Entwicklungs- bzw. Erziehungsroman

  • Entwicklungsroman: „ein Roman eines geistigen Lebensabenteuers“!


    Hallo nicolaus schmidt,


    Zunächst herzlich willkommen im Klassikerforum. Zwar habe ich momentan ziemlich Stress, aber da sich anscheinend sonst niemand zu diesem Thema äußern will, drei Sätze zu meiner literarischen Lieblingsgattung. Von Goethe selbst wird man möglicherweise kein Zitat über die Wesensmerkmale des Entwicklungsromans finden. Zwar gilt sein „Wilhelm Meister“ als der Prototyp des Entwicklungsromans, aber diese Gattungseinteilung ist doch erst später entstanden, oder?


    Davon abgesehen beziehen sich zwar alle Entwicklungsromane nach Goethe auf seinen „Wilhelm Meister“ oder grenzen sich bewusst davon ab, aber Wielands „Geschichte des Agathon“ war sicher schon Vorbild für Goethe und eine Studie von Melitta Gerhard von 1926 verfolgt den Entwicklungsroman von Wolframs „Parzival“ bis zur Goethezeit.


    Wenn man zudem die bekanntesten Entwicklungsromane nach dem „Wilhelm Meister“ vergleicht, stellt man leicht fest, dass diese sehr unterschiedlich sind. Gemeinsame Wesensmerkmale für Novalis „Heinrich von Ofterdingen“, Jean Pauls „Titan“, Stifters „Nachsommer“, Kellers „Grünen Heinrich“, Mörikes „Maler Nolten“, Hesses „Peter Camenzind“ und Thomas Manns „Zauberberg“ zu finden, scheint nicht einfach. Meiner Meinung nach haben Thomas Mann und Robert Musil am treffensten das Wesen des Entwicklungsromans benannt:


    Thomas Mann über seinen„Zauberberg“, den er auch als „Wilhelm Meisteriade“ bezeichnete:
    „Der Held dieses Zeitromans war nur scheinbar der freundliche junge Mann, Hans Castorp, ...: in Wirklichkeit war es der homo dei, der Mensch selbst mit seiner religiösen Frage nach sich selbst, nach seinem Woher und Wohin, seinem Wesen und Ziel, nach seiner Stellung im All, dem Geheimnis seiner Existenz, der ewigen Rätsel-Aufgabe der Humanität.“


    Noch kürzer formulierte Robert Musil der seinen Roman "Mann ohne Eigenschaften" von den deutschen Entwicklungsromanen abgrenzen wollte, aber in einem Brief von 1939 gerade dadurch die kürzeste Definition eines Entwicklungsromans gab: „Es wird also wohl gewiß weniger ein Bildungsroman sein, wie man nach deutschen Muster nicht selten geschrieben hat, sondern am ehesten der Roman eines geistigen oder eines Lebensabenteuers.“


    Wofür benötigst Du diese Definition. Da Du in diesem Forum gepostet hast und nicht im „Schüler-Forum“ gehe ich mal davon aus, dass es nicht für die Schule ist?


    Gruß


    Hubert

  • [size=10]Hallo Hubert


    Interessant finde ich ja bei den Entwicklungs-, Erziehungs-, respektive Bildungsromanen, dass es in diesem Genre keine kanonisierte weiblichen Hauptprotagonistinnen gibt. Im Metzler Literatur Lexikon (2. Auflage, 1990) jedenfalls wird unter den entsprechenden Einträgen kein weiblicher Prototyp genannt. In dieser Hinsicht interessant ist Anja Mays Publikation "Wilhelm Meisters Schwestern. Bildungsromane von Frauen im ausgehenden 18. Jahrhundert" (2006). Darin wird Sophie von La Roches "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" und Friederike Helene Ungers "Julchen Grünthal" besprochen. Mich würde hier interessieren, welche weiteren deutschen Romane sich unter dem Aspekt "weibliche Protagonistin" aufzählen liessen. Ideen?


    Du hast recht, die Bezeichnung "Bildungsroman" ist erst nach Goethes "Wilhelm Meister" aufgekommen (Wilhelm Dilthey hatte den Begriff in Umlauf gebracht; er verwendete den Begriff seit 1870). Ebenso stimme ich dir zu, dass die einzelnen Romane, die in die Schublade "Entwicklungsroman" abgelegt werden, sehr unterschiedlich sind. So ganz simpel ausgedrückt ist der gemeinsame Nenner, dass sie alle eine Entwicklung eines Individuums darstellen. Sehr verwirrend ist, dass die Begriffe "Entwicklungsroman", "Erziehungsroman" und "Bildungsroman" häufig synonym für das gleiche Werk verwendet werden.


    Wäre super, wenn sich andere Interessierte dazu äussern würden!


    Grüsse,
    Fabienne