Für den Forumswettbewerb 2020 habe ich dieses Buch gelesen, in einer sehr schönen illustrierten Ausgabe vom Verlag Neues Leben Berlin, die ich antiquarisch gekauft habe. Übersetzerin ist Ruth Gerull-Kardas.
Von Dickens habe ich schon einiges gelesen, die Weihnachtsgeschichte natürlich, Copperfield, Nicholas Nickleby, Bleak House und noch anderes.
"Große Erwartungen" gilt, wie ich erst jetzt beim Nachforschen erfahren habe, als Dickens' reifstes Werk.
Zum Inhalt: Es ist ein Entwicklungsroman in Ich-Form, erzählt von einem jungen Mann namens Philip Pirrip, genannt Pip. Pip wächst als Waisenkind bei seiner wesentlich älteren, hartherzigen Schwester und deren Mann auf. Letzterer, der Schmied Joe, ist von Anfang bis Ende der ruhende Pol der Geschichte; auch wenn Pip ihn zeitweilig aus den Augen verliert, erscheint er stets als zutiefst integre Gestalt, einfältig, aber mit wahrer Herzensbildung.
Pips Kindheit ist überschattet von den typischen Ängsten und Quälereien einer einsamen Waise, wie Dickens sie stets einfühlsam zu schildern vermag. Als Halbwüchsiger - ich nehme an, im Alter von elf oder zwölf - kommt er erstmals in Berührung mit Miss Havisham, einer offenbar "vornehmen", aber leicht verrückten Dame, und deren Pflegetochter Estella, die in Pips Alter ist. Auf Miss Havishams Aufforderung kommt Pip einige Male zu Besuch. Wenig später wird ihm eröffnet, er habe einen unbekannten Gönner, der ihm ein auskömmliches Leben in London bieten wird, das Leben "eines jungen Herrn mit großen Erwartungen". Für uns Heutige klingt es etwas kurios, dass jemand seine ganze Zukunft auf eine solche Sentenz stützt, zumal sie Pip keineswegs zum Guten ausschlägt. Zunächst einmal zieht er nach London, eignet sich eine oberflächliche "gute Erziehung" an und stürzt sich in ein flottes, kostspieliges Leben. Dabei geht er stets davon aus, sein unbekannter Gönner sei niemand anders als Miss Havisham. Doch er täuscht sich.
Ein langsames, genaues Lesen lohnt sich bei diesem Buch, denn es enthält wunderbare kleine Szenen und Schilderungen: die Schauplätze des Marschlandes, die Beschreibung des Nebels, die kindlichen Angstzustände des kleinen Pip ...
Ich mag zwar Dickens sehr, habe aber oft ein unbehagliches Gefühl bei seinen Büchern, wenn er die seelischen Wandlungen beschreibt, die wir heute in Neudeutsch als "einen Moralischen" bezeichnen. Auch Pip bekommt "seinen Moralischen", aber in ganz nachvollziehbarer Weise, Schritt für Schritt, nicht in dieser galoppierenden Art, bei der der Leser nicht recht mitkommt (ich denke da zum Beispiel an bestimmte Szenen im "Oliver Twist"). Der sehr verhalten optimistische Schluss ist untypisch für Dickens - und sogar zu diesem Schluss hat er sich durch seinen Freund Bulwer-Lytton überreden lassen, wie im Nachwort zu dem Buch zu lesen ist.
Sehr gerne gelesen!