. Daher empfindet er zwar starken Schmerz, als Clarisse den Vorschlag macht, er solle Ulrich töten, weil er auf diesen eifersüchtig sei, aber seine Aggression zerfällt, indem er Clarisse Wahnsinn unterstellt, diese verlässt das Haus und die Situation löst sich auf.

  • Ulrich und die Frauen ... . In Kapitel 119 sucht ihn Gerda auf, vordergründig, um ihm eine wichtige Information ihres Vaters Leo Fischl über Arnheim zu übermitteln - dass dieser sich für den Erwerb galizischer Ölfelder interessiere (was auf dem Gebiet Österrreich-Ungarns liegt und einen ganz neuen Blick auf sein Engagement für Diotima und die Parallelaktion ermöglicht - in Wahrheit aber, um mit Ulrich eine erste Liebesbegegnung zu haben, denn sie ist in ihn verliebt, glaubt, dass er ihr gegenüber ähnlich empfindet und ist in einer erotisch überreizten Situation, da ihr Freund Hans sie zwar umarmt und küsst, den Vollzug jedoch mit Verweis auf die Reinheit ihrer Beziehung und der deutschen Jugend an sich ablehnt. Ulrich fühlt sich von Gerdas gelblicher Schärfe eher abgestoßen, aber - ganz im Rahmen des traditionellen Männerbildes, das Musil hier in seinen Helden projiziert - ist er allzeit bereit, sein Bestes zu tun, um eine ihn liebende Frau zu beglücken. Aber Gerdas Körper protestiert gegen ihr Vorhaben, sie bekommt einen hysterischen Anfall und flieht unverrichteter Dinge nach Hause.

    Immer mehr bekomme ich hier den Eindruck, dass die ganzen gescheiterten Affairen Ulrichs, auch sein emotionales Unerfülltsein und seine Orientierungslosigkeit uns wohl im nächsten Buch zu einer Begegnung führen sollen, die eine neue Perspektive aufzeigt.

    Währenddessen ist Walter nach der spannungsgeladenen Begegnung mit seiner Frau aufgebrochen, um sich in Kapitel 120 den Protest gegen die Parallelaktion anzusehen. Das Phänomen der Massenhysterie und des sich Aufgehobenfühlens in der Masse wird in diesem Kapitel thematisiert. Der Protestmarsch führt zu Graf Leinsdorfs Amtssitz, wohin sich Ulrich begeben, nachdem ihn Gerda verlassen hat. Er beobachtet nun die Protestierenden von der Warte des Adressaten aus und kann auch in dieser Rolle am Fenster stehend seinen Spott nicht verbergen, was ihm umso wütendere Drohungen einbringt, denn die Demonstranten halten ihn für Leinsdorf. Dieser dagegen verliert nicht die Contenance und bleibt dabei, dass es den Deutschnationalen am besten geht, wenn die anderen Nationalitäten in Kakanien mithilfe von Zugeständnissen ruhig gehalten werden.

  • Endlich kommen Arnheim und Ulrich in ein längeres klärendes Gespräch, das im Heim der abwesenden Diotima nach der Demonstration stattfindet (Kapitel 121). Arnheim erklärt ihm, dass das Prinzip der kapitalistischen, auf Verwaltungsstrukturen beruhenden Gesellschaft so wäre, dass die Auftraggeber auch der größten Grausamkeiten im Hintergrund blieben und die Ausführenden sich damit beruhigen könnten, dass sie ja eben nur Befehle befolgen (Den Höhepunkt dieser Entwicklung haben wir ja dann im Nationalsozialismus gesehen). Dadurch sei die Moral aus der Welt geraten, was zwar schade, aber irgendwie auch großartig sei. Ulrich bemühe sich nun, diese Leere zu füllen und dem Menschen sein eigenes Gewissen und seine eigene Entscheidungsfähigkeit zurückzugeben, das ahne Arnheim hinter den oft widersprüchlichen und oft heillos überzogenen Ausführungen seines Gesprächspartners. Deshalb wolle er ihn an seiner Seite wissen, weil er die Dinge gerade rücken würde. Er bietet ihm daher die Stelle seines Generalsekretärs an. Ulrich versucht Arnheim zu verunsichern und zu ehrlicher Stellungnahme zu bringen, indem er ihm zunächst seine unerfüllte Affaire mit Diotima vorwirft und dann seine Lüge, er sei an Diotima und der Parallelaktion interessiert, in Wahrheit gehe es ihm aber um die galizischen Ölfelder. Obwohl Arnheim deutliche physische Reaktionen zeigt, gelingt es ihm ruhig zu bleiben und Ulrich von den beiden Themen abzulenken. Aufgewühlt schwebt Ulrich am Ende des Gesprächs in dem Gefühl, möglicherweise einen Freund gefunden zu haben und andererseits in einer Vision, in der er Arnheim tötet.


    Auf dem Heimweg in Kapitel 122 bewegen Ulrich wieder die Gefühle des Uneinsseins, des sich im Strom einer Entscheidung, von der er noch nichts weiß, Befindens. Er denkt an ein Foto von sich als kleinem Jungen mit seiner Mutter zurück und kann keine Zärtlichkeit für sich in diesem Alter dabei fühlen, er fühlt sich einfach aus der Zeit gefallen, die epische Struktur des einen Schritts nach dem anderen ist ihm abhanden gekommen. Auch die Begegnung mit einer Prostituierten zeigt seine Ambivalenz. Er geht freundlich auf ihre Avancen ein und gibt ihr das Geld, das die erotische Dienstleistung gekostet hätte, ohne diese einzufordern. Andererseits erinnert er sich an Moosbrugger und dessen mörderische Begegnung mit einer Prostituierten und stellt sich das lebhaft vor. Überhaupt spielen in seinen Überlegungen und auch in dem Gespräch mit Arnheim der Teufel und seine Versuchungen als persönliche und gesellschaftliche Metapher eine große Rolle.


    Zuhause - Kapitel 123 - sieht er seine festlich beleuchtete Villa, und er denkt an Einbrecher, aber es ist die völlig überhitzte Clarisse, die ihn erwartet. Sie hat sich nun entschlossen, ein Kind von Ulrich zu empfangen, weil Walter nicht imstande ist, als Künstler etwas Großes zu leisten. Aber sie hat auch von seinem Diener ein Telegramm entgegengenommen, indem ihm in seines vom Vater wohl vorformulierten Worten mitgeteilt wird, dass dieser gestorben ist. Beide standen sich nicht nahe, dennoch fühlt sich Ulrich, als sei ihm plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Clarisse reagiert kalt und eher spöttisch auf die Nachricht des Todes und versucht Ulrich zum Zeugungsakt zu verführen. Dieser erkennt, dass sie in einem Anfall von Wahnsinn handelt und schickt sie nach Hause. Dann packt er seine Koffer, um zu den Liegenschaften seines Vaters zu reisen und dort alles zu organisieren. Er weiß, dass er längere Zeit von Wien wegbleiben wird und benachrichtigt entsprechend die davon zu unterrichtenden Personen.

    Damit endet der zweite Teil des ersten Buches.

  • Und nun habe ich mit dem zweiten Buch begonnen, das den Untertitel "Dritter Teil - Im Tausendjährigen Reich (Die Verbrecher)" trägt. Aus unserer Warte würde man vermuten, dass damit auf das Dritte Reich angespielt wird, aber laut Wiki hat der Titel etwas mit der Beziehung zwischen Ulrich und seiner Schwester zu tun, was sie daraus zu entwickeln hoffen und wie die Welt darauf reagiert.


    Das erste Kapitel bietet die Wiederbegegnung des mit dem Zug angereisten Ulrichs mit seiner Geburtsstadt, einer auf slawischen Siedlungsgebiet errichteten kolonial geprägten deutschen Exklave, die aber inzwischen im Wesentlichen anscheinend wieder von ihren ursprünglichen Einwohnern übernommen wurde. Ulrich hegt eher unangenehme Erinnerungen an diesen Ort, denn seine Schwester und er wurden nach dem frühen Tod ihrer Mutter getrennt und jeweils woanders erzogen und ausgebildet. Selten war Ulrich zu Hause, weil sein Vater unangepasstes Verhalten in den Erziehungseinrichtungen mit Aufenthaltsverbot zu Hause zu bestrafen pflegte. Auch seine Schwester hat er daher bisher kaum gesehen, das letzte Mal bei ihrer zweiten Hochzeit fünf Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes, der nur ein Jahr nach der Eheschließung verstarb. Am Bahnhof wird er vom alten Diener seines Vaters abgeholt und erfährt zu Hause, dass seine Schwester sich mit Migräne zurückgezogen habe. Diese wolle ihn aber in einer halben Stunde beim Tee begrüßen.


    Im zweiten Kapitel findet nun diese Begegnung statt. Beide haben einen legeren Hausanzug gewählt und lachen über die Ähnlichkeit ihres Outfits. Sehr bald teilt ihm die Schwester mit, sie hätte vor, sich von ihrem Mann - den Ulrich im Übrigen nicht leiden kann, da er ein überkorrekter Diener der Gegenwart und Zukunft ist - zu trennen. Dieser käme nur zur Beerdigung und dabei wolle sie ihm das mitteilen. Ulrich schwebt gegenüber seiner Schwester in einem Gefühl zwischen Neugier, Überforderung und Faszination der andersartigen Gleichheit, die beide miteinander verbinden. Sie gehen in die Kammer, in der der Vater aufgebahrt ist, aber beide haben keine zärtlichen Erinnerungen an diesen Mann, der ihnen gegenüber höchstens seine "Pflicht" getan hat.

    Das dritte Kapitel spielt am geschäftigen nächsten Morgen, an dem die Vorbereitungen für die Beerdigung und alle anderen Dinge, die mit dem Ableben einer in der Stadt bedeutenden Persönlichkeit verbunden sind. Ulrich sitzt im Arbeitszimmer seines Vaters und macht sich zwischen den Erledigungen seine Gedanken über die unterschiedliche Wahrnehmung der Welt durch die beiden Geschlechter, die die Männer bereits seit der Antike unterstellen. Dabei denkt er auch darüber nach, ob es nicht eine Symbiose zwischen beiden geben könnte, wohl eine Vorausdeutung auf das, was den Inhalt dieses Teils angeht.

  • Das Kapitel 4 bringt eine weitere ahnungsvolle Annäherung der Geschwister, die sich selbst im anderen erkennen und die Auseinandersetzung mit des Vaters letztem Feind, seinem ehemaligen Studienkollegen und Freund Schwung. Dieser kommt seinem Namen alle Ehre erweisend ins Trauerzimmer gestürmt mit der Absicht großmütig über den letzten Konflikt hinwegsehend -den er ja außerdem als Überlebender de facto gewonnen hat- und wird von Ulrich gebremst, der ihn auf den Konflikt hinweist und ihm eine Brief des Vaters übergibt, der nach seinem Tod an seinen Rivalen übergeben werden sollte und in dem er ihm im letzten Moment, eigentlich sogar erst posthum verzeiht. Schwung ist zunächst verblüfft und verärgert, macht sich aber dann wieder bewusst , dass er als Überlebender großmütig sein will und inszeniert den Schmerz des Verlustes eines Freundes.

    In Kapitel 5 erinnern sich die Geschwister an die verknöcherten und völlig empathielosen Erziehungsmethoden ihres Vaters, der sie schon in Kinderjahren dazu zwang, sich mit juristischen Spitzfindigkeiten moralischen Verhaltens auseinanderzusetzen. Agathe sagt, dass ihr jetziger Mann ganz genauso sei und zitiert aus dem Gedächtnis Phrasen der Pedanterie, die ihr Mann ihr hat angedeihen lassen. Ulrich ist verblüfft über ihr gutes Gedächtnis, aber sie ergänzt bescheiden, dass sie das Zitierte nicht verstehe, was sie aber zumindest vom Gefühl her sehr wohl tut. Der Vater wollte seine Orden, die dem Kaiserreich zurückgegeben werden müssen, erst im letzten Moment vor dem Schließen des Sargs gegen Kopien ausgetauscht wissen; die Geschwister machen es aber schon zwei Tage vorher, und Agathe steckt außerdem noch ihr Strumpfband in die Tasche des Vaters.

    Nun findet in Kapitel 6 endlich mit allem Pomp und unter Anteilnahme der Stadtbevölkerung der Trauerzug und die Beerdigung statt. Die Leiche war vorher noch in der Anatomie, weil der Vater seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hat, und Ulrich überlegt sich, wohin wohl die Ordenkopien und das Strumpfband seiner Schwester gelangt sind und was die Medizinstudenten wohl dazu meinten. Insgesamt ist er aber doch gegen seinen Willen überwältigt von der traditionellen Würde der Veranstaltung..

    Clarisses Brief an Ulrich ist Inhalt des 7. Kapitels und zeigt das Fortschreiten ihres Wahnsinns an. Sie schreibt ihm darüber, dass er beim letzten Treffen ein Feigling gewesen sei, sie sei aber von großer Stärke und nehme die Umwelt in einer Art Synästhesie von bildlichen und akustischen Eindrücken wahr. Sie wolle sich nun wieder mit Moosbrugger auseinandersetzen. Über ihren Bruder Siegmund, einen Arzt, bekommt sie einen Termin, der sie wenigstens zur Ansicht des Gefangenen Moosbrugger bringen soll.

  • Kapitel 8 zeigt die Geschwister in den späteren Tagen nach der Beerdigung. Sie haben sich im Alltag miteinander arrangiert und jeweils Ecken für sich im Herrenhaus eingerichtet. Ulrich hatte schon zu Beginn das Arbeitszimmer seines Vaters für sich annektiert und dort inzwischen ein mathematisches Problem, das er schon lange unbearbeitet liegen hatte, endlich erfolgreich zu Ende geführt. Agathe hat sich im kaum benutzten Salon eine gemütliche Ecke mit Ottomane, Teppich und großer Pflanze eingerichtet, die vom sachlichen Stil des emporstrebenden Bürgertums der Aufklärung deutlich absticht. Zum Schlafen benutzen sie weiterhin die karg ausgestatteten Kinderzimmer in der Mansarde. Ulrich befindet sich in Gedanken darüber, dass er nicht wieder zurückkehren will in die Welt der Wissenschaft, wenn ihm auch sein heutiger Erfolg beweist, dass er dafür die notwendige Begabung habe, die aber nicht so entscheidend ist, dass nicht andere Wissenschaftler, vielleicht ein wenig später, auch solche Probleme lösen könnten. Er beschreibt einmal wieder seinen eher distanzierten Blick auf die Welt, die Unmöglichkeit eines erfüllten indviduellen Lebens inmitten der Anforderungen der Epoche. Agathe kann momentan aber seine Ausführungen nur an ihren persönlichen Umständen, ihrer Ehe mit Hagauer konkretisieren. Durch das Miteinandersprechen und –leben macht sich in ihnen ein Gefühl von Familie breit


    Kapitel 9 bietet eine Rückblick auf Agathes Leben und beginnt mit ihrer Abreise zum Sterbehaus ihres Vaters, bei der ihr plötzlich klar wird, dass diese auch die endgültige Trennung von ihrem Mann einleitet. Es wird erzählt, dass sie als Grundschülerin eine schwere zehrende Krankheit hatte, deren kein Arzt Herr werden konnte. Erst nachdem sich eine Art Hexe illegal einen Tag in ihrem Elternhaus aufgehalten hatte, begann sie zu genesen. Diese Zeit der Krankheit erfüllte sie mit Stolz, weil sich ihr kleiner Körper, obwohl sie alle Weisungen der Ärzte gehorsam befolgte, dem Handeln der Großen entzog. So blieb sie auch weiterhin in der Schulzeit ein freundliches, aber innerlich unbeteiligtes Mädchen, das gerade deshalb die Zuneigung ihrer Mitschülerinnen erregte. Das Auswendiglernen fiel ihr leicht, ohne dass sie sich um den Sinn des zu Lernenden kümmerte. Distanziert ist sie auch gegenüber den von Männern gestalteten Regeln der Gesellschaft sowie der geschlechtlichen Anziehung und des Geschlechtslebens.

    „Agathe verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis missachtete, das sich das Nest vom Mann liefern lässt.“
    Sie ist überzeugt, zu etwas Besonderem ausersehen zu sein, lässt aber mittlerweile alles mit sich geschehen, ohne sich davon besonders berühren zu lassen. Sie begreift bald, dass ihr zweiter Mann, der Pädagoge Hagauer, zwar in den Augen der Gesellschaft gut handelt, aber kein gütiger Mensch ist. Sie hat daher Ulrich veranlasst, dafür zu sorgen, dass ihr Mann direkt nach der Beerdigung die Stadt wieder verließ, indem er behauptete, das Herrenhaus biete keine Übernachtungsmöglichkeit für ihn und einen teuren und unbequemen alternativen Hotelaufenthalt vorschlug. Hagauer reiste daraufhin beleidigt ab.


    Die Geschwister befinden sich in Kapitel 10 auf einem Ausflug zur „Schwedenschanze“ – einem Felsvorsprung, der einen weiten Blick ins Land ermöglicht. Agathe möchte von Ulrich wissen, wie sich seine Thesen konkret zum Beispiel auf ihr Leben anwenden lassen, aber der Bruder bleibt im Allgemeinen. Die Schwester spricht plötzlich davon, am liebsten Hagauer umzubringen und meint eine Entschuldigung darin zu finden, dass Ulrich immer von der Moralität des nächsten Schritts, also nach dem Verbrechen, redet und außerdem dem gesellschaftlichen Handeln eine über den Nutzen hinaus gehende Moralität abspricht. Sie führen dieses Gespräch in einem Hirtenhäuschen, und das Bewohnerpaar hört ihnen mit Interesse zu, ohne zu verstehen, worum es eigentlich geht. Ulrich kommt noch einmal darauf zu sprechen, dass es eigentlich nötig wäre, ein moralisches System zu etablieren, bevor man handelt und unbeeinflusst von gesellschaftlichen Egoismen und ist froh, dass seine Schwester in ihrer Indolenz und scheinbaren Energielosigkeit sich genauso wenig von der Gesellschaft vereinnahmen lässt wie er selbst. Er macht seiner Schwester, die nervös und orientierungslos nach dem Gespräch verbleibt, das Angebot, nach Abschluss der Geschäfte in ihrer Vaterstadt mit ihm nach Wien zu kommen.

  • In Kapitel 11 sitzen die Geschwister in der Bibliothek zusammen und unterhalten sich während der Sichtung des Buchbestandes (Agathe) und der Lektüre heiliger Bücher (Ulrich) mal wieder über die Ursprünge und Grenzen der Moral und Formen der Selbstentäußerung, die einen in einen höheren Zustand führen. Dabei kommt es auch zu leichten körperlichen Berührungen. Beide führen –wie schon in den vorherigen Kapiteln – ein doppeltes Gespräch, das eine über abstrakte Themen, das andere durch Blicke, Berührungen und die damit verbundenen Emotionen.


    Mehr habe ich heute nicht geschafft; Man kann über Musil auch sehr gut einschlafen! gaehn

  • Die Unterhaltung über die großen Geheimnisse des Lebens, die sich in besonderen u.A. in Zuständen „heiliger“ Menschen zeigt, geht in Kapitel 12 weiter, allerdings erregen diese Gedanken bei Agathe nun die Erinnerung an die einzige Zeit, in der sie einer solchen Selbstentäußerung nahe war, als sie nämlich als Achtzehnjährige in ihren zwanzigjährigen Jugendfreund verliebt war und diese heirateten. In der kurzen Zeit der Gemeinsamkeit auf ihrer Hochzeitsreise hatte sie solche Momente erlebt, jedoch beendete eine Typhusinfektion und der anschließende schnelle Tod brutal diesen Abschnitt. Seitdem hat Agathe diese Zeit fest in sich verschlossen und versucht, nichts mehr zu nah an sich herankommen zu lassen und ihrer Umwelt mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Dies teilt sie nun auch ihrem Bruder mit und hat das Gefühl, sich nun öffnen zu können. Ulrich bleibt aber distanziert , und beide reden aneinander vorbei. Im Wunsch, seiner Schwester, die zusehends genervt über seinen Relativismus ist, seine Vorstellungen auf das Wesentliche zu reduzieren, nennt er seine fünf Glaubenssätze:

    »Du hast mich gefragt, was ich glaube« begann er. »Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind.

    Ich glaube, dass keine richtig sind.

    Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte.

    Ich glaube, dass nichts zu Ende ist.

    Ich glaube, dass nichts im Gleichgewicht steht, sondern daß alles sich aneinander erst heben möchte.

    Das glaube ich; das ist mit mir geboren worden oder ich mit ihm.«

    Musils Sinn für Humor wird in diesem ernsten Kapitel über Transzendentales und die tiefgreifenden Erlebnisse der Schwester wieder deutlich in der kleinen Abschweifung, dass Ulrich bei der Durchsicht der Papiere ihres so grundsatzfesten Vaters dessen Schmuddelecke aus der Mitte seiner Mannesjahre entdeckt, schmutzige Witze, pornografische Postkarten und Ähnliches. Ulrich fühlt sich davon abgestoßen, Agathe scheint eher amüsiert, bevor sie diese Sachen im Kamin verbrennt.

  • Kapitel 13 beschreibt, wie Ulrich sein Zuhause vorfindet, nachdem er nach Wien zurückgekehrt ist. Die genau in dem Zustand verbliebene Einrichtung des letzten Tages, an dem er so heftig bewegt war, erinnert ihn an seinen damaligen Zustand und ihm ist nun klar, dass er damals schon wusste, dass sich nun etwas ändern müsse und werde. General Stumm von Bordwehr erscheint, um ihn über das Neueste aus dem Konzilskreis zu unterrichten: Es gibt keine neue Idee oder einen Handlungsauftrag für die Parallelaktion, Graf Leinsdorf ist weiterhin erzürnt über die Demo der Deutschnationalen, zwischen Arnheim und Diotima kriselt es, und er selbst, der General, ist, wie er auf Ulrichs Nachfragen zugeben muss, involviert in ein Geschäft zwischen Arnheim, der die galizischen Ölfelder ausbeuten möchte und dem kakanischen Militär, das dafür aus dessen Fabriken Rüstungsgüter haben will.


    In Kapitel 14 besucht Ulrich Clarisse und Walter, die inzwischen Meingast zu Gast haben. Dieser, ein älterer Freund der beiden, früher Lebemann, nun Künstler in immer neuen Inkarnationen, befindet sich in einem weiteren Verpuppungsprozess, und Clarisse hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihm dabei ritterlich zur Seite zu stehen, ganz wörtlich, indem sie sich vor sein Arbeitszimmer stellt und aufpasst, dass ihn niemand stört. Als Ulrich mit den beiden Meingast in der Dämmerung aufsucht, befindet sich vor dem Gebüsch am Fenster ein Exhibitionist, der auf das geeignete Opfer wartet, um sich zu entblößen. Die vier stehen am Fenster und beobachten das Ganze gespannt, anstatt einzugreifen.

    Eine Rückblende beinhaltet das Kapitel 15, das den letzten Tag im Vaterhaus und das dabei Vorgefallene schildert. Agathe will das Testament ändern, wenn ich es richtig verstanden habe, zu Ulrichs Gunsten, weil andernfalls ihr verhasster Noch-Ehemann Hagauer einen großen Anteil an ihrem Erbe hätte. So übt sie die Schrift ihres Vaters und formuliert einen entsprechenden Absatz. Ulrich lehnt dieses Vorgehen ab, wenn er sich sonst auch gerne über die staatliche und Alltagsmoral theoretisch hinwegsetzt, beobachtet aber andererseits Agathe fasziniert bei ihrem Tun. Beide hatten vorher ja schon vereinbart, dass Agathe zunächst zu ihm ziehen solle, was Agathe zunächst zumindest gesprächsweise mit keinen weiteren Bedingungen verknüpft außer beiderseitiger Freiheit in Liebesdingen. Ulrich aber hat schon wieder einen himmelstürmenden Plan - eine Beziehung unabhängiger Menschen, die sich allem Kleinen entziehen. Ulrich reist ab, ohne dass klar wird, was nun aus dem Testament wird.