Albert Camus: Der Fremde

  • Büchners Woyzeck und Camus‘ Fremder folgen merkwürdigerweise einem ähnlichen Schema und ihre nachhaltige Rätselhaftigkeit ist vielleicht rätselhafter ist als die in ihnen abgehandelten Morde selbst. Im Fremden erschießt die Hauptfigur Meursault einen ihm unbekannten Algerier in der Nachmittagshitze eines nordafrikanischen Mittelmeerstrandes, während Büchners Woyzeck eine Geliebte mit dem Messer massakriert, die sich nicht mehr hat zuschulden kommen lassen als einen Seitensprung, wobei ihre Beziehung zum Täter noch nicht einmal klar definiert ist und Büchners Moralvorstellungen ansonsten alles andere als zimperlich sind.


    Beide Morde werfen also gravierende ethische Fragen auf, die bis heute ungeklärt sind, so dass sich die Interpretation damit äußerst schwer tut. Da andererseits die Verweigerung von Sinn gewissermaßen zum Wesen der Moderne gehört, hat sich der Kulturbetrieb mit der scheinbaren Unlösbarkeit beider Fälle arrangiert und im einen Fall das Absurde, im anderen einen nachvollziehbaren, wenn nicht berechtigten Ausraster aus sozialer Deprivation dafür verantwortlich gemacht. Und man hat sich in diesen Erklärungsansätzen behaglich eingerichtet, allerdings mit problematischen Konsequenzen, die denjenigen, die sich Institutionen auf einem nachgewiesenen Holzweg gegenübersehen, nicht unähnlich sind: Man sträubt sich mit Händen und Füßen gegen jede auch noch so begründete Richtungsänderung, weil selbige jahre- bzw. jahrzehntelange Irrtümer zwangsläufig und peinlichst offensichtlich machen würde.


    Vor fast 10 Jahren habe ich spaßeshalber einen Detektiv auf Camus' Fall Meursault angesetzt, der sehr schnell das Motiv für die Schüsse auf den armen, unschuldigen Algerier herausfand. Der Essay wurde in der in Graz erscheinenden Literaturzeitschrift Lichtungen (110) publiziert, freilich ohne nennenswerte Aufmerksamkeit hervorzurufen. Interessanterweise war die Voraussetzung für diesen Ermittlungserfolg eine brisante Hypothese in Bezug auf das Mordmotiv im Fall Woyzeck.


    Warum weder die Literaturwissenschaft noch der Kulturbetrieb mit Theatern, Literaturkritikern usw. eine fast simpel zu nennende detektivische Untersuchung einer fiktiven Mordgeschichte nicht hinbekommt, gehört zu den Fragen, die zu stellen wohl kaum zu vermeiden sein wird.


    Wir sind im Handumdrehen bei dem springenden Punkt. Die Geschichte teilt sich ganz ausdrücklich in zwei Abschnitte. Erstens: die Tat mit ihrer Vorgeschichte. Zweitens: Verhaftung, Untersuchung und Prozess. Dabei scheint merkwürdig, dass der Prozess sich überaus intensiv mit der Beerdigung der kurz vor dem Mord im Altersheim verstorbenen Mutter des Täters und seiner Beziehung zu ihr befasst. Als Zeugen werden unter anderem der Direktor und Pförtner des Altersheims sowie ein alter Mann aufgerufen, der mit der Mutter im Heim war. Der Angeklagte wird gefragt, warum er seine Mutter ins Heim gab. Lang und breit werden die Beerdigung und das Verhalten des Täters danach erörtert. Offensichtlich will die Anklage den Charakter des Täters anschwärzen und das Verfahren scheint so üblich und plausibel, dass es uns auf eine falsche Fährte lockt. Meursault habe nicht nur bei der Beerdigung seiner Mutter mehr oder weniger unbeteiligt, ja gefühllos gewirkt (und er tut das übrigens auch beim Erzählen), sondern sich auch kurz danach mit einer Freundin am Strand vergnügt. Meursault habe den Algerier umgebracht, heißt es, weil er seine moralische Schuld der Mutter gegenüber kaschieren wolle. Denn der Mord ereignet sich so offensichtlich zufällig und grundlos, dass das Gericht nicht daran vorbeikommt, sozusagen im Wasser Linien zu ziehen und Haare zu spalten. Irgendwie tut einem der Franzose direkt leid. Diesen Prozess hat er nicht verdient. Dabei vergisst man leicht, dass er den Algerier auf dem Gewissen hat. Wir haben Mitgefühl mit dem Mörder.


    Während das Publikum, einschließlich der Profis, sich über die Implikationen der Geschichte, das Existenzielle, Absurde usw., den Kopf zerbricht, nimmt mein Detektiv die Details unter die Lupe: Meursault gibt fünf Schüsse auf sein Opfer ab. Anscheinend ist dieses bereits nach dem ersten Schuss tot. Trotzdem schießt Meursault noch vier Mal. Warum diese vier Schüsse, fragt der Untersuchungsrichter? Mit dieser Frage trifft er den Nagel auf den Kopf, und der Text lässt keinen Zweifel an ihrer Bedeutung. Freilich kommt der Richter anschließend auf Gott und die Sinnfrage zu sprechen und lenkt damit vom Thema ab. Nur den Detektiv führt er nicht an der Nase herum. Die Pause nach dem ersten Schuss elektrisiert ihn, sein Instinkt sagt ihm: Hier liegt der Schlüssel.


    Kurz darauf hat er die Lösung. Ihm fällt auf, dass der Täter offenbar registriert, dass sein Opfer nach dem ersten Schuss leblos ist. Meursault stellt das aus der Distanz fest. Damit haben wir das entscheidende Indiz, das der Detektiv nun unter die Lupe nimmt. Denn normalerweise würden wir nach dem ersten Schuss zwei Reaktionen erwarten, nur nicht die von Meursault. Entweder nämlich handelt der Täter im Affekt, warum auch immer, dann würden die weiteren Schüsse unmittelbar folgen. Oder aber er zögert: Dann schaut er sich das wehrlose Opfer aus der Nähe an, um dessen Zustand genau beurteilen zu können. Meursault registriert den Tod des Opfers, zögert und gibt dann vier weitere Schüsse ab. Diese Handlungsweise ist so ungewöhnlich und auffallend, dass der Untersuchungsrichter geradezu über sie stolpert. Anders ausgedrückt, legt Camus hier eine Spur. Meursaults vier Schüsse gelten genau genommen der Leiche. Genauer gesagt, einer Leiche. Das ist weniger absurd, als es auf den ersten Blick aussieht. Denn als der Detektiv das Rätsel der vier Schüsse nach dem Zögern gelöst hat, wird ihm auch klar, warum der erste Schuss fallen muss: Ganz einfach, um für diese Leiche zu sorgen, auf die Meursault dann vier Mal schießen kann. „Vier kurze Schläge an das Tor des Unheils“, heißt es in dem Text. Vier! Der erste spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle! Das Motiv liegt in dem Wunsch, auf eine Leiche zu ballern.


    Von einer Leiche war aber schon im ersten Teil der Geschichte die Rede: Meursaults Mutter, er nennt sie durchgehend „Mama“. Ist der Leser erst einmal so weit gekommen, bestätigt der Text diese Hypothese umgehend. Hitze, Sand usw., die laut Meursault entscheidenden Tatumstände, werden mit der Beerdigung in einen direkten Zusammenhang gestellt. Meursault schießt auf seine Mutter. Tat, Prozess und der scheinbar absurde implizite Vorwurf (Muttermord) hängen logisch zusammen.


    Nun bleibt nur noch die – allerdings entscheidende – Frage: Warum dieser partiell symbolische Muttermord, der immerhin ein unschuldiges Opfer erfordert? In der Zelle findet der Täter einen Zeitungsausschnitt (ein geradezu klassisches Indiz!), der den Plot eines anderen Camus-Dramas (Das Missverständnis) enthält: Eine Mutter bringt (unwissentlich) ihren Sohn um. Das heißt, sie bringt aus Habgier jemanden um, der sich dann als ihr Sohn herausstellt.


    Solch eine Binnengeschichte wird nicht zufällig, nicht ohne Grund erzählt. Vor allem nicht, wenn sie so konstruiert daherkommt. Sie ist vielmehr ein Schritt in Richtung Erkenntnis. In der Abgeschiedenheit und Stille der Zelle meldet sich sozusagen Meursaults Erinnerung. Da gibt es eine Mutter, die ihren Sohn vernichtet, weil sie ihn nicht als solchen erkennt und als Fremden behandelt. Vor Gericht sagt Meursault: „Alle gesunden Menschen wünschen mehr oder weniger den Tod derer, die sie liebten.“
    Er wünscht also tatsächlich den Tod seiner Mutter. Freilich klingt diese Aussage auf den ersten Blick etwas merkwürdig. Was meint Meursault damit?


    Jetzt muss der Detektiv kombinieren. Meursault redet in diesem Punkt etwas um den heißen Brei herum, was freilich verständlich ist. Aber er hat ein Thema, das sich wie besessen durch die ganze Geschichte zieht. Er liebt Sonne und Meer, aber er fühlt sich von der Sonne bzw. ihrer Hitze vergewaltigt. Meer heißt auf Französisch la mer . Mutter la mère. Beide klingen absolut identisch. Der Mord findet am Meer statt und die Geschichte beginnt mit dem Tod der mère, bei dem auch eine infernalische Hitze eine Rolle spielt. Typisch für die Geschichte ist, dass Meursault in der Verhandlung einen Knaller loslässt, den aber keiner zur Kenntnis nimmt, weder das Gericht noch das Publikum. Meursault sagt: „Schuld an allem hätte die Sonne.“ Er wird sogar noch deutlicher: "


    „Die Hitze legte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich und stemmte sich mir entgegen. Und jedes Mal, wenn ich ihren heißen Atem auf dem Gesicht fühlte, biss ich die Zähne aufeinander, ballte die Fäuste (…) und spannte mich, um über die Sonne und den dunklen Rausch, den sie über mich ergoss, zu triumphieren.“


    Meursaults Aussage klingt tatsächlich wie das Erlebnis einer Vergewaltigung. Durch die Sonne. Warum schießt Meursault dann aber auf die Mutter und wünscht sich ihren Tod? Wenn sie ihn geliebt hat, wie die Sonne, und wenn Meursault sie so zurückgeliebt hat, dann müsste die Aussage so verstanden werden:


    „Mutter legte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf mich und stemmte sich mir entgegen. Und jedes Mal, wenn ich ihren heißen Atem auf dem Gesicht fühlte, biss ich die Zähne aufeinander, ballte die Fäuste (…) und spannte mich, um über die Mutter und den dunklen Rausch, den sie über mich ergoss, zu triumphieren.“


    Der dunkle Rausch ist der Beweis, dass man hier tatsächlich Mutter oder, wie Meursault sagt, Mama lesen sollte, denn auf sie ist er gemünzt. In Nordafrika ist die meteorologische Hitze eine Trivialität, das weiß auch Camus. Seine Erzählung beschreibt nicht nur einen psychischen Ausnahmezustand präzise, sondern bringt auch das Kunststück fertig, die Sprachlosigkeit zu gestalten, die mit dem Syndrom des sexuellen Missbrauchs durch einen Elternteil unausweichlich verbunden ist.


    Diese detektivische Untersuchung ist noch keine Interpretation, sondern nur deren Voraussetzung. Hat diese Geschichte eine autobiografische Ursache? Was erzählt sie denjenigen, die unter keinem ausgeprägten Mutterkomplex leiden? Eignet Sonne, Hitze, Meer, diesen Motoren eines merkwürdig unterkühlten wie unkontrollierbaren Affektes, eine umfassende symbolische Bedeutung? Dafür sprechen nicht zuletzt die glasklare Sprache dieser Erzählung und ihre durchschlagende Wirkung.

  • Professorin Sändig (Potsdam) bemerkt zu meiner Analyse:


    "Ich habe Ihre Arbeit mit Interesse gelesen und möchte dazu Folgendes sagen: Das Rätselhafte und Interessante des Etranger liegt eben der Vieldeutigkeit dieser knappen, klaren Erzählung; viele Deutungsmöglichkeiten bieten sich an und sind durchexerziert worden. Dabei wurde auch das Motiv der Sonne (wie könnte es anders sein) schon angeführt, auch das Inzesthafte. Ich meinerseits habe mich an eine – unvollständige wie jede andere auch – Erklärung aus dem kolonialen Kontext heraus gehalten: das Leben eines „arabe“ ist halt so wenig wert, dass dieses Opfer in der Verhandlung fast keine Rolle spielt. Die eindeutige, alles erklärende Deutung gibt es meiner Meinung nach nicht. Das eben macht den Reiz dieses Camus-Werkes aus. Schön, dass es auch Sie dazu angeregt hat."


    Meine Antwort:


    Schön, dass schon "durchexerziert" worden ist, nur hat sich das wohl noch nicht überall herumgesprochen und Prof. Sändig verrät auch nicht, von wem. Selbstverständlich ist jedes bedeutsamere Werk irgendwie vieldeutig, tatsächlich stellen die von mir markierten Motive (vier Schläge an das Tor des Unheils, nicht fünf usw.) aber so etwas wie einen roten Faden dar, an dem man nicht vorbeikommt. Letztendlich wirkt diese akademische Reaktion auf mich wie ein Abwiegeln, ist scheinbar eh beliebig, was in einem Text genau drinsteht. Nur "Wissenschaft" sollte man das nicht nennen.


    Ergänzung:


    Die Langfassung meines Textes (auf Französisch bei BoD und in Lichtungen 110, Graz) war ursprünglich wirklich als Satire angelegt. Dort spricht der Detektiv, den Camus sozusagen ausgelassen hat. Der Fremde kann ja tatsächlich als Kriminalfall gelesen werden: Wir haben einen Mord, die Mordwaffe und den Taeter, nur eben kein Motiv.


    In einem Krimi kann an dem Unterschied zwischen vier oder fünf Schüssen u.U. ein ganzer Fall festgemacht werden. In diesem Genre regiert die kriminalistische Logik, der Held der intellektuellen Arbeit ist der Detektiv, die höhere Instanz ist die Gerechtigkeit bzw. die innere Logik eines Falles.


    Ich habe mir also vorgestellt, ein fiktiver Detektiv liest vor seinem Kamin bei einer Tasse Tee Camus Etranger. Als es um die Tatumstände geht, den tödlichen ersten Schuss, das Zögern und die vier weiteren, anscheinend völlig überflüssigen Schüsse stutzt er. Er wittert ein Geheimnis. Auch Camus fiktiver Untersuchungsrichter reagiert entsprechend. Er spielt diesen - wörtlich - "dunklen Punkt" (und zwar den einzigen seiner Meinung nach!) so hoch, wie es überhaupt nur geht, bis zur absoluten Sinnfrage. Nur ... der Leser weiß mehr, vor allem dass der Täter kurz nach der Tat von den "viere kurzen Schlägen an das Tor des Unheils" spricht. Vier oder fünf Schüsse: das könnte vielleicht nebensächlich sein, obwohl das bei einem Text dieser Qualität nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber es geht eben nicht nur um vier oder fünf Schüsse, sondern um schicksalhafte Schläge an ein schicksalhaftes Tor. Und zwar vier, nicht fünf. In dem Unterschied liegt das ganze Drama. Es sind die letzten Worte des ersten Abschnitts, die Metapher vom "Tor des Unheils" hat eine (zunächst unterschwellige) Reichweite, die die ganze Klasse dieses durchdringenden Textes veranschaulicht.


    Je länger der Detektiv liest, umso mehr verdichtet sich das Bild. Insbesondere auch durch solche Aussagen Meursaults wie: "Alle gesunden Menschen wünschen sich mehr oder weniger den Tod derer, die sie lieben." Selbstverständlich stellt sich hier die dringende Frage, was der Täter mit "gesund" und "lieben" meint. Unter welcher Voraussetzung könnte vergleichsweise "gesund" sein, jemanden, der einen liebt, lieber zu töten, als diese Liebe zuzulassen? Wie sähe solch eine fatale Liebe wohl aus? Letztendlich läuft das alles in besagter Metapher vom "Tor des Unheils" zusammen. Zu ergänzen ist der - wörtlich - "dunkle Rausch".


    Mein Detektiv ist wie gesagt nicht der Ansicht, dass das Auslegungssache ist, sondern, sozusagen, berufsspezifische Logik. Freilich sollen damit weitere Bedeutungsebenen nicht ausgeschlossen werden. Um Gottes Willen, nein. Unter er verlangt auch nicht, dass man ihm zuhört. Er will auch keine Analysen von Harmonielehre, Kompositionstechniken, Kontrapunkt und Sonatenhauptsatzform vorgesetzt bekommen, wenn er Musik genießt. Trotzdem hält er sie nicht für Blödsinn.