Italo Calvino: Die unsichtbaren Städte

  • Das könnte mein schönstes Buch des Jahres werden, falls nicht noch etwas Unerhörtes geschieht. Ein Literaturkonzentrat, wie ich es liebe: nicht ganz 170 Seiten stark, im Hanser-Verlag als Hardcover in angemessenem Leineneinband erschienen, und zwischen den Deckeln ein schwereloses Spiel mit Formen und Inhalten. Kurz: ich bin ganz begeistert.


    Die unsichtbaren Städte sind in einem rhythmisierte Prosatext abgefasst, der Aspekten der Stadt und des urbanen Lebens spiegelt. Die neun großen Abschnitte sind in die Rahmenhandlung eines Dialogs zwischen Marco Polo und dem mongolischen Großherrscher Kublai Khan eingefasst. Der venezianische Kaufmann berichtet seinem Gastgeber über Städte, die er auf seinen Reisen durch das Reich des Khans gesehen haben will, um dem Herrscher, wie behauptet wird, eine Vorstellung davon zu geben, was dessen Reich alles umfasst. Im ersten und im letzten Hauptabschnitt sind es jeweils zehn Städte, in den anderen sieben jeweils fünf. Alle tragen seltene und klangvolle Frauennamen, von Adelma bis Zora. Die Berichte sind unterschiedlichen Aspekten zugeordnet (Die Erinnerung, Der Wunsch, Die Zeichen, Der Tausch usw.), keine Stadt wiederholt sich allerdings. Innerhalb der Hauptabschnitte bewegen sich die Überschriften der Aspekte in der Reihenfolge stetig aufwärts, bis sie am oberen Ende angekommen sind, danach scheiden sie aus, und am unteren Ende tritt ein neuer Aspekt auf, ähnlich einem Shepard-Glissando, ein scheinbar unendlich steigender, tatsächlich aber ruhender Akkord.


    Anfang und Ende der Hauptteile enthalten jeweils einen auktorialen Blick auf das Gespräch – diese Einschübe dienen nicht nur als Einfallstor philosophischer Reflektion unter den Gesprächspartnern, sie werden vielmehr benötigt, um sowohl dem Leser als auch dem gedachten Khan deutlich zu machen, dass die Berichte nicht als unterhaltsame Märchenerzählungen vorgetragen werden, sondern als allegorische Umschreibungen. Dieses allegorische Dach über allen Einzelberichten lässt dann auch die Aktualität und die Überzeitlichkeit in die Berichte herein: die geschilderten Städte mögen noch so phantastisch und formal in einem altertümlichen Stil konstruiert sein, sie haben so aber auch Platz für verwegene Atavismen – Recyclinghöfe, zum Beispiel. Die Unbefangenheit, mit der Italo Calvino solche Brüche inszeniert, macht dann wohl auch den Unterschied zu den ganz anderen Märchenwelten etwa eines Salman Rushdie aus: Calvino ist (genauer: war) eben ein moderner Europäer, ein grundsätzlich materialistisch denkender Linker, dem aber auch gerade in einem Alterswerk ein riesiger Schatz an Wissen und Formen zur Verfügung stand. Die Berichte des Marco Polo sind folgerichtig auch nicht mystisch aufgeladen, es herrscht wohl Phantasie, aber keinerlei Magie: alles, was in den gedachten Städten erlebt und erlitten wird, ist Folge von Wille und Gesetzmäßigkeit, mag es noch so gewagt konstruiert sein. Alles, was als Allegorie erzählt wird, hat dann aber auch Entsprechungen in realen Stadtlandschaften, deren Erfolgen und deren Scheitern.


    Die Übersetzung von Burkhart Kroeber ist schon als deutschsprachiger Text betörend schön, sie schafft es sogar, Rhythmus und einen Teil des Sprachgestus aus dem Italienischen herüberzuretten: nicht das staccatto, das viele mit dieser Sprache assoziieren, sondern ein adagio mit langem Atem.