L y r i k...? Sommergedichte...?
Mich interessiert besonders die deutschen Naturlyrik seit dem Beginn des 19. Jh.s.
Dieser "Vertreter" ist mir der wichtigste, aus dem 20. Jh.: Wilhelm Lehmann.
Mein Lieblingsgedicht unter den vielen deutschen Sommerliedern...?
Ja...– hier ein fast vergessenes Gedicht von dem größten deutschen Naturlyriker?
Da biete ich dieses kostbare, "natürliche", weil naturnahe Poeticon an; es ist ein nicht nur frommes "Gebet" ("...auf allen meinen Wegen.."; als Endzeile!) - vielmehr ein sich steigerndes, Welt und Glauben, Natur und Idee, Materie und Sprache vermittelndes Wahrnehmungs-Gedichtnis:
Wilhelm Lehmann:
Sonnenwende
In zarte Schlinge faßt den Fuß,
Den staubigen, das Zittergras.
Mir deucht die Wasserprimel blaß
Von langen Tages langem Kuß.
Da schon die Rosenkrone fiel,
Die Ulmennuß, der Ahornstiel,
Nimmt sie ein Wind sich noch zum Spiel
Auf ihren letzten Wegen.
Mit Mottenleib und Fliegenrest
Hält sie der Spinnenfaden fest.
Die Hitze kocht den Spinnenstrick
Im überhellen Mittagslicht
So hell, daß mir das Auge bricht;
Er schlingt sich auch um mein Genick,
So will ich mich nicht regen.
Mein Haar, dem Wind ein Zeitvertreib,
Mit Rosenkrone, Fliegenleib,
Mit Ulmennuß und Ahornstiel
Und mit dem Grashalm, schnell gemäht,
Vom Spinnenfaden eingenäht,
Kann ich mich nicht mehr regen -
Mit allem, was dem Staub verfiel
Und dem die Schönheit nichts genützt,
Von nichts als vom Gedicht beschützt
Auf allen meinen Wegen.
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Ein Sommer-Gedicht von Lehmann, geschrieben zum jahreszeitlichen Höchststand der Sonne, ohne mythisch trivial-astrologischen Quatsch mit Sonnenwendzirkus; am 17.6.1933; geschrieben „vor einem Gewitter“, wie er, der Pädagoge und Beamte und Biolehrer und Naturschriftsteller („Bukolisches Tagebuch“ z. B.) es aufzeichnete; der sich der politischen Bedeutung des Schicksalsjahres 1933 in Deuschland bewusst war wie jeder wahre, geistespolitische Intellektuelle.
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Der Erstdruck erfolgte in einer Zeitschrift , in: Die Schildgenossen. 13; Januar-Februar-Ausgabe 1934; dann in der Buchausgabe „Antwort des Schweigens“. Berlin 1935.
Aus: W. L.: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 1. Sämtliche Gedichte. Stuttgart 1982: Klett-Cotta. S. 45.
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Als Einleitungszeilen zum Gedicht hatte er in ersten Notizen in seinem Tagebuch vermerkt:
„Mit grüner Schleife meinen Fuß
fängt Taumelloch und Zittergras.“
Und dann weitergetextet:
„Mit grüner Hand fängt meinen Fuß,
Den staubigen, das Zittergras.“
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Ja, was ist „natürlicher“..., “naturnäher“ - lyrisch oder biologisch - und deshalb ästhetisch „schöner“?
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Ich bin interessiert zu erfahren, wer und wie und mit welcher Wertung sich für das Gedicht und hundert andere Texte von Wilhelm Lehmann interessieren mag...