Juni 2008 - Th. Mann: Der Tod in Venedig


  • Hallo zusammen


    Auf den letzten Seiten ist in der Regel immer die Auflösung einer Geschichte zu finden.


    Ich sehe die Abreisevorkehrungen als Sinnbild für Abschied, Übergang, Tod. Aschenbach steht ebenfalls kurz vor seiner Abreise ... ohne Wiederkehr. Während der Reisevorbereitungen wird Tadzio fast erstickt. Dies entspricht dem physischen Sterbeprozess Aschenbachs, welcher in Tadzios Erstickungsszene gespiegelt und sonst nicht eigens an Aschenbach selbst beschrieben wird, was jedoch bei Thomas Manns Detailtreue der Fall hätte sein müssen, wäre Tadzio nicht Jugend- und Lebensaspekt von Aschenbach. Tadzios Gang ins Meer entspricht dem Sterben, Aschenbach stirbt und sein Leben (Tadzio) betritt den Todesbereich des Meeres. Nun folgt eine weitere Kongruenz: "Der Schauende dort saß, wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet war." Die Grundpositur Tadzios entspricht der geometrisch geformten Spiegelung zweier entgegengesetzter kongruenter Figuren.


  • Bei meiner Interpretation steht die Todessehnsucht des Schriftstellers im Zentrum, ... für ihn war der Endpunkt erreicht. ...
    Oder sehe ich das falsch?


    Hallo, Madeleine,


    ich stimme mit Dir überein. Es ist jetzt sicher müssig, all die Textstellen noch einmal herauszusuchen, die diese Interpretation stützen (ich habe die eine oder andere bereits dokumentiert), denn für mich besteht kein Zweifel daran, dass Aschenbach bewusst dem Tod entgegengeht.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas


  • Hi Thomas


    Für mich schließt das eine das andere nicht aus. Jemand, der mir nahe steht, hat genau all diese Empfindungen, die Todessehnsucht, die Angst vor dem Alter, die Sehnsucht, alt zu werden. Wann war der Mensch schon je logisch. :breitgrins:


    Ich denke, die Todessehnsucht ist eigentlich nur die Sehnsucht, das alte Leben sterben zu lassen und ein neues zu beginnen, letzten Endes ist es auch eine Lebenssehnsucht.

  • Ihr Lieben,


    zum Thema "Altern und Sterben in Würde" hier noch ein kleines Fundstück:


    „Wenn ich mein Leben noch einmal anfangen könnte, würde ich es mir von vornherein zur Gewohnheit machen, jeden Abend an den Tod zu denken. Ich würde es regelrecht üben, mich an den Tod zu erinnern. Es gibt keine andere Gewohnheit, die einen das Leben so intensiv erleben lässt. Wenn der Tod eines Tages an uns herantritt, sollte er uns nicht überraschen. Er sollte ein Teil der bewussten Lebenserwartung sein. Ohne ein immer gegenwärtiges Spüren der Todesnähe ist das Leben fade. [...] Stets an den Tod zu denken ist, kurz gesagt, eine Lebensauffassung.“


    Es ist der pensionierte Kriminalbeamte Henry Mortimer, der in Muriel Sparks Roman „Memento Mori“ die in seinem Haus versammelten Gäste, die allesamt betagt, um nicht zu sagen steinalt sind, an diese unangenehme Tatsache erinnert. Und schließlich weiß auch der „Penny Catechism“, den die Autorin eingangs zitiert: „Die letzten vier Dinge, an die man sich stets erinnert, sind Tod, Jüngstes Gericht, Himmel und Hölle.“


    Schönes Wochenende!


    Sir Thomas

  • Stets an den Tod zu denken, würde mich überfordern, da ich schon beruflich häufig damit konfrontiert bin, aber mir hilft es oftmals, zwischendurch zurückzutreten von all den unwichtigen Dingen, mit denen man sich das Leben schwer machen kann, und ganz bewußt an den Tod zu denken.
    Damit begonnen habe ich, als meine Großeltern verstorben sind, die mir ein Haus und ein sehr großes Grundstück hinterlassen haben. Ich weiß, wie viel Arbeit und Mühsal darin steckt, weil ich hier aufgewachsen bin, und mein Mann nimmt die Pflege und Erhaltung so ernst, dass er damit nicht nur sich selber, sondern auch mir oft auf die Nerven geht.
    Dann ist es Zeit, mein "memento mori" zu sprechen, und eigenartigerweise hört er in dem Fall als völlig unphilosophischer Mensch auf mich und läßt sich etwas einbremsen.
    Tatsächlich habe ich das Gefühl, durch diese Gedanken an den Tod intensiver zu leben, tiefer empfinden zu können. Die Distanz, die ich damit schaffe, bringt mir das Leben näher.


    Liebe Grüße,
    Madeleine

  • Hallo zusammen


    Ich persönlich denke nicht gern an den Tod. Ich kann mir das Sterben nicht leisten, ebenso wenig meine Mutter. Wir werden gebraucht. Außerdem litt ich jahrzehntelang unter den Todessehnsüchten meiner Geschwister und als zwei Brüder und mein Vater starben, war für mich das Thema eindeutig gegessen. Nein, der Tod soll einen großen Bogen um unser Haus machen.


    Wie wertvoll und einzigartig das Leben ist, nehme ich auch so wahr, denn ich habe mich selbst in all den Jahren aufgrund der vielen Familienprobleme (suizidgefährdete Geschwister etc.) hinten angestellt. Deshalb ist es für mich nun so, als habe mein Leben erst mit 40 angefangen. Genau an meinem 40. Geburtstag gründete ich meine Einzelfirma, passt also. :zwinker:


  • ... Ich kann mir das Sterben nicht leisten ...


    Oh ja, Sterben gehört zu den Dingen, die man sich nicht allzu häufig in seinem Leben leisten sollte ... :zwinker:


    Deshalb finde ich es umso erwähnenswerter, dass Thomas Mann sich mit diesem Thema mehr als angemessen auseinandersetzt. "Der Tod in Venedig" gleitet niemals ab in Pathos oder Mystik, was einem norddeutsch-protestantischen Kaltblüter wohl auch kaum gelungen wäre. Der Übergang von der kontrollierten und disziplinierten Lebensweise Aschenbachs in ein zielloses Sich-in-den Tod-treiben-lassen ist glaubwürdig und trotzdem sehr poetisch. Was kann man von guter Literatur mehr verlangen?


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Man weiß eben nie, was sich hinter noch so disziplinierten Menschen, wie Aschenbach es war, verbirgt.
    Dass sich in den Tod hineingleiten lassen, wie Sir Thomas es sehr treffend ausgedrückt hat, ist doch ein schöner Endpunkt für ein erfülltes Leben. Jetzt darf er endlich die Last aller Verantwortung, die er sich selbst auferlegt hat, abwerfen und seinem Todesengel folgen.


    Nicht ganz so schön ist es im realen Leben, aber ich sehe in meinem Beruf zumindest häufig, dass es Patienten, die sich mit dem nahenden Ende innerlich abgefunden haben, plötzlich von ihrem Krankheitsbild her besser geht, obwohl sie wenige Tage später ohne schweren Todeskampf sterben.


    Leider weiß ich nicht mehr, wo ich das gelesen habe, aber sinngemäß hieß es da: Man sollte den Tod während des Lebens wie einen guten Freund behandeln. Dann kann man in der Todesstunde auch mit einem solchen rechnen.


    Liebe Grüße


    Madeleine.

  • Hallo zusammen


    Meine Mutter arbeitete jahrelang in einem Altersheim, ebenso meine Schwester. Was sie immer wieder verwunderte: Alte, welche sterben wollten, starben auch bedeutend schneller, während diejenigen, welche noch an irgendetwas in dieser Welt festhielten, es dem Tod bedeutend schwerer machten, ihr Freund zu sein und sie mitzunehmen. :zwinker: