Dezember 2010 - Ovid: Heroides (Heldinnen)

  • Mir persönlich kam Racines Phädra doch innerlich sehr zerrissen vor, auf die ich im zweiten Teil der verlorenen Zeit aufmerksam wurde. Insbesondere sprachlich fand ich das Stück sehr gelungen. Der Umstand, dass es sich hier nicht um Blutsverwandtschaft zw. H. u. P. handelt, relativiert m.M.n. dennoch insgesamt das inzestutiöse der gesamten Situation. Zumal bei Racine auch nichts derartiges tatsächlich vorkommt, die göttliche Strafe daher doch einigermaßen ungerechtfertigt erscheint. Irritiert war ich dennoch vom Vorwort Racines, der dort vom Gedanken an eine Vergewaltigung Phädras durch Hippolyt spricht, was mir im eigentlichen Drama nirgends augenfällig wurde. Welche Stelle mag der Autor da gemeint haben? Vielleicht wurde dies von mir beim allzu flüchtigen Lesen auch übersehen, da ich ursprünglich nur mit der verlorenen Zeit voran kommen wollte und sich die Lektüre der Phädra doch halbwegs unvermittelt ergab.


    Gruß
    Meier

    "Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt" * Keimzeit

  • Hallo meier,


    schön, dass sich noch jemand für Racine interessiert!



    Irritiert war ich dennoch vom Vorwort Racines, der dort vom Gedanken an eine Vergewaltigung Phädras durch Hippolyt spricht, was mir im eigentlichen Drama nirgends augenfällig wurde. Welche Stelle mag der Autor da gemeint haben? Vielleicht wurde dies von mir beim allzu flüchtigen Lesen auch übersehen ...


    Nein, Du hast nichts übersehen, oder anders formuliert: Vielleicht sind wir gemeinsam mit Blindheit geschlagen ... :zwinker:



    ... auf die ich im zweiten Teil der verlorenen Zeit aufmerksam wurde.


    So ging es mir auch; ich benötigte allerdings zusätzlich den Ovidschen Anstoß, um zu Racines Drama zu greifen.



    Insbesondere sprachlich fand ich das Stück sehr gelungen.


    Zustimmung! Ich kann allerdings nicht beurteilen, ob Schillers Übersetzung "Schuld" daran ist und ob der französische Text ähnlich elegant klingt. Ich habe leider nur eine deutsche Ausgabe.


    Viele Grüße


    Tom

  • Zitat von Autor: meier« am: Gestern um 13:37 »

    Irritiert war ich dennoch vom Vorwort Racines, der dort vom Gedanken an eine Vergewaltigung Phädras durch Hippolyt spricht, was mir im eigentlichen Drama nirgends augenfällig wurde.


    Ihr könnt eigentlich nur diese Stelle im Vorwort meinen:


    Zitat von Racine: Préface ...

    Hippolyte est accusé, dans Euridipe et dans Sénèque, d’avoir en effet violé sa belle-mère: vim corpus tulit. Mais il n’est ici accusé que d’en avoir eu le dessein. J’ai voulu épargner à Thésée une confusion qui l’aurait pu rendre moins agréable aux spectateur.


    Racine spricht hier davon, dass er Euripides’ und Senecas Phädra-Dramen, in denen Hippolyt Theseus gegenüber beschuldigt wird, seine Stiefmutter vergewaltigt zu haben, in seinem Drama dahingehend verändert hat, dass dort "nur" behauptet wird, Hippolyt habe die Absicht gehabt... Racine wollte damit Theseus’ Reaktion herabmildern , die ihn sonst dem Zuschauer „ weniger angenehm“ gemacht hätte.
    Kein Wunder also, dass von „Vergewaltigung“ im Drama nicht die Rede ist, „nirgends augenfällig“ wird.


    Das Vorwort ist übrigens für unsere Thematik sehr interessant, weil darin beschrieben wird, welche Änderungen Racine im Hinblick auf seine Quellen (Ovid wird nicht genannt!) sonst noch vorgenommen hat und warum! Es sind immer Änderungen in Richtung Verharmlosung und Zügelung des Stoffes mit dem Ziel, die Personen weniger hassenswert, ihre Handlungen und Motive weniger niedrig und bösartig erscheinen zu lassen. Das entspricht der französischen Dramendoktrin und ihren Regeln der vraisemblance, grandeur und besonders bienséance (Anstand!) etc.!
    Ja, Racine hat seine Phèdre, wie du, Sir Thomas, in deinem Vergleich so treffend feststellst, zivilisierter, kultivierter angelegt .
    Ovid lässt Phädra, wie ich jetzt beim nochmaligen Lesen bemerkt habe, quasi programmatisch die Begründung für ihre Maßlosigkeit und Zügellosigkeit geben:
    Kein Liebender achtet auf das, was sich ziemt.


    Allerdings sehe ich sie auch nicht als „femme fatale“ oder Vorläuferin einer solchen. Ja, sie wird zum Verhängnis für den Mann. Aber sie liefert sich selbst rückhaltlos aus und macht sich zum Narren. Eine femme fatale lässt den Mann sich zum Affen machen, er ist es, der unglücklich und aussichtslos liebt, nicht sie.


    Erstaunlich, wie wenig negative Gefühle diese eigentlich extreme Figur in mir hervorruft. Eher meine ich, wird mir hier etwas vermittelt, was Ovid in den Metamorphosen über die personifizierte Invidia sagt : Sie ist ihre eigene Strafe! Das gilt auch für seine anderen verbrecherischen bösartigen Gestalten: Das Verbrechen birgt Qual und Strafe schon in sich selbst. Ovid dämonisiert Phädra nicht. Sie ist im Grunde ein armes Schw… Mit dem Brief scheint er uns sagen zu wollen: Seht her, was die Liebe aus jemandem machen kann. Wozu sie Menschen treibt!

    Nicht zu vergessen: Venus lässt Phädra so abartig lieben, um sich an dem der Liebe abholden Hippolyt zu rächen und ihre Macht zu beweisen.



    Zustimmung! Ich kann allerdings nicht beurteilen, ob Schillers Übersetzung "Schuld" daran ist und ob der französische Text ähnlich elegant klingt.



    Doch, das tut er!
    Wenn man elaborierte Sprache und das leise Scheppern von Alexandrinern mag. Hélas!

  • Ich habe jetzt den 14. Brief abgeschlossen – Zeit für einige Gedanken und Anmerkungen.


    Während die Briefadressaten häufig aus der ersten Riege der mythologischen Heldengalerie stammen, sind die Briefeschreiberinnen oftmals nahezu unbekannte bzw. weniger bekannte Figuren. Von Deianira, Hypsipyle oder Hypermestra hatte ich zumindest noch nichts gehört, und auch Namen wie Penelope oder Briseis setzen mehr als eine nur oberflächliche Homer-Kenntnis voraus.


    Warum hat Ovid Frauen wie Klytaemnestra, Andromache, Elektra oder Iphigenie ignoriert? Liegt darin eine Wertung? Erschienen ihm diese Geschichten und Schicksale nicht interessant genug? Gerade die beiden Erstgenannten bieten sich mMn. für dieses Briefprojekt an.


    Welches Bild der Liebe vermittelt Ovid? In den Briefen 1 – 14 leiden und klagen Frauen, die sich nach ihrem Geliebten oder Ehemann sehnen oder sich hintergangen fühlen. Die Männer erscheinen oft als gefühllose Abenteurer und gewissenlose Schwerenöter, die von ihren Frauen/Geliebten nicht viel zu halten scheinen. Besonders schlecht weg kommen Theseus und Iason. Ich bin mir nicht sicher, ob die Treu- und Gefühllosigkeit dieser beiden Recken erst von Ovid herausgearbeitet und betont wurde, oder ob die Vorlagen eine ähnliche Bewertung enthalten.


    Ovids Heldinnen entwerfen häufig ein verzweifeltes Bild unerfüllter, nicht erwiderter Liebe. Nur die wenigsten Geschichten haben das, was man als happy end bezeichnen kann. Einige Frauen werden sich anschließend gar umbringen. Ich kenne leider nicht die frühe Liebeslyrik Ovids (Amores, Ars amatoria, Remedia amoris) und kann daher nicht beurteilen, ob er eine grundsätzlich pessimistische Einstellung zu Herzensangelegenheiten hatte. In den „Heroides“ jedenfalls ist er weit davon entfernt, die Liebe als Glück, Erfüllung oder kreatives Spiel zu schildern. Das deckt sich weitgehend mit den „Metamorphosen“, in denen häufig der dumpfe Trieb regiert. Ich habe deshalb ein wenig die Idee, dass in der Antike unter „Liebe“ evtl. etwas anderes verstanden wurde als heute.


    Welches Frauenbild steckt hinter all den Geschichten und Briefen? Ovids Heldinnen leben in einer Welt, in der Männer herrschen, Politik machen, Kriege führen, Frauen begehren, verführen oder einfach vergewaltigen. Das erzeugt Ohnmacht und färbt im schlimmsten Fall ab. Warum hat ausgerechnet die Rächerin Medea einen 2.000 Jahre währenden Siegeszug durch die Literaturgeschichte angetreten? Weil sie sich gewehrt hat? Weil sie mit den Mitteln der Männer den „Geschlechterkrieg“ angenommen und geführt hat? Wir wissen, dass Medea eine der Lieblingsfiguren Ovids war, dass er ihr einen ansehnlichen Teil der „Metamorphosen“ und sogar ein (leider verschollenes) Drama gewidmet hat. Möglicherweise hat sie seinem Frauenbild am ehesten entsprochen: Hilfsbereitschaft bis zur Selbstaufgabe, gepaart mit Gnadenlosigkeit, wenn der Mann den Bogen überspannt.


    Ich wünsche Euch allen einen (bitte nicht wörtlich gemeinten) guten Rutsch und ein Superjahr 2011!


    Tom

  • Salve conlector! Laetum novum annum cum Publio Ovidio Naso!


    Ich bin in etwa so weit wie du.

    Je tiefer ich mich hineinlese in die Heroides, umso mehr habe ich den Eindruck, dass es in diesen fiktiven Briefen mythischer Heldinnen nicht so sehr darum geht, verlassenen und vom Schicksal übergangenen Frauen erstmals eine Stimme zu geben (Wiki) oder sie als unschuldige Opfer treuloser Männer darzustellen, sondern dass hier ein Spektrum unterschiedlicher Arten der Liebe und des Liebeskummers vor uns ausgebreitet wird, das dem Leser Elend, Tragik, aber auch Torheiten und Missverständnisse in der Liebe vorführt, in der Mehrzahl abschreckende Beispiele.

    Die Heroides sind das zweite oder (je nachdem wie die verschollene Medea platziert wird) dritte Werk Ovids nach den Amores, erotischen Gedichten, die auch schon Tipps und Lebenshilfe enthalten, und vor der ausgesprochenen „Ratgeberliteratur“ Ars amatoria und Remedia amoris und den Schmink- und Pflegetipps für Frauen. Die Heroides scheinen mir eine Ars amandi infeliciter(frei nach Watzlawick: Die Kunst unglücklich zu lieben) zu sein, die uns vorführt, wie man es nicht machen sollte.


    Zum Beispiel Medeas Brief an Jason:
    Sie beklagt erwartungsgemäß seine Untreue und Undankbarkeit, zählt auf, was sie alles für ihn getan und aufgegeben hat, lässt aber nebenbei so einen Satz fallen:

    Es ist eine Art Lust, dem Undankbaren die Wohltat vorzuhalten. Die will ich genießen…

    Seiten weiter gipfelt die Tirade in dem Satz :

    Ich will dich, den ich verdient habe… dass du undankbar sein kannst, selbst das ist mein Verdienst.


    Spätestens hier wird der Anteil Medeas am Liebesdesaster deutlich. Sie ist in der Macht- und Manipulationsfalle, fordert Liebe ein für Wohltaten, obwohl gerade sie zu wahren Liebestötern werden, weil sie den anderen ersticken, entmündigen und abhängig machen können. In ihrer Beziehung war von Anfang an der Wurm. Warum meinte sie sich die Liebe Jasons erkaufen, verdienen zu müssen? Fühlte sie sich wertlos? Schachern und Aufrechnen ist ja gerade das Ende der Liebe oder lässt sie gar nicht erst aufkommen.
    Diese mächtige mit Zauberkräften ausgestattete Frau zeigt sich der Liebe gegenüber ohnmächtig und hilflos (ein Topos bei Ovid) und sucht ihr Heil in heilloser Zerstörung.

    Wohin mich meine Wut führen wird, werde ich folgen, sagt sie in ihrem Wahn, wohl wissend, dass Wut der schlechteste Ratgeber ist.

    Es gibt noch viele weitere Beispiele auch in anderen Briefen für die Torheit, Blindheit und den Liebeswahn der Heldinnen, z.B. die immer wieder kehrende Klage, dass man alles aufgegeben und auf die „Liebeskarte“ gesetzt habe. Das war ja gerade der Fehler. Übrigens finde ich das alles (ich wiederhole mich) ziemlich modern, bzw. ich muss feststellen, dass sich bis heute nichts wesentlich geändert hat. Hier kann man heute noch Hilferufe mit ähnlicher Thematik lesen.
    Nach allem, was ich bis jetzt von den Heroides gelesen habe, glaube ich nicht, dass Ovid so etwas wie einen Frauenstandpunkt herausarbeiten oder plump gesagt, feministisch der Damenwelt Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Ich meine, es sind allgemeingültige Liebesdramen, in die viel von Ovids Liebeserfahrungen eingeflossen ist. Ovid schreibt in der ars amatoria, dass sie für Männer und Frauen gleichermaßen gelte, so scheint es mir auch mit den Heroides zu sein. Warum sind es vor allem Briefe von Frauen? Auch in den Metamorphosen kamen ja Frauen länger zu Wort. Und überhaupt: Die Dramen und Tragödien von Sophokles und Euripides haben vor allem Protagonistinnen, später bei Racine, Hebbel u.a. gibt es fast nur weibliche Helden. Und die bedeutendsten Romane des 19.Jahrhunderts? Emma, Anna, Effi!


    Also, mich würde entsprechend zu Flauberts Diktum Mme Bovary c’est moi ein Medea/ Phädra ego sum von Ovid nicht wundern. :zwinker:

  • In einem meiner Lieblingsgedichte von Walter von der Vogelweide (Mädchenlieder: Under der linden) erzählt ein Mädchen von einer Liebesnacht; es beginnt so:


    Under der linden
    an der heide,
    da unser zweier bette was,
    Da mugt ihr vinden
    schone beide
    gebrochen bluomen unde gras.
    vor dem walde in einem tal,
    tanderadei,
    schone sanc diu nahtegal.

    Unter der Linde
    auf der Heide,
    wo unser beider Lager war,
    da kann man sehen
    schön gebrochen
    Blumen und Gras.

    vor dem Wald in einem Tal
    tanderadei
    schön sang die Nachtigall


    1200 Jahre vorher lässt Ovid Sappho an ihren fernen Geliebten Phaon (Heroides, Brief XV) schreiben:


    ivenio silvam, quae saepe cubilia nobis
    praebuit…
    .......................noti mihi caespitis herbas;
    de nostro curvum pondere gramen erat,
    incubui tetigique locum, qua parte fuisti;

    ...............et nullae dulce queruntur aves;
    sola virum non ulta pie maetissima mater
    concinit ....................................ales Ityn.

    Ich finde den Wald, der uns oft eine Lagerstätte bot.... Ich erkannte die zerdrückten Gräser des mir bekannten Rasenstücks … Von unserem Gewicht war das Gras geknickt. Ich liege dort und berühre die Stelle, wo du gelegen hast
    ...
    die tieftaurige Mutter (Prokne), die sich frevlerisch an ihrem Mann gerächt hat, besingt als Vogel
    (Nachtigall!) den Itys


    Die Stimmung ist jeweils eine andere. Das Mädchen bei v. der Vogelweide denkt mit verstohlener Freude an den Ort und die Spuren, die sie hinterlassen haben, während Sappho dort um ihren Geliebten trauert. Aber sind das nicht verblüffende Übereinstimmungen? Zufall? Der Kommentar sagt nichts dazu. Ovid war im Mittelalter sehr bekannt.
    Wie dem auch immer sei, ich finde es faszinierend, wie literarische Motive durch die Jahrhunderte weitergegeben werden und irgendwann wieder auftauchen. Übrigens könnte dieser spezielle locus amoenus auch von Sappho selbst stammen, dann wäre das Motiv noch mal 600(?) Jahre älter.
    Reclam-Kommentar zu diesem Brief: Die Sapphoforschung nimmt an, dass Ovid mit vielen echten biographischen Einzelheiten - er soll auch Sapphozitate eingearbeitet haben - auch Anekdotisches vermischt hat.
    Leider wird nicht gesagt, welche Sapphozitate das sind….


  • Die Heroides scheinen mir eine Ars amandi infeliciter(frei nach Watzlawick: Die Kunst unglücklich zu lieben) zu sein, die uns vorführt, wie man es nicht machen sollte.


    Möglicherweise geht es auch darum, die Liebe generell als ein Unglück, als eine göttliche Strafe zu schildern. Von einem Gleichgewicht des Liebens und Geliebtwerdens ist jedenfalls in keinem der Briefe etwas zu spüren.



    Aber sind das nicht verblüffende Übereinstimmungen? Zufall?


    Ich glaube nicht an einen Zufall. Walter von der Vogelweide wird Ovid gekannt haben; davon kann man zumindest ausgehen. Das von Dir aufgespürte Motiv muss ihm sehr gefallen haben ...


    Ich habe den Sappho-Brief noch nicht gelesen, komme aber hoffentlich heute noch dazu.


    LG


    Tom

  • Salve Gontscharow,


    ich habe gestern den Sappho-Brief geschafft. Nach einer längeren Lesepause entfaltet die wunderbare Sprache Ovids erneut ihren ganz eigenen Zauber. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Brief zunächst einmal unter Auslassung der Einleitung und Anmerkungen ohne Unterbrechung zu lesen, um dann den Kontext und die Hintergründe genauer zu beleuchten. Besonders gelungene Briefen wie den der Sappho lese ich dann ein zweites mal, wobei ich immer wieder staune, welche Details es noch zu entdecken gibt.


    Den Paris-Brief habe ich gleich noch hinterher geschoben – und mich dabei köstlich amüsiert. Noch dreister als in dem Phädra-Brief wird hier die Geliebte zum Ehebruch aufgefordert, noch sorgloser werden die Konsequenzen der Tat geleugnet. Paris beleidigt den Gatten Helenas, nennt ihn einen grobschlächtigen Bauern und leitet daraus sein (Paris') Recht auf die Geliebte ab.


    Wenn ich an den trojanischen Gigolo denke, dann kommt mir seltsamerweise immer häufiger der zuckersüße Schmachtlappen Orlando Bloom aus der Wolfgang Petersen-Verfilmung „Troja“ in den Sinn (der übrigens am kommenden Sonntag noch einmal ausgestrahlt wird). Ich habe das immer für eine Fehlbesetzung gehalten und musste deshalb mehr als einmal schmunzeln, als Paris in seinem Brief von eigenem Heldenmut und körperlichen Fähigkeiten schwadroniert.


    Aus den „Metamorphosen“ wissen wir, dass Ovid für den Frauenräuber eine gehörige Portion Verachtung übrig hatte. Ich bin nun gespannt, wie die Erwiderung Helenas ausfällt.

  • Gestern habe ich wenig im Nachwort gestöbert. Was musste ich dort lesen? Dass es ernsthafte Stimmen gibt, die Ovids Heldinnen als antike Vorwegnahme der legendären Frauengestalten Tolstois (Anna K.) und Fontanes (Effi B.) sehen. Was hältst Du, Gontscharow, von dieser These? Ich finde sie etwas arg weit hergeholt.


    LG


    Tom


  • Gestern habe ich wenig im Nachwort gestöbert. Was musste ich dort lesen? Dass es ernsthafte Stimmen gibt, die Ovids Heldinnen als antike Vorwegnahme der legendären Frauengestalten Tolstois (Anna K.) und Fontanes (Effi B.) sehen. Was hältst Du, Gontscharow, von dieser These? Ich finde sie etwas arg weit hergeholt.


    Ich nicht. Aber die Auswahl finde ich etwas willkürlich. Niklas Holzberg - übrigens ein Altphilologe und vielleicht nicht unbedingt prädestiniert für literarische Komparatistik – sieht (auf diese Stelle im Nachwort spielst du wohl an)„Hedda Gabeler, Effi Briest, Rose Bernd, Anna Karenina und die anderen Protagonistinnen der großen Dramen und Romane des 19. und 20. Jahrhunderts alle in irgendeiner Weise in Ovids Briefschreiberinnen präfiguriert“. Warum nur die Protagonistinnen des 19. und 20. Jahrhunderts? Warum nicht auch Luise, Stella, Iphigenie, Emilia, Sara, Julie, Félicie, Virginie, die Heroinen von Racine, von Corneille bis hinunter in die Antike. Alle diese titelgebenden Heldinnen von Tragödien, Opern, Romanen und Epen, die sich in Arien oder Monologen äußern, aus deren Sicht erzählt wird oder die selber erzählen, sind „ in irgendeiner Weise“ mit den ovidischen Briefschreiberinnen verwandt. Von Frauen erlebtes Liebesleid und -glück zieht sich durch die gesamte Literatur und beginnt auch nicht erst mit den „Heroides“, man denke nur an die Tragödien von Euripides, Sophokles u.a.


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Gestern um 10:59 »

    …ich habe gestern den Sappho-Brief geschafft. Nach einer längeren Lesepause entfaltet die wunderbare Sprache Ovids erneut ihren ganz eigenen Zauber.


    Brief XV hat mir auch sehr gut gefallen. Wegen der anmutigen Landschafts - und Naturbeschreibungen, der feinen sensiblen Schilderung seelischer Befindlichkeiten und des freien, selbstbewussten Umgangs mit Erotik. Ja, mir scheint das ein “kongenialer“ Text zu sein, denn all das verbinden wir mit Sapphos Lyrik. Warum Ovid aus Sappho eine heterosexuell liebende Frau gemacht hat (die Liebe zu Phaon und der angedeutete Sturz von dem Leucadia-Felsen scheinen seine Erfindung zu sein), weiß ich nicht. Vielleicht hätte sie sonst nicht in die Riege der Briefschreiberinnen gepasst.


    Es ist der einzige Brief der Sammlung, der nicht von einer mythischen Figur geschrieben ist. Es ist der Brief einer Dichterkollegin! Ich glaube, dass Ovid sich hier als Dichter und Liebender selbst auch darstellt, bzw. aus eigener Erfahrung schöpft, z. B. wenn er Sappho sagen lässt:

    Der Schmerz ist ein Gegner der Kunst, und all mein Talent stockt durch mein Leid…


    Oder wenn Naso das Dichtertalent als Ausgleich für fehlende äußere Reize in die Waagschale wirft:


    Wenn mir die neidische Natur auch Schönheit verweigert hat, so wiege den Mangel an Schönheit mit meinem Genie auf…
    Als ich dir meine Gedichte vorlas, da schien ich dir schön genug…

    Und das Folgende kennen wir irgendwie…


    Mir aber diktieren die Musen lockende, schmeichelnde Lieder; schon wird mein Name auf dem ganzen Erdenrund gepriesen.


    …aus dem Epilog der Metamorphosen.


  • Niklas Holzberg - übrigens ein Altphilologe und vielleicht nicht unbedingt prädestiniert für literarische Komparatistik – sieht (auf diese Stelle im Nachwort spielst du wohl an)„Hedda Gabeler, Effi Briest, Rose Bernd, Anna Karenina und die anderen Protagonistinnen der großen Dramen und Romane des 19. und 20. Jahrhunderts alle in irgendeiner Weise in Ovids Briefschreiberinnen präfiguriert“.


    Ja, Gontscharow, diese Stelle meine ich. Am Beispiel von Effi Briest (habe ich eben erst gelesen!) kann man mMn. durchaus erkennen, dass die Holzberg-These vielleicht doch nicht so weit hergeholt ist, wie ich spontan annahm. Effi ist ein gelangweiltes, verwöhntes Upper Class-Girl, eine ewige Kindfrau mit passiver, beinahe beliebiger Lebenseinstellung. Sie offenbart eine erschreckende Verantwortungslosigkeit, verlangt vom Leben nichts weiter als ständige Abwechslung, kleine Sensationen und große Unterhaltung. Die Affäre mit Crampas ist für sie auch nur ein Mittel, um der eigenen Mittelmäßigkeit etwas Bedeutung zu verleihen.


    Einige dieser Elemente lassen sich auch in den antiken Frauengestalten, wie Ovid sie uns in den Heldinnen-Briefen nahebringt, wiederfinden. Was ich noch nicht herausgefunden habe (und wohl auch nicht herausfinden werde): Wie sympathisch waren ihm die Frauen, die er derart schöne und eloquente Briefe schreiben ließ? Von Fontane weiß man, dass er sich darüber wunderte, wie sehr die Leser seine Effi liebten. Er selbst sah sie wohl eher kritisch - eine Tatsache, die wegen der Negativfiguren Instetten und Crampas gern übersehen wird. Aber das ist jetzt ein zu weites Feld ...


    Ich bin übrigens mittlerweile fertig mit den Briefen. Du auch?


    Viele Grüße


    Tom

  • Zitat

    Effi ist ein gelangweiltes, verwöhntes Upper Class-Girl, eine ewige Kindfrau mit passiver, beinahe beliebiger Lebenseinstellung. Sie offenbart eine erschreckende Verantwortungslosigkeit, verlangt vom Leben nichts weiter als ständige Abwechslung, kleine Sensationen und große Unterhaltung. Die Affäre mit Crampas ist für sie auch nur ein Mittel, um der eigenen Mittelmäßigkeit etwas Bedeutung zu verleihen.


    Nun, leider bot die damalige Gesellschaft wenig anderweitige Abwechslung; wie es ihr sicherlich unmöglich gewesen sein dürfte, sich beispielsweise auf beruflichem Wege zu verwirklichen.


    Gruß
    Meier

    "Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt" * Keimzeit

  • Hallo Sir Thomas!


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Heute um 10:21

    Ich bin übrigens mittlerweile fertig mit den Briefen. Du auch?


    Nein, leider noch nicht, da ich - ein Opfer des Winterhochwassers - in den letzten Tagen mit dem Ausräumen meines überfluteten Kellers beschäftigt war. Ich liebe meinen Hausfluss, habe ihn aber nicht so gern zu Besuch!
    Sobald die Pegelstände es zulassen – mehr.


  • ... ich - ein Opfer des Winterhochwassers ...


    Da sieht man, wohin es führt, wenn man den Flußgöttern zum Jahreswechsel nicht die eine oder andere Jungfrau (meinetwegen auch den einen oder anderen Jüngling) opfert! :breitgrins: Ich kann ein wenig mitreden, wenn es auch kein Fluß ist, der unseren Keller regelmäßig flutet, sondern sintflutartiger Regen (meistens im Sommer). Da hilft nur eins: Den Keller ausräumen und leerstehen lassen.


    Viel Spaß beim Aufräumen!


    Tom

  • Zitat

    ... und dann begeht man halt mal so einen klitzekleinen Ehebruch, nicht wahr?


    Nun, zumindest heutzutage ist dies ja gang und gäbe, und scheint mir zur Zeit Prousts auch nicht viel anders gewesen zu sein, ohne dass darum ein solches Aufhebens gemacht worden wäre.


    Gruß
    Meier

    "Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt" * Keimzeit

  • ...
    Das ist beinah als wüsste,
    man es nicht vorher schon,
    was man vielleicht verlieret,
    bei Fremdkopulation.


    (lüds)


    Aber im Ernst, bei Effi Briest ist doch das eigentlich Fatale, dass man sich über den Haufen schießt und vor Kummer sterben lässt, obwohl man doch trotzdem gegeneinander keine übertriebene Abneigung hegt und Liebe sowie Leben im Eigentlichen bloß diesem "kategorischen Imperativ" zum Opfer fällt.


    Gruß
    Meier

    "Es gibt andere Geschichten auf einem andern Blatt Papier, doch jede ist mit der ersten verwandt" * Keimzeit

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