Musil - MoE 1, 93 - 115

  • Die folgenden Kapitel sind alle recht kurz, die beiden letzten aber gehaltvoll und ganz wunderbar ironisch.
    Kapitel 93 beinhaltet ein Gespräch während einer Parallalelaktionssitzung, das sich um den Genius im Sport, hier im Tennis dreht. Einer der Sprechenden hält einen Tennisspieler für genial, weil dieser sich über die "Wissenschaftlichkeit" dieser Sportart hinwegsetze und damit intuitiv Erfolge erziele. Ein anderer bestreitet das, aber es siegen doch die Gesprächsteilnehmer, die auf der Seite des Genialen stehen und den (technischen und Natur)wissenschaften echte Größe absprechen. Nur unser kleiner General ist traurig, weil ein Sportler als genial angesehen werden kann, aber ein General nicht.
    In Diotimas Seele dürfen wir in Kapitel 94 wieder mal einen Einblick nehmen. An der Seite ihres "gelblichen" Gatten des Nachts wach liegend denkt sie darüber nach, wie es mit ihr und Arnheim weitergehen könnte. Soll sie ihre Ehe aufgeben und den Geliebten heiraten? Ach nein, da hält sie neben einem gewissen Phlegma auch ihre Scheu vor einem Leben in Preußen ab. Hier gibt es eine geniale Passagen über rassistische oder chauvinistische Gedanken:

    Und so groß Arnheims Erfolg in ihrem Kreise war, entging ihr nicht, daß sich nach der ersten Zeit der Überraschung auch Widerstände regten, die nirgends Form annahmen oder zu Tage traten, aber sie doch raunend unsicher machten und ihr den Unterschied zu Bewußtsein brachten, der zwischen ihrer eigenen Haltung und der Zurückhaltung mancher Personen bestand, nach denen sie ihr Benehmen sonst zu richten gewohnt war. Nun sind völkische Abneigungen gewöhnlich nichts anderes als Abneigung gegen sich selbst, tief aus der Dämmerung eigener Widersprüche geholt und an ein geeignetes Opfer geheftet, ein seit den Urzeiten bewährtes Verfahren, wo der Medizinmann mit einem Stäbchen, das er zum Sitz des Dämons erklärte, die Krankheit aus dem Leib des Kranken gezogen hat. Daß ihr Geliebter ein Preuße war, verwirrte Diotimas Herz zu allem anderen also auch noch mit Schrecknissen, von denen sie sich keine rechte Vorstellung machen konnte,
    Dann eben will sie die Geliebte Arnheims werden, aber auch das ist mit Unappetitlichkeiten verbunden, die sie aufgrund ihres statuarischen Auftretens und Charakters nicht auf sich nehmen will, als da wären zum Beispiel Absteigen, Verstohlenheit usw. Schließlich bastelt sie sich eine Äußerung Ulrichs so zurecht, dass das Schicksal es von selber regeln werde und schläft darüber wieder beruhigt ein.

    In den beiden folgenden Kapiteln 95/96 kann Musil seiner satirischen Ader, die in jedem Kapitel aufblitzt, wieder voll die Zügel schießen lassen. Er ernennt Arnheim zum "Großschriftsteller", einer zeitgenössischen Weiterentwicklung des Geistesfürsten. Im Gegensatz zum letzteren wird der Großschriftsteller vom Markt gemacht und passt sich an diesen an. Um die Nachfrage nach ihm und seinem Werk zu erhöhen, präsentiert er sich auf möglichst angenehme Weise und möglichst häufig, vermeidet Polarisierungen und ist aufstrebenden "Talenten" gegenüber wohlwollend väterlich eingestellt. So wird er zu einer Art Marke, um die sich herum ein Heer von Kulturschaffenden kristallisiert, auf die sein Schein abstrahlt. Arnheim sieht sich als eine Art Erben von Goethe oder Napoleon, die es auch geschafft haben, sich den Lesern /dem Volk so weit angenehm zu machen, indem sie geschickt Extreme umgingen bzw. deren Ideen abgemildert aufnahmen (Napoleon) oder dafür auch mal andere Geistesgrößen im Regen stehen ließen (wie Goethe das bei Fichte wohl gemacht hat).

  • Na, im Gegensatz zu den letzten vier Kapiteln sind die nun folgenden alle recht lang und wieder sprachlich so schön und witzig, dass man am liebsten die Hälfte herausschreiben möchte.


    Wir kehren in Kapitel 97 zu Clarisse zurück. Es ist eine Art Fortsetzung von Kapitel 70, wo sie Ulrich eine fast inzestuöse Szene zwischen sich und ihrem Vater geschildert hatte. Wir erfahren von noch früheren erotischen Erlebnissen, die sie mit 14 oder 15 in der Sommerfrische gemacht hatte, wo ein Freund der Familie, der Freigeist Dr. Meingast und sein Adlatus sie mehrfach intim berührten und der Erregung, die das bei ihr auslöste. Auch der Kinderwunsch ihres Mannes löst Fantasien bei ihr aus, sie sieht sich selbst als die mögliche Mutter eines weiteren Gottes, meint aber, dass Walter momentan ihren Ansprüchen an Heldentum und Besonderheit nicht genüge. Auch Ulrich will sie auf dem Gebiet der Erotik prüfen, denn nicht er selbst, aber sein Titel als Mann ohne Eigenschaften erzeugen bei ihr ein geistesverwandschaftliches Gefühl und dementsprechende auch sinnliche Anziehungskraft.

    Thema des nächsten Kapitels 98 ist der KuK-Staat Kakanien selbst. So wie man ihn gar nicht recht zu bezeichnen weiß, mit seinen monarchischen und Volkstiteln, besteht er auch nicht als zusammengehörendes Gebilde. Das ungarische Königreich erscheint noch relativ homogen, aber das kaiserliche Österreich ist nur ein Konstrukt aus widerwillig zusammengebundenen Nationalitäten, die sich kaum etwas zu sagen haben und für die man ein Konstrukt finden müsste, das sie eint. Das ist ja auch schon das Grundproblem der tragenden Idee, die die Parallelaktion finden soll, deshalb Diotimas Idee des Weltösterreichs. Das Ganze wird wieder unübertrefflich witzig in Metaphern (Kakaniens schwarzgelbe Hose und rot-weiß-grüne Jacke) und Konstrukten ausgedrückt, die sich zum Beispiel Graf Leinsdorf für die Problematik überlegt.
    In Kapitel 99 lernen wir Tante Jane kennen, eine ehemalige Klavierlehrerin und geliebte Gesellschafterin von Ulrich und seiner Schwester während Aufenthalten bei seiner Großtante. Diese Tante Jane verkörpert hier Authentizität. Sie war ein großer Liszt-Fan und trug seit der Begegnung mit ihm ein schwarzes Kleid in Form einer Art Soutane, dazu eine Perücke, deren Frisur und Farbe Liszts Haartracht glich. Auch hatte sie ihre große Liebe und Leidenschaft mit einem spielsüchtigen Fotografen erlebt und hielt im Nachhinein nicht ihm, aber dem von ihm verursachten Gefühl die Ehre.

    Diese ganz und echt wirkende Frau wird mit den Ideen und Menschen der zeitgenössischen Gegenwart verglichen, die große Ideen und Gefühle nicht begreifen und deshalb auf ein Niveau herunterbrechen, mit dem sie ihr aufgeblasenes Ego füllen können. Sie geben den Dingen keine Struktur und lassen alles im Ungefähren, immer mit der Entschuldigung, so sei eben die neue Zeit.

  • Kapitel 100 (Hurra! Immerhin schon mal eine Landmarke auf dem Weg durch den Roman) zeigt und mal wieder General Stumm auf einem weiteren Höhepunkt zur Gewinnung von Diotimas Gunst. Er besucht die "weltberühmte Hofsbibliothek" mit 3,5 Mio. Bänden, um eine Übersicht über die großen Geistesblitze zu bekommen, aus denen man die Idee für die Parallelaktion gewinnen könnte. Er wundert sich darüber, dass der Bibliothekar ihm kein Buch darüber anbietet, sondern nur Bibliografien über Bibliografien, die die die Bücher mit den großen Ideen der Menschheit auflisten. Erst ein alter Bibliotheksdiener, der seine Erfahrungen aus der Betreuung der Bibliotheksbenutzer gewonnen hat, empfiehlt ihm Kants Schrift zu den Grenzen der Begriffe und des Erkenntnisvermögens. Aber General Stumm hat der Einblick in die Verwaltung dieser Massen von Büchern zu der Erkenntnis gebracht, dass eine jede Idee durch ihre Vervollkommnung und radikales Bis-zum-Ende-Denken letzten Endes ihre Praktikabilität verliert und zum Gegenteil ihres ursprünglich menschheitsdienlichen Gedankens verkommt. So sucht er nicht weiter nach dieser Idee, sondern sorgt sich darum, dass sich Diotima da verrennen könnte.

    Das lange Kapitel 101 bringt eine Unterhaltung zwischen Ulrich und Diotima während einer "Konzilssitzung", aus der sie sich zunächst in das Garderobenzimmer und danach in das Dienstbotenzimmer Rachels zurückziehen, um keine falschen Vorstellungen zu wecken. Ulrich möchte wissen, wie es zwischen Arnheim und Diotima steht und wie stark Diotima in dieser Beziehung emotional engagiert ist, während seine Cousine ihm eine positivere Haltung zu Arnheim vermitteln möchte. Obwohl sie die destruktive Denkweise Ulrichs nicht mag, sieht sie doch in ihm ein wichtiges Korrektiv und einen Ansprechpartner, den sie nicht missen möchte und dem sie auch - wie sie meint - aufrichtig ihr Verhältnis zu Arnheim und ihre Gefühle dabei schildert. Ulrich nimmt ihr diese Leidenschaft allerdings nicht ab.

  • Kapitel 102 führt uns wieder ins Haus Fischel, des jüdischen Bankdirektors. Tochter Gerda und ihr Kreis junger Christdeutscher um Hans Sepp haben pikanterweise ausgerechnet diesen Ort zu ihrem Treff- und damit auch Kristallisationspunkt ihrer Suche nach der arischen Vervollkommnung ausgesucht. Die jungen Männer nehmen sich auch in Fischels Gegenwart nur wenig zurück und verbergen ihren Antisemitismus nur flüchtig hinter antikapitalistischen Phrasen.
    Neben der Sinnsuche in einer höheren reinrassischen Entwicklung bekunden sie ihre Ablehnung der Parallelaktion, weil ihnen die welthaltige Stoßrichtung von Diotimas Vorgabe bekannt geworden ist, die natürlich ihrem Rassismus entgegensteht. Das ganze Kapitel ist trotz der wieder sehr sarkastisch-ironischen Schreibweise Musils schwer zu ertragen, weil wir ja - noch mehr als Musil zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Romans - um die Folgen der antisemitischen, nationalchauvinistischen Bewegung wissen. Jedenfalls ist Fischel sehr genervt, kommt aber nicht gegen Gerda und seine Frau an, so dass er nicht mehr so gerne früh nach Hause kommt und öfter nach Arbeitsschluss in den Parkanlagen spaziert. Hier trifft er auf Ulrich, den er ja einige Kapitel zuvor um Hilfe gebeten hatte, Gerda wieder zur Vernunft zu bringen, und der aber seither nicht gekommen war. Dieser bietet ihm an, Fischel nach Hause zu begleiten.

    Dort sind sie in Kapitel 103 zusammen mit der ganzen Blase der jungen Christdeutschen. Es kommt zu einer Diskussion über die Vernunft und den Fortschritt. Beides lehnen die jungen Leute ab, weil das eigentlich zu Erkennende nicht von der Vernunft erfasst werden könne und die moderne Welt sowieso nicht zu tieferer Erkenntnis fähig sei. Ulrich vertritt die These, dass die einzelnen Elemente des Fortschritts und die Fortschrittsgläubigkeit vielleicht abgelehnt werden könnten, dass aber im Durchschnitt aller sowohl geistigen als auch technologischen Ideen/Erfindungen die Gesellschaft zweifellos irgendwie fortschreite. Es kommt zu einem Eklat zwischen Ulrich und Fischel einerseits und der Gruppe andererseits, die dann unter Führung von Hans Sepp das Haus verlässt. Gerda bleibt zornig zurück und wird mit Ulrich alleingelassen. Dieser versucht nun, ihr zu erklären, dass Gesetzmäßigkeiten nicht nur in Naturgesetzen, sondern auch in statistischen Berechnungen sozialer Phänomene liege, die sich dadurch im Einzelnen als gar nicht so außergewöhnlich manifestierten. Diese materialistische nüchterne Betrachtungsweise erzürnt Gerda, die sich von Ulrich gleichzeitig angezogen und abgestoßen fühlt. Jener, obwohl er für Gerda keine zärtlichen Gefühle hegt, fühlt sich fast dazu veranlasst, die Situation auszunutzen, aber ihre Ablehnung lässt auch für ihn den Zauber des Moments verblassen.

  • Im Kapitel 104 wird es mal wieder Zeit für das Buffo-Paar: Soliman hat Rachel inzwischen so gegen Arnheim beeinflusst, dass ihre angenommene Abneigung nun auch ein wenig auf ihre vorher so bewunderte Herrin abfärbt. Ulrich bekommt bei einem seiner Besuche mit, dass etwas zwischen den beiden läuft, auch im erotischen Bereich. Soliman stiehlt weiterhin Kleinigkeiten, mit denen er die Kammerzofe beschenkt, diese lässt sich dafür von ihm küssen, wenn diese Küsse auch noch recht kindlich sind. Hier muss man sich wieder aus heutiger Sicht sehr zusammenreißen, um die rassistisch beeinflusste Ausdrucksweise, die sich bei Musil immer bei der Beschreibung von Solimans Aussehen und Handlungen einschleicht, zu ertragen. Soliman möchte mit Rachel fliehen - wohin auch immer - und meint, dafür die Dokumente zu brauchen, die Arnheim angeblich über die hohe Abkunft seines Pagen besitzt. Also schleichen sie sich in Abwesenheit Arnheims und Diotimas in dessen Hotelzimmer und durchsuchen seine Sachen, finden jedoch die Dokumente nicht, einen Koffer kann Soliman nicht aufbrechen. Er erklärt Rachel prahlerisch die eleganten und teuren Besitztümer seines Arbeitgebers, steckt ihr einiges davon in ihre Taschen. Rachel erkennt zweierlei: Da Diotima, die vorher eher einfache Unterkleidung und Boudoir-Accessoires bevorzugte, nun plötzlich zu verspielten und eleganten Wäschestücken und anderen Kleinigkeiten neigt, müsse diese wohl ein ganz ordinäres Verhältnis mit Arnheim haben. Andererseits wird ihr bewusst, dass ihre Beziehung zu Soliman in unmoralische Tiefen führt, sie leert ihrer Taschen, verabschiedet sich mit einem Kuss und verlässt ihn.


    Kapitel 105 und 106 beschäftigen sich wieder mit der Beziehung zwischen Arnheim und Diotima, in Kapitel 105 während ihrer Begegnungen und in Kapitel 106 in der Reflexion Arnheims darüber. Beide schwanken zwischen ihren hohen moralischen Ansprüchen einerseits und dem Wunsch nach einer körperlich-leidenschaftlichen Beziehung. Sie genießen ganz bewusst die moralische Überhöhung ihrer Liebe durch ihre Askese und werden von gesellschaftlichen und moralischen Rücksichten in den entscheidenden Momenten jeweils zurückgehalten. Dabei lässt der Autor immer wieder mehr oder weniger deutlich hindurchschimmern, dass diese hohe Moralität letzten Endes nur egoistische Rücksichtnahme auf ökonomische und Ansehenseinbußen oder auch das eigene Phlegma (Diotima) ist. Arnheim bemüht dafür im Folgekapitel sogar eine Vorstellung von einem Gottesreich, in dem er zum Berater Gottes wird und diesem erklärt, dass der Kapitalismus letzten Endes das beste Regime im Gottesreich sei, weil es die Handlungen des Menschen auf die Ebene von Angebot und Nachfrage verlegt und die Moral so organisiert, dass sich die Menschheit von selbst in eine Hierarchie gliedert, je nach der Größe des finanziellen Begehrens. So kann er es einordnen, dass er als angesehener Finanzmann und Großschriftsteller sich in Dingen der Leidenschaft zurückhalten muss, da jener nicht mit kaufmännischen Kalkulationen beizukommen ist. Dies macht er sich in einigen metaphorischen Träumen und Vorstellungen klar, die den Kontrollverlust symbolisieren.

  • Die nächsten zwei Kapitel beschäftigen sich anhand unterschiedlicher Perspektiven mit den Besonderheiten Kakaniens.


    In Kapitel 107 überlegt sich Graf Leinsdorf, wie er es schaffen kann, dass im Vielvölkerstaat Kakanien die unterschiedlichen Gruppen doch zu einem gemeinsamen Streben und Ziel für die Parallelaktion gewonnen werden könnten. Dabei gibt es einerseits die kleineren Nationalitäten wie die Tschechen oder Slowenen usw., die gerne gegen das Großreich unter Führung der Deutschen polemisieren, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, aber letzten Endes, da sie viele und kleinere Gruppen sind, nach Leinsdorfs Meinung nicht den Staat Kakanien gefährden. Um sie zufriedenstellen, will er einen slawischen Grafen an eine besondere Position innerhalb der Planung der Parallelaktion bringen. Wenn er so die kleineren Nationen, die der Idee der Parallelaktion misstrauisch gegenüberstehen, zufriedengestellt hat, möchte er erreichen, dass diejenigen Deutsch-Kakanier, die der Idee der großdeutschen Lösung, d.h. der Vereinigung der beiden Kaiserreiche, positiv gegenüber stehen, zurückgedrängt werden, denn ihm ist das Preußisch-Deutsche, wie es zu der Zeit in ganz Europa wahrgenommen wird, sehr suspekt in seiner Großmannssucht und seinem aggressiven Sprachduktus (hier denkt Musil vermutlich besonders an Kaiser Wilhelm und seine Vordenker). Das wird durchaus von den Sympathisanten der großdeutschen Lösung, wie zum Beispiel in einem der vorherigen Kapitel dem christdeutschen Kreis um Gerda Fischel, wahrgenommen, so dass auch diese Kreise der Parallelaktion kritisch gegenüber stehen. In diesem Kapitel findet man wieder mal viele Hinweise, wie es zum Ausbruch des 1. Weltkriegs kommen konnte.


    Ähnliche Gedanken bewegen auch General Stumm in Kapitel 108, der sich zunächst damit auseinandersetzt, warum sich die kleineren Nationen Kakaniens als "unerlöst" bezeichnen, ein Wort, das er für viel zu groß für Interessenskonflikte hält.
    Er erklärt sich das so, dass die Menschen in der modernen Zeit einfach kein festes Denkmodell, wie zum Beispiel im Mittelalter das Christentum mit seiner feudalen Ständeordnung, haben und daher unzufrieden sind, weil sie zwischen den über ihnen aufwallenden Ideen keinen echten Lebenssinn finden und so über alles schimpfen. Stumm kommt für sich zu dem Schluss, dass ein festes System wie das des Militärs, in dem die Sinnsuche durch die Militärordnung ersetzt wird, doch viel zu bieten habe, denn da würde Geist eigentlich gar nicht mehr benötigt.

    Kapitel 109 kristallisiert eine Spielart der Unzufriedenheit der Zeit in Ulrichs ehemaliger Geliebten Bonadea, die immer noch nicht darüber hinweggekommen ist, dass Ulrichs Interesse an ihr nachgelassen und er sich scheinbar der von ihr gleichzeitig mit Eifersucht und Bewunderung betrachteten Diotima zugewandt habe. Sie versucht das zu überwinden, indem sie sich modisch und von der Haltung her an Diotimas Vorbild anpasst und damit die Leere, die sie vorher in erotische Verhältnisse getrieben hat, mit Äußerlichkeiten wie Modetrends und Kosmetik füllt: Lustigerweise bekommt ihr Mann erst jetzt, wo sie ihre Sinnlichkeit von der Erotik auf die dekorative Ebene verlagert hat, Angst, er könne betrogen werden, weil seine Frau plötzlich so um ihr Äußeres besorgt ist.

    Von Bonadeas Verhalten ausgehend stellt Musil unser Bedürfnis dar, uns in einfache Zusammenhänge zu flüchten, um die Komplexität der Welt nicht fürchten zu müssen. Dazu setzen sich in den Gesellschaften einfach zu verstehende Lebens- und Orientierungsmodelle durch, die eine Weile Halt geben, aber dann plötzlich infrage gestellt werden und in eine Krise führen, aus der dann irgendwann ein neues Orientierungsmodell erfolgreich hervorgeht.

    Das erinnert mich an unsere heutige Zeit, in der immer mehr Menschen plötzlich nicht mehr mit der Demokratie zufrieden sind. Ich kann aber nur erschauern, wenn ich überlege, welches alternative Orientierungsmodell über die Demokratie den Sieg davontragen sollte ... .

  • Wir kehren in Kapitel 110 mal wieder zu Moosbrugger zurück, der immer noch im Untersuchungsgefängnis sitzt und auf die Urteilsverkündung wartet. Ihm verschwimmt die Welt in ihren räumlichen und zeitlichen Dimensionen immer mehr. Auf der einen Seite leidend an der Bewegungslosigkeit, zu der er in seiner kleinen Zelle verdammt ist und am ständigen Hunger wegen der zu knappen Portionen sowie ewiger Langeweile fühlt er dennoch eine ihm zuwachsende Größe dadurch, dass er innerlich immer mehr von der realen Lebensteilnahme abrückt und ein zentrales Objekt der juristischen Auseinandersetzung ist.


    Diese steht im Mittelpunkt des Kapitels 111, denn Ulrichs Vater ist über den Fall Moosbrugger ja in eine Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Kollegen und Freund Schwung geraten (vgl. Kap. 74), in der es darum geht, inwieweit geistige Unzurechnungsfähigkeit insgesamt oder nur zum Zeitpunkt der Tat in das Urteil und Strafmaß mit einbezogen werden muss. Genüsslich breitet Musil in diesem Kapitel die juristischen Haarspaltereien aus, mit denen sich die zwei ehemaligen Freunde und im Weiteren größere juristische Kreise bekriegen, denen die Reform des über sechzig Jahre alten Strafrechts obliegt. Nun möchte der Vater, dass sein Sohn sich in den höheren Kreisen, in die er ihn eingeführt hat, für ihn und seine Position verwende, weil Schwung im weiteren Verlauf der Debatte allzu persönlich geworden ist und Ulrichs Vater geradezu preußische Denkweisen unterstellt, was ja in den maßgebenden Kreisen, wie wir aus den letzten Kapiteln wissen, sehr schlecht ankommt.


    Kapitel 112 befasst sich mit den Überlegungen Arnheims zu seinem Vater und Ulrich, die er im Beisein Solimans anstellt, der aber nur wissen will, ober er wirklich von einem König abstamme und ob er viel gekostet habe, was Arnheim beides verneint. Vermutlich werden wir in späteren Kapiteln noch erfahren, was diese arrogante Replik bei Soliman weiter bewirkt. In Arnheims Reflexionen geht es zunächst um seinen Vater, der - trotz mangelnder kaufmännischer Ausbildung - aufgrund seiner Intuition oft die richtigen Eingebungen bei Geschäfte hatte, für die er von dafür ausgebildeten Fachleuten anders beraten worden war. Dieser Intuition will Arnheim einen Anstrich von Größe zusprechen, der seinen Vater an die Seite der Götter stellt. Eigentlich geht es in diesem Kapitel aber um Ulrich, um dessen Ablehnung seiner selbst Arnheim weiß und darüber verärgert ist, den er aber dennoch unbedingt auf seine Seite ziehen will, da er eine gewisse Ähnlichkeit zwischen sich und ihm feststellt. Bei ihm seine Verfeinerung und besondere Stellung in der Gesellschaft, bei Ulrich dessen Wille, sich und seine geistigen Entscheidungen frei zu halten von allen gesellschaftlichen Vorteilen, die ihm durch Kompromisse und Beitritten zu bevorteilten Gruppen entstehen könnten.

  • Puh, was für ein Geschwurbele es in Kapitel 113 zu ertragen gilt! Ulrich ist bei Gerda, Hans Sepp ist auch da. Dieser greift direkt Ulrichs distanzierte Haltung zu seiner Ideologie und dessen angebliches Eintreten für die kapitalistische Welt Leo Fischels an. Hans versucht, seinen Glauben zu erklären: Nicht die Definitionen, Berechnungen und Analysen der Welt, ihrer Menschen und Gegenstände würden zur Einsicht führen, sondern nur der Weg der Selbstentäußerung, hin zu einer "Gemeinschaft der vollendet Ich-losen", natürlich nur von Deutschen, die ausschließlich zu diesen mystischen Einsichten befähigt seien. Dabei stünde das Kind im Mittelpunkt, das sich seine eigene Welt mache, von gesellschaftlichen Zwängen und Gesetzen unbeeinflusst, zu solchen Kindern müssten alle Menschen wieder werden. Ulrich, der einerseits die Hohlheit (aber nicht die Gefährlichkeit) dieser Ideologie erkennt, ist andererseits von dem Eifer der jungen Leute berührt. Ihren eigenen Slang aufnehmend spiegelt er ihnen diese Ideen, indem er sie zu einer neuen Erkenntnis der weltumfassenden Liebe aufbauscht. Hans ist verärgert, dass Ulrich ihm kongenial das Heft seines Geschwafels aus der Hand nimmt, Gerda dagegen, die ja in Ulrich verliebt ist, fühlt sich angezogen, aber ist auch misstrauisch gegenüber Ulrichs Absichten. Die Ideologie der Selbstentäußerung steht der erotischen Beziehung zwischen Hans und Gerda entgegen, da Hans meint, sie seien für eine sexuelle Beziehung noch nicht reif, da sie noch nicht den entsprechenden Bewusstseinszustand erreicht hätten und stoppt daher immer an einem gewissen Punkt die erotische Tändelei. Dies lässt Gerda unbefriedigt zurück, die sich sowieso an einem Scheideweg zwischen einer möglichen erfüllten Liebesbeziehung und einem Leben als alternde Jungfer sieht, ein Lebensmodell, das sie sich aber durchaus vorstellen kann. Diese zwei Seiten nimmt Ulrich auch an ihr wahr und fühlt sich zugleich angezogen und abgestoßen.

  • Kapitel 114 ist ein ebensolches Geschwurbel. Diotima, Arnheim und Ulrich treffen im Hof vor der Bibliothek General Stumm. Während Arnheim sich Stumm leutselig zuwendet und ihm von den Vorzügen Österreichs gegenüber Deutschland spricht - das völlig vom Kaufmannstum und dem Materialismus beherrscht sei - im Gegensatz zu Österreich, das noch seine Traditionen und den Glanz des Idealismus hochhalte, begeben sich Ulrich und Diotima in eine Ecke des Hofes, um miteinander erregt über die Beziehung Diotimas zu Arnheim zu flüstern. Ulrich fühlt sich durch seine letzten Erlebnisse und Diskussionen etwas seiner Rolle als Mahner und Analyst entfremdet und rät Diotima dazu, die Beziehung fleischlich werden zu lassen. Diotima fühlt sich angelegentlich von einer Kraft unbegrenzter Möglichkeiten ergriffen, versucht aber in ihren Äußerungen die ehrbare Fassade zu wahren. Ulrich dagegen schwurbelt mal wieder über das Allgemeine im Verhältnis zum Besonderen und die Unmöglichkeit, so zu leben, wie es einem großartige Bücher vorzugeben.


    In Kapitel 115 fasst Bonadea den Plan, Ulrich aus den Fängen von Diotima, in denen sie ihn vermutet, zu erlösen und für sich zurückzugewinnen, denn ihre modische Orientierung an Diotima und der Versuch, in deren Kreise einzudringen, hatten nicht den gewünschten Erfolg So will sie nun Ulrich während einer Konzilsversammlung aufsuchen und ihm dort erzählen, sein unmittelbares Eingreifen zusammen mit Diotima sei für die Rettung Moosbruggers vor der Todesstrafe unmittelbar notwendig. Dieser Plan geht mithilfe Rachels insoweit auf, dass sie Ulrich in Diotimas Schlafzimmer trifft, das während der Festsitzungen als Möbel- und Garderobenablage dient. Allerdings kann sie ihn nicht überzeugen, in Sachen Moosbrugger tätig zu werden, der ihm eher als Gedankenexperiment denn als wirklich zu rettender Mensch erscheint. Immerhin ist er von Bonadeas aufgelöster und ehrlich wirkender Gerührtheit so angetan, dass er sich in zärtlicher Manier von ihr trennt.