Musil - MoE 1, 70 - 92

  • Der August hat begonnen, und es geht weiter mit meiner Musil-Lektüre.

    Clarisse kommt in Kapitel 70 zu Ulrich, um ihn darum zu bitten, im Rahmen seines Engagements für die Parallelaktion für ihren Vater, einen Maler und auf Schlossrestaurierungen spezialisierten "Innenarchitekten" (?), Kontakte zu knüpfen.
    Als Begründung erzählt sie ihm eine seltsam schwüle, knapp am Inzest vorbeischrammende Geschichte aus ihrer Jugend. Als sie 15 war, hat ihr Vater das Schloss der Familie Pachhofen neu ausgestattet und dabei wohl seine Familie dabei gehabt. Auch Walter begegnete dort zum ersten Mal Clarisse über längere Zeit und war von ihrem Vater fasziniert. Dieser wiederum unterhielt eine Liebelei zu der siebzehnjährigen Tochter des Hauses, die ihm als Modell diente und heftig mit ihm flirtete. Das besprach sie pikanterweise in nächtelangen Aufenthalten in einem Turmzimmer mit seiner Tochter Clarisse. Als die junge Pachhofen mit ihrem Vater nach Venedig reisen musste, näherte sich der Vater von Clarisse dieser in seiner abrupt abgebrochenen Leidenschaft und wäre ihr fast zu nahe gekommen. Nur durch kleine Gesten von ihrer Seite konnte ein Missbrauch vermieden werden.
    Ich habe hier überhaupt nicht verstanden, warum aus diesem Grunde der Vater von Ulrich unterstützt werden sollte :vogelzeigen:.


    Kapitel 71 führt uns wieder tief hinein in die Planung der Parallelaktion. Endlich kommt es nach der Gründungsversammlung zu einem weiteren Höhepunkt in Diotimas Haus, wo nun die wichtigsten Vertreter der schönen Künste und Philosophie die zentrale Idee weiter einkreisen sollen. Nur zur Beobachtung sind auch einige Vertreter der (exakten)Wissenschaften und Praktiker dazu geladen. Nun aber ist Diotima über den Verlauf enttäuscht, da die hohen Herren der Schöngeistigkeit vor allem über ihre eigenen Ideen schwafeln und wenig Interesse an einem Konsens zeigen.

    Das Kapitel 72 kreist um die dem Exakten inhärente Dämonie, d.h., die oben genannten exakten Wissenschaftler und Praktiker neigen aufgrund ihrer Ausrichtung dazu, die Schöngeistigkeit zu entblößen und sich über sie lustig zu machen. Sie philosophieren nicht über die Größe des Raums und seine Wirkung auf den Menschen, sondern berechnen den Raum und die Fallhöhe von Gegenständen in ihm, d.h. ihre Absichten dienen der Machbarkeit von Dingen und nicht ihrer geistigen, aber in ihren Augen wenig effektiven Durchdringung. Dieser Zug der Zeit besteht seit dem 16. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Gedankenwelt von Galilei und seinen Zeitgenossen. Seitdem hat der Ruhm des schönen Gedankens immer auch den kleinen Teufelsfuß seiner Unpraktikabilität bei sich.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

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  • Kapitel 73 bringt die Begegnung mit einer neuen Person, die bisher nur indirekt vorkam. Gerda Fischl, die Tochter des jüdischen nominellen Bankdirektors Leo Fischl. Ihre Mutter kommt zu Ulrich, weil dieser sich früher gut mit Gerda verstanden hatte, und bittet ihn, sie von ihrem Umgang mit einem Kreis deutschtümelnder, christlicher Antisemiten, insbesondere mit dem gesellschaftlich bedeutungslosen Hans Sepp (sic! Wieder ein herrliches Namensspiel im Zusammenhang mit seiner Gesinnung) abzubringen und ihr vielleicht eine Aufgabe in der Parallelaktion zu verschaffen. Ulrich besucht daraufhin Gerda in Abwesenheit ihrer Eltern. Es wird klar, dass beide früher eine enge freundschaftliche Beziehung mit erotischen Untertönen hatten, wobei sie letztere aber unterdrückten, da sie keine wirkliche Liebe/Leidenschaft füreinander empfanden.

    Gerda unterstellt dem um einiges älteren Ulrich, ihre Gefühle in dieser Hinsicht nicht nachvollziehen zu können. Sie sagt ihm, dass er immer annehme, alles geschehe aus Egoismus und nicht nachvollziehen könne, wie absichtslos wohlfühlen man sich im verbindenden Gedanken der obigen Gruppe fühlen könne. Ulrich erzählt ihr eine angeblich wahre Fabel von früheren Eismonden, die wie der jetzige die Erde umkreisten, sich ihr schließlich genähert und z.B. die große Sintflut herbeigeführt hätten, um am Ende zu sagen, dass das alles nicht stimme. Was diese Geschichte in dem Zusammenhang soll, habe ich nicht verstanden. Vielleicht will er damit der von der Fabel faszinierten Gerda zu verstehen geben, dass man mit einer Menge bedeutsamer, aber erlogener sogenannter Tatsachen Menschen begeistern oder aufbringen, ja um im Bild zu bleiben überfluten kann, ohne dabei die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen zu können (kann man ja heute wieder gut zum Beispiel an Trump und seinen Wählern nachvollziehen :roll:).


    Mein philosophisches Wissen reicht nicht im Entferntesten, um Kapitel 74 zu verstehen. Ulrich erhält von seinem Vater einen Brief, in dem dieser sich darüber echauffiert, dass er in einer Neufassung der Strafrechtsordnung nicht seine Formulierung durchsetzen konnte. Es gehe grundsätzlich darum, ob das Denken den Willen oder umgekehrt bestimmen würde. Seit der Antike habe man in der Philosophie bis Ende des 18. Jahrhunderts die erstere These vertreten, der auch Ulrichs Vater zustimmt. 1797 habe es dann ein Umdenken in die andere Richtung gegeben. Nach meinen Recherchen sind in diesem Jahr Kants "Metaphysik der Sitten" und Schellings "Ideen zu einer Philosophie der Natur" erschienen. Dabei nehme ich an, dass eher Kants als Schellings Werk zur Thematik passt, kann aber ansonsten nichts über den Zusammenhang ausführen. Jedenfalls hat ein ehemaliger Freund und Kollege von Ulrichs Vater eine von diesem vorgenommene Formulierung zur Unzurechnungsfähigkeit eines Täters abgeändert und auch keinem Kompromiss zugestimmt. Ich will das jetzt nicht ausführen, darauf können die philosophisch Gebildeten besser eingehen, wenn sie zu diesem Kapitel kommen. Die Formulierungen am Ende des Briefes nähren meinen Verdacht, dass Ulrichs Vater hier Haarspaltereien betreibt, die Musil ironisiert. Ich vermute im Übrigen, dieses Kapitel wird nochmal im Zusammenhang mit Moosbrugger wichtig.


    Die nächsten Kapitel sind wieder einfacher - Musil weiß schon, dass er seinen Lesern nicht zuviel zumuten kann :confused:.

    Der kleine dicke General Stumm besucht Diotima in Kapitel 75, um ihr seine unerwünschte Ehrerbietung zu Füßen zu legen - beide reden, den gesellschaftlichen Konventionen genügend - freundlich distanziert aneinander vorbei, Diotima leicht angewidert, der General sich im Glanze der faszinierenden Frau sonnend.


    Graf Leinsdorf interessiert sich nicht genügend für die Ideensuche zur Parallelaktion, befürchtet Diotima in Kapitel 76, aber Arnheim weiß sie zu beruhigen, indem er darauf hinweist, dass der Graf aufgrund seiner Herkunft aus einer traditionell landbesitzenden Schicht zu geerdet und den grundlegenden Werten zu sehr zugewandt sei, um sich für die Feinheiten des kulturellen Überbaus genügend zu interessieren.

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  • In Kapitel 77 wird erläutert, warum Arnheim einen so großen Einfluss auf die Presse hat, natürlich wieder eine Steilvorlage für ironische Seitenhiebe des Autors. Zeitungen sollten doch eigentlich ein Interesse daran haben, als Marktplatz großer Ideen zu dienen, die hier weiterdiskutiert, geschärft und angewendet werden könnten. Statt dessen haben sie kein großes Interesse an bedeutenden Geistesgrößen, sondern sind eher interessiert an den Machern, die zu den Großen zählen und bei diesen ein- und ausgehen. Und einen solchen verkörpert für sie Arnheim, noch dadurch gesteigert, dass er ein Ausländer ist und sich dennoch, zumindest scheinbar bei der Parallelaktion engagiert. So wird er häufig um Wortbeiträge gebeten, was sein Ansehen in der interessierten Öffentlichkeit weiter steigert.


    Wenn Arnheim angesprochen wird, kann Diotima nicht weit sein und so ist ihre Wandlung Inhalt des folgenden Kapitels 78. Die Organisatorin der Parallelaktion befindet sich in einer Art Hochplateau-Stimmung, ist eigentlich gar nicht unglücklich darüber, dass ihre kulturell-politischen Bestrebungen sich in keiner tragenden Idee konkretisieren und zittert vor unterdrückter und sublimierter Leidenschaft für Arnheim. Das bekommt auch ihr Gatte zu spüren, dem sie einerseits bisher unbekannte Zärtlichkeit zuwendet, während sie andererseits bräutlich-launisch auf seine Annäherungen reagiert. Er führt das auf die ihr zugewachsene bedeutsame öffentliche Stellung zurück und bemüht sich, besonders in der Öffentlichkeit nichts von seinem Befremden spüren zu lassen.


    Und weiter geht es mit erotischen Verwicklungen in Kapitel 79. Wenn es um Soliman geht, stößt dem heutigen Leser der immanente Rassismus eines Autors aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts schon übel auf, wenn dieser damals auch weit verbreitet war und wenig reflektiert wurde. Solimans exotisches Äußeres wird ebenso wie sein Verhalten oft mit animalischen Attributen charakterisiert, er erscheint hemmungslos und triebgesteuert. Hier geht es darum, dass er sich in Rachel, die er mit Behauptungen über Arnheim zur Spionage gegenüber ihrer bewunderten Herrin anstiftet, verliebt, ihr Geschenke undurchsichtiger Herkunft macht und sie schließlich in einem Moment abgewiesener Leidenschaft in den Arm beißt.

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  • Kapitel 80 widmet sich dem kleinen General Stumm von Bordwehr. Er hat tatsächlich eine Einladung zu einer der "Konzils" sitzungen in Diotimas Haus erhalten, zu deren und auch des Generals Verwunderung, denn Diotima hatte sie nicht ausgestellt und der General war über die fremde Handschrift und fehlerhafte Anrede erstaunt: Aber egal, nun kann er den Auftrag seines Vorgesetzten erfüllen und ihm berichten, was auf den Planungssitzungen besprochen wird und gleichzeitig seiner heimlich angebeteten hohen Dame nahe sein. Wir erfahren etwas von seiner Biografie. Eigentlich weder physisch noch psychisch für den Militärdienst geeignet ist er erst mit seinem Beruf zufrieden, als er in die Bildungsabteilung des Kriegsministeriums gerufen wird und schnell zu deren Leiter aufsteigt. Hier kann er sein friedliches und dem Betrachten zugeneigtes Naturell am ehesten ausleben.


    In dem mit ironischen Glanzlichtern gespickten Kapitel 81 erklärt Leinsdorf, dass die großen Ideale sowieso Unsinn seien und man gar nicht versuchen solle, sie zu verwirklichen. Dagegen solle man gegenüber Menschen freundlich sein, die praktische Ideen hätten, ohne ihnen indes wichtige Zugeständnisse zu machen. Die Grundlage der Gesellschaft seien Vereine, deshalb solle man diese fördern. So lernt Ulrich nun einen obzessiven Briefmarkensammler und den Erfinder einer neuen Kurzschrift kennen, die mit ihren Interessen die Wichtigkeit Österreichs hervorstreichen wollen.


    Im Kapitel 82 trägt Ulrich die Leinsdorfsche Idee Clarisse vor, um sie von ihrer Idee eines Nietzsche-Jahres und ähnlichem abzubringen. Sie dagegen möchte nun, dass Ulrich ein Ulrich-Jahr vorbereitet, in dem er seine eigenen Ideen verwirklicht und berichtet ihm außerdem, wie sie mit Walter über seine Ermordung wegen Walters Eifersucht auf seine innere Einstellung gesprochen hätte. Sie zeigt sich wieder in ihrer leicht manischen Art, was Ulrich vorübergehend faszinierend findet. Es geht ihr nicht um Inhalte - ähnlich wenn auch sich anders bei Diotima äußernd -, sondern um die innere Anspannung und Gehobenheit, die mit dem Verfolgen einer Idee verbunden ist.

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  • Die nächsten Kapitel sind recht aufgebläht, und oft scheinen mir Ulrichs Gedankenmodelle nur der ironischen Provokation seiner Gesprächspartner zu dienen.


    Kapitel 83 führt Ulrich zu Clarisse zurück, weil ihm auf dem Heimweg einfällt, wie er den Gedanken, man solle für eine Idee leben, Clarisse deutlicher machen könnte. In diesem Kapitel gibt es einige sehr schöne und bedenkenswerte Stellen über unser Erlebnis von Geschichte, das Ulrich mit dem Dahinschaukeln der Pferdestraßenbahn vergleicht, in der er gerade sitzt. Die Menschen ließen sich plan- und hilflos von den Ereignissen mitreißen, haben im Laufe der Menschheitsgeschichte wenig Ideelles dazu gelernt (damit sind nicht technologische Entwicklungen gemeint), und so ist die Weltgeschichte nicht auf ein Ziel ausgerichtet, sondern gleicht dem chaotischen Hin- und Herstoßen einer Billardkugel. Diese Analyse ist ja nicht neu, aber hier gut formuliert, aber was Ulrich daraus ableitet, ist relativ beliebig und auch jeweils an seinen Adressaten orientiert, um ironische Effekte zu erzielen, wie die nächsten Kapitel zeigen.


    Kapitel 84: Bei Clarisse ist jetzt auch Walter, den Ulrichs Herleitungen gewaltig nerven, auch immer vor dem Hintergrund, dass er Ulrich gegenüber auf dessen unbekümmerte Lebenseinstellung eifersüchtig ist. Dieser passt nun seine Idee Walters künstlerischem Naturell an und behauptet so ungefähr, das Leben müsse als Kunstwerk gestaltet werden. Aber auch Walter kann scharf denken und gut diskutieren und macht ihm klar, dass eine Gesellschaft nicht funktionieren könne, wenn die Menschen nur für ihre Ideen lebten bzw. sich selbst zum Kunstwerk machten, und was wäre mit den Menschen, denen gar keine Lebens- bzw. Kunstidee einfiele? Er findet Ulrich arrogant und unverantwortlich. Schließlich gipfelt seine Argumentation darin, dass eine solche ubiquitäre Kunst sich selbst überflüssig machen würde. Ulrich benutzt dies zu einem persönlichen Tiefschlag gegenüber Walter, indem er ihn bezichtigt, sich doch selbst auch als Künstler überflüssig zu machen (weil er überbegabt ist und sich auf kein Metier festlegen kann und will, vgl. Kap.14).


    Ulrich kommt später nach Hause als ursprünglich geplant und findet dennoch den geduldig wartenden General Stumm in Kapitel 85 bei sich vor. Dieser möchte unbedingt Diotima helfen, die zentrale Idee zu finden und ist dieses ganz militärisch angegangen, indem er mithilfe seiner Untergebenen Tabellen zu den vorhandenen Ideen, von denen er bei den Konzilssitzungen etwas mitbekommen oder die gerade sowieso in der Gesellschaft Mode sind, hat anlegen lassen, dann auch noch Bezugsdiagramme gleich Schlachtplänen, um Verbindungen, Unverträglichkeiten u.ä. aufzuzeigen. Ulrich hat nun Spaß daran, den General davon zu überzeugen, dass das eigentlich Ideelle sowieso beim Militär liege, denn dieses sei die wahre Ordnungs- und damit auch Analysemacht. Stumm reagiert zwischen dem Feststellen des Hopp-Genommenwerdens und einem gewissen Stolz auf seine Stellung in dieser Situation. Er beichtet Ulrich seine Verliebtheit in Diotima und auch seine Beobachtungen über sie und Arnheim, dem gegenüber er nicht eifersüchtig ist, sondern ihn eher als Ausweg aus einem allzu leidenschaftlichen persönlichen Engagement sieht.

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  • Mit Kapitel 86 bekommen wir wohl eines der zentralen Kapitel über Arnheim präsentiert. Ausgehend von der Verunsicherung, die er durch die Verliebtheit zu Diotima durchmacht, wird über seine Persönlichkeitswerdung berichtet. Das Vorbild Arnheims ist ja der deutsche Großindustrielle, Schriftsteller und Politiker Walther Rathenau. Ich habe jetzt ein wenig über diese schillernde Persönlichkeit gelesen, die im Januar 1922 auch deutscher Außenminister wurde und ein halbes Jahr später einem rechtsnationalen, antisemitischen Attentat zum Opfer fiel.
    Musil berücksichtigt sehr viele Züge der historischen Figur Rathenau, nur bisher nicht explizit seine jüdische Herkunft, die für den echten Rathenau von lebensbestimmender Bedeutung war, weil sie ihm immer wieder die Einschränkungen in der Entfaltung seiner Karriere und Persönlichkeit auferlegte.

    Arnheim durchlebt als junger Mann eine Phase der romantisch-empathischen Welterfahrung, rationalisiert sich dann aber schnell, als er von seinem Vater in die kaufmännische und industrielle Welt eingeführt wird und sich dort etabliert. Es bleibt ihm die Achtung vor der Großartigkeit menschlichen Schaffens in der Kunst. Die unerforschliche Tiefe hinter der rationalen Erfassung und späteren schriftstellerischen Aufarbeitung der Welt definiert er als Seele, setzt sich mit dieser aber nicht wirklich auseinander. Seine Liebe zu Diotima lässt ihn jetzt wieder diese Unergründlichkeit erahnen und ängstigt ihn auch, weil sie sich eben nicht mit rationalen Mitteln dirigieren lässt.


    In Kapitel 87 erleben wir im Kontrast zum Weltmann Arnheim wieder die von dunklen Mächten dirigierte, nicht mit Vernunft zu erfassende Welt von Moosbrugger, der immer noch in Untersuchungshaft sitzt und auf seine Hinrichtung wartet. Wieder wird die Spannung in seinem Wesen beschrieben, die in der Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen, insbesondere Frauen auftritt, ihn nur kurz zu gesellschaftlich sanktioniertem Umgang befähigt und schnell in Gewaltexzessen mündet, weil das Maß seiner Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit mit anderen Menschen überschritten ist. Momentan herrscht Ruhe in ihm, seine kleine Gefängniswelt erscheint ihm geordnet, und er ersehnt sich eigentlich nur eine üppige Mahlzeit.


    Kapitel 88 ist ein wenn auch sehr kurzes Ideen-Kapitel, das sich darum dreht, dass die wirklich großen Themen - Musil nennt hier die Nation, den Frieden, die Menschheit und die Tugend - für den Durchschnittsmenschen zwar fühlbar, aber kaum ausdrückbar sind. An sie bindet sich daher oft "die billigste Geistesflora".
    Das gilt auch für das neue Zeitalter, wo die Werte des Humanismus der Vergangenheit von denen des Materialismus und der darin enthaltenen technologischen Entwicklung abgelöst werden. Wie sich hier die "billige Geistesflora" entwickeln wird, bleibt abzuwarten.

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  • Bei den beiden hier dargestellten Kapiteln wäre eine kommentierte Ausgabe besonders hilfreich gewesen, denn Musil spielt hier ziemlich eindeutig auf zeitgenössische Kollegen und deren Vorgänger an. Vielleicht hat ja jemand später eine Idee, wer die Leute sein könnten.

    Arnheim ist in Kapitel 89 bei sich zu Hause in seiner Wiener Residenz. Nachdem er einige Anweisungen für sein Firmenimperium erteilt hat, lässt er den vorherigen Abend im Hause Diotimas Revue passieren. Diese hatte diesmal - frustriert von den Egoismen und der Ergebnislosigkeit der Konzilssitzung mit den gereiften Geistesgrößen in Kapitel 71 - die junge Garde der Kunst- und Geisteswelt zu sich eingeladen. Spöttisch lässt sich Arnheim die ganzen einander widersprechenden -ismen der jungen Geistesgrößen durch den Kopf gehen, die sich insbesondere in eine Richtung L'art pour L'art und eine mit sozialer Verantwortung teilen lassen, letzten Endes aber die Kunst für wichtiger als die Menschen halten. Gleichzeitig lassen sie den mal wieder anwesenden General Stumm abblitzen, indem sie ihm indirekt vorwerfen, dass die Strategie der Generalität die Menschen nur als Material behandele und nur auf das große Ergebnis gucke, anstatt auf die vielen geopferten Soldaten. Aber - so fragt General Stumm Arnheim - wo sei denn da der Unterschied zur Kunst, die ja ihr Streben auch auf die große, ganze Idee und nicht die einzelne Person richte? Arnheim sinniert auch noch über zwei arrivierte Vertreter der Lyrik nach und macht sich in Gedanken über sie lustig, aber leider kenne ich mich in der Lyrik der Jahrhundertwende viel zu wenig aus, um zu wissen, wer gemeint sein könnte. Einer davon mag vielleicht Stefan George sein ??


    Das Kapitel 90 thematisiert nun, immer noch aus Arnheims Sicht, dass sich die Kultur und Kunst insgesamt ändere, weg von der Ideokratie, also der Herrschaft der Idee, hin zu einem sich durch äußerliche Einflüsse bestimmenden Lebensstil, was sich später durch den Weltkrieg und die Entwicklungen in den Zwanziger Jahren, von denen Arnheim zum Zeitpunkt der erzählten Zeit noch nichts wissen kann, verstärkt.

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  • Und nun die letzten beiden Kapitel dieses Abschnitts:

    In Kapitel 91 führen Ulrich und Tuzzi bei einer "Konzils"sitzung ein Gespräch. Tuzzi betrachtet Ulrich als einen ein wenig lästigen, weil redseligen eventuellen Verbündeten gegen Arnheim, weil er Ulrichs Abneigung gegen diesen spürt. Ulrich dagegen ist fasziniert von der ihm völlig entgegengesetzten Persönlichkeit des Mannes seiner Cousine: Er sieht in ihm einen Mann der Tat, der aus Gründen der Ordnung bei einem feudal geprägten Weltbild verharrt. Ihr Gespräch dreht sich um die Fülle der Ideen und Weltbilder zum gegenwärtigen Zeitpunkt, die nach Tuzzi kaum eine Chance haben zu überleben, während Ulrich darlegt, dass die Welt der Ideen gegenüber den Trieben der Menschen sowieso nicht durchsetzungsfähig wäre. Tuzzi prägt für diese Denkweise das Schlagwort "Spekulation à la baisse", d.h. dass Ulrich zunächst vom Negativsten, was den Menschen ausmacht, ausgehe. Diese Formulierung nimmt Ulrich begeistert auf und ordnet damit die unterschiedlichen Arten des Umgangs von Führungspersönlichkeiten mit Menschen, à la baisse durch Gewalt und List, à la hausse so, wie es Diotima mit der Weltidee zur Parallelaktion versuche. Tuzzi lehnt diese Spekulationen ab, er glaubt, nur bestallte Philosophen sollten die Erlaubnis haben, über die Weltgeschichte und die menschlichen Eigenschaften müßig zu spekulieren und fühlt sich von Ulrichs Redseligkeit und dessen negativer Einstellung zur Diplomatie - dem Kernbereich von Tuzzis Tätigkeit als Außenpolitiker - abgestoßen. Plötzlich fragt er ihn, was Ulrich von Arnheims ständigem Auftauchen bei den Sitzungen hält. Das wiederum stößt Ulrich vor den Kopf, da ja bereits sehr vielen bewusst ist, dass zwischen Arnheim und Diotima ein Engagement besteht. Er redet sich raus und Tuzzi, der nur von seinem Verdacht ablenken wollte, stimmt ihm zu. Sie sprechen noch über Arnheims Schriftstellerei und seine kritische Einstellung zum Erfolg der Parallelaktion.


    In Kapitel 92 geht es weiter um Arnheim und insgesamt um die Lebenseinstellung reicher Leute, die ihren Reichtum als Charakterzug ausleben, indem ihnen dieser Sicherheit und Arroganz verleiht. Obwohl sie eigentlich nichts wirklich gut können, verleiht ihnen das Geld die Macht, die Fähigkeiten und Fertigkeiten anderer Menschen zu kaufen und auszunutzen. Der Materialismus ihrer Lebenseinstellung hat durchaus Übereinstimmungen mit dem sozialistischen Materialismus, nur ist das Ziel nicht die Bereicherung aller, sondern die eigene. Deshalb ist auch Arnheim bereit, jederzeit mit Rat und Ansehen denen zu helfen, die ihre Fähigkeiten anwenden wollten, aber mit Geld nur, wenn es letzten Endes zu ihm zurückfließt.

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