Beiträge von Zefira

    So, nun habe ich auch den dritten Band und damit das Gesamtwerk, wie es mir vorliegt, durch.
    Peake scheint ja für seinen Helden Titus Groan insgesamt zehn Bände geplant zu haben; es gibt wohl auch Versuche, da etwas zusammenzustellen, aber ich habe wenig Lust, dem nachzugehen.

    Wie schon erwähnt, unterscheidet sich der dritte Band deutlich von den beiden ersten. Gormenghast ist ein geschlossener Raum mit überschaubarem Personal und einem zentralen Drama, obwohl Peake als lustvoller Erzähler kaum einen Seitenweg auslässt. Im dritten Band befindet sich Titus "in der Welt" und hat es mit einer wesentlich größeren Vielzahl zerstörerischer Kräfte zu tun.


    Man könnte den Inhalt kurz so wiedergeben: Titus begegnet, nach einigen weniger wichtigen Episoden, dem Zoodirektor Muzzlehatch. Dessen Exfreundin Juno nimmt ihn unter ihre Fittiche - sie ist wohl etwa doppelt so alt wie er und wird ihm gleichzeitig Mutterersatz und Geliebte. Zwei Zentralmotive fallen auf: Erstens kennt niemand Gormenghast, und wenn er darauf besteht, er sei Lord Titus und habe einen gewissen Anspruch auf Ehrerbietung, zuckt man darüber die Achseln. Zweitens gibt es eine Art unklarer Bedrohung über dem gesamten Setting der Geschichte. Mehrere Kapitel widmet Peake dem verarmten Volk, das "unter dem Fluss" lebt - einem Heer von Obdachlosen. (Hier fällt besonders ein Dichter auf, der fünfhundert Bücher hat drucken lassen, aber nur zwölf verkauft hat; die übrigen schleppt er ständig mit sich herum und schläft nachts darauf.)


    Nachdem Titus zwei schwebende "Kugeln", die ihn verfolgen - man denkt an die heutigen Drohnen -, zerschlagen hat, legt man ihm nahe, dass er die Stadt besser verlässt. Muzzlehatch, der ihn unterstützt hat, wird ebenfalls vertrieben; seine Zootiere durch irgendwelche "Strahlung" ermordet. Titus, der anscheinend nicht allein bleiben kann, schließt sich nun einer jungen Frau namens Cheetah an, der Tochter eines "Wissenschaftlers", der eine "Fabrik" betreibt. Da er auch ihr mit seinem Status als Lord Groan in den Ohren liegt, veranstaltet sie eine Party, auf der sie alle Figuren seiner Vergangenheit - seine Eltern, Steerpike, seine geliebte Schwester Fuchsia usw. - in einer Art Scharade nachstellen lässt. Er wendet sich daraufhin von ihr ab und kehrt nach Gormenghast zurück. Es wird angedeutet, dass er sich sogleich wieder abwendet, da er seine Heimat "im Herzen trägt".


    Der Stil ist äußerst blumig und verliert sich, seien wir ehrlich, oft in selbstverliebten Romantizismen - mir kam beim Lesen der SF-Autor Samuel Delany in den Sinn ("der Weltenwind brüllte"). Trotzdem oder gerade deshalb ist es interessant zu lesen, wie Peake in der Dickens'schen bemoosten Idylle unterschwellig eine Art unpersönlicher Qual und Tötung etabliert, ohne dass man es recht merkt. Zuerst durch die bewussten Kugeln oder Drohnen, danach in einer Vielzahl feiner Andeutungen. Im Nachwort zum dritten Band heißt es: "Peake schien Unheil und Tragödien als berührbare Kräfte zu sehen". Wir haben hier also einen Vorläufer der gesamten Fantasy-Literatur, die das Böse greifbar macht, etwa als Drache, die Kröte im Brunnen oder als Ring, der vernichtet werden muss. In die Visionen von der kalten Welt der "Fabrik" des Wissenschaftlers, mit Existenzen, die in sich zusammenfallen, wenn ihnen der weiße Schutzanzug abgestreift wird, und tausend gleichartigen Gesichtern, die aus den Fenstern schauen, wirkt sich aber gleichzeitig die moderne Todesindustrie aus. Wie Peake sie als Berichterstatter bei der Befreiung Belsens erlebt hat.


    Den dritten Band zu lesen, ist weder leicht, noch muntert es auf. Ich weiß noch nicht, wohin ich mich jetzt wende am Regal, aber bestimmt to something completely different.

    Ich bin Perutz-Fan* geworden, als ich - noch als Studentin, glaube ich - in einem Erzählband aus der Leihbibliothek die Geschichte "Nur ein Druck auf den Knopf" gelesen habe. Das ist ein Meisterwerk! Die Wendung, die die Geschichte nimmt - es geht um eine Séance mit Geisterbeschwörung - ist zwar für einen geübten Gruselgeschichtenleser nicht ganz unerwartbar (zu Perutz' Zeiten galt das vermutlich noch nicht), aber wie diese Wendung vorbereitet und vermittelt wird, ist einfach genial. "Die Dame, die bei ihm war! Fortwährend unterbrichst du mich! Habe ich dir nicht gesagt, dass eine Dame bei ihm war? Wer schreit? Ich schreie doch nicht." Ich habe damals, als ich die Geschichte las, selbst gerade angefangen zu schreiben und muss zu meiner Schande gestehen, dass ich mindestens zweimal versucht habe, diesen Effekt nachzuahmen. Aber natürlich war ich nie eine Meisterin wie Perutz.


    Wer von euch die Geschichte nicht kennt - unbedingt lesen! Ich habe einen Erzählband "Herr, erbarme dich meiner", wo sie drinsteht, aber sie ist auch mehrfach anderweitig anthologisiert worden.

    *) "Turlupin" und das Mangobaumwunder habe ich nicht gelesen - sonst, glaube ich, mehr oder weniger alles, was er geschrieben hat. Es ist allerdings z.T. so lange her, dass ich mich nicht erinnern kann, aber die Bücher stehen hier und sind sichtbar gelesen worden. ;) "Die dritte Kugel" habe ich im Lauf der Jahre bestimmt dreimal gelesen - auch das ist ein hinreißend komponiertes Stück mit sehr eigenwilligem Erzählton.

    Gormenghast II habe ich gestern, da ich vier Stunden als Beifahrerin unterwegs war, abgeschlossen und auch gleich Gormenghast III angefangen. Über den zweiten Band "Im Schloß", der Titus Groans Jugendjahre beschreibt (am Anfang ist er sieben, am Ende siebzehn Jahre alt) habe ich oben schon etwas berichtet. Über weite Strecken gerät der skrupellose Aufsteiger Steerpike etwas aus dem Fokus, es geht lange Zeit um Titus' Lehrer Bellgrove und seine Liebesgeschichte mit Irma Prunesquallor, der altjüngferlichen Schwester des Leibarztes. Dieser Strang ist "sehr Dickens" und für die eigentliche Handlung mehr oder weniger entbehrlich, enthält aber einige köstliche Beschreibungen und Dialoge. Am wichtigsten sind die immer wieder eingeflochtenen Visionen des jungen Grafen von einem Leben in Freiheit, ohne die tausend sinnlosen Pflichten, die ihm sein Geburtsrecht auferlegt.

    Gegen Ende wird es richtig spannend, das Schloß wird bei einem mehrwöchigen Dauerregen überflutet bis in die höchsten Stockwerke hinauf, und als das Wasser wieder abgelaufen ist, ist in den unteren Stockwerken alles vergammelt und muss gesäubert, repariert oder zum Großteil gleich entsorgt werden. Ein interessantes Sinnbild für das ganze System. Für Titus aber nicht mehr wichtig, da er nun endgültig seiner Wege geht.


    Der dritte Band ist sehr viel kürzer als die anderen und sehr anders, sowohl in Stil als auch in der Erzählabsicht - "spannend" im üblichen Sinn ist es nicht. Ich habe knapp die Hälfte gelesen, ein durchgehender Handlungsfaden lässt sich bisher kaum auffinden. Das Setting ist, verglichen mit den beiden ersten Bänden, merkwürdig disparat, ich kann mir keine Vorstellung machen, wie Titus' Umgebung jetzt eigentlich aussieht. Immerhin gibt es ein paar interessante Charaktere wie den Zoodirektor Muzzlehatch (der Name ist wieder echt Dickens!), der mal einen Hirsch, mal ein Lama als Reittier benutzt und sein Auto beim Aussteigen an einen Baum bindet.

    Jetzt muss ich mal blöd fragen - ich dachte, "Forschungen eines Hundes" ist von Kafka?


    Ich bin ziemlich sicher, dass ich das Buch habe, das Diaz Grey meint. "Franz Kafka - Sämtliche Erzählungen", herausgegeben von Paul Raabe, Fischer Verlag 1970 (mein Exemplar ist schon aus der vierten Auflage). Das Buch ist hässlich braun, das Druckbild eine Katastrophe, der reinste Leselustkiller, und obendrein zeigt es Tendenz zur Auflösung. Da könnte ich eigentlich auch mal nach einer vernünftigen Ausgabe Ausschau halten ...


    ps. Diaz Grey , ich habe Dir eine PN geschickt, ist nur eine Frage zu Deiner Kritik.

    In den Siebzigern habe ich mir sämtliche Werke von Agatha Christie gekauft, alle als Taschenbuch. Die sind noch prima. Desgleichen Bücher von Wilkie Collins, den ich damals sehr gern las, und einiges an Fantasy (zum Beispiel die Wüstenplanet-Serie). Die Bücher sind alle noch gut.


    Bei dem geerbten Fundus meiner Eltern sind allerdings etliche dabei gewesen, die schon beim genauen Angucken auseinandergefallen sind, und zwar alle aus den 60ern oder noch älter.

    Guter Ratschlag von mir: Nach dem Entnehmen aus dem Tiefkühlschrank erstmal vorsichtig händeln.
    Ich bekam vom Postboten ein Verlagsexemplar eines herrlichen Buches direkt in die Hand gedrückt, es war irgendwann im Januar bei tiefstem Frost, und als ich das Buch auf der Stelle auspackte und aufschlug, gab es einen hörbaren Krach. Das war vermutlich gefrorener Leim.
    Ich habe das Buch ganz vorsichtig bei Zimmertemperatur auftauen lassen, ehe ich es wieder in die Hand nahm; es hat auch keinen richtigen Schaden gelitten, aber jedenfalls bin ich jetzt vorsichtig. Viel Erfolg!

    Ich habe mir eine ganze Anzahl seiner Bilder online angeschaut und gestaunt über die stillistische Vielfalt. Gleichzeitig bin ich aber - gerade heute - wieder aufs Neue hingerissen von seiner sprachlichen Meisterschaft. Es gibt in Gormenghast II eine Szene, in der Titus, sieben Jahre alt, wegen Ausreißens vom Schloss (das macht er mehrmals) mit Karzer bestraft wird, und sein Lehrer Bellgrove ihn dort besucht. Die beiden verbindet im Grunde gar nichts, weil Bellgrove, wie alle Lehrer und überhaupt alle Schlossbewohner außer Titus, seiner Schwester und Steerpike seelenlose Puppen sind, Sklaven des Rituals. Gerade die Lehrerschaft ist ein absolut lächerlicher Haufen, die pädagogische Kompetenz erschöpft sich im Wiederholen der Anweisung "Nenne eine Meerenge" (ist wirklich so!). Trotzdem ist das Zusammentreffen von Titus und Bellgrove derart zauberhaft, dass ich es am liebsten komplett hier zitieren würde - Peake zelebriert in einem einzigen Satz, der sich über die komplette Buchseite erstreckt, alle (nicht genutzten) Möglichkeiten der beiden, einander zu lieben. Und das in einem unvergleichlich süffigen Stil, die Worte rennen der Leserin förmlich unter den Augen davon. Das ist ganz, ganz großes Kino. Ich lese das Buch ja derzeit zum zweiten Mal, aber vieles, wenn nicht das meiste, ist für mich neu. Vielleicht war ich damals nicht bereit dafür.

    Ich habe "Peake's Progress" inzwischen bekommen (eine Ausgabe "gesammelte Werke", zusammengestellt von Peakes Frau nach seinem Tod) und bin ich ganz klein bisschen enttäuscht, weil ich mir mehr Zeichnungen erhofft hatte. Aber es ist schon einiges drin, zum Beispiel einige Illustrationen zu Dickens' "Bleak House" und zur Stevensons Schatzinsel, sowie zu Peakes eigenen Gedichten.


    Peakes Verwandtschaft mit Dickens springt beim Lesen seiner Werke geradezu ins Auge, besonders merke ich das gerade bei Lesen des zweiten Bandes "Gormenghast". Er handelt bisher (ich habe ein Drittel gelesen) nur von Titus, zum Beispiel auch von seinen Lehrern, die zum Schlosspersonal zählen. Dere Aufsteiger Steerpike kommt bisher nur am Rand vor, obwohl er eigentlich der Motor des ganzen Geschehens ist, soweit ich mich erinnere.

    Es ist zwar keine Klassiker-Verfilmung, aber es wurden hier ja schon mehrmals Verfilmungen neuerer Literatur genannt.

    Ich habe mir "Alias Grace" auf Netflix angesehen (Miniserie mit sechs Teilen) und parallel das Buch noch einmal gelesen.


    Grace Marks kam 1840, mit damals zwölf Jahren, mit ihrer Familie aus Irland nach Kanada. Sie war die Älteste von neun überlebenden Geschwistern. Ihre Mutter starb auf der Überfahrt, der Vater war trunksüchtig und verantwortungslos und kümmerte sich offenbar wenig. Mit dreizehn wurde Grace Dienstmädchen und diente in verschiedenen Haushalten. Ihr letzter Brotgeber Thomas Kinnear wurde, samt seiner Haushälterin Nancy Montgomery, die offenbar seine Geliebte war, in seinem Haus ermordet. Angeklagt und hingerichtet wurde der Knecht des Hauses. Dieser bezichtigte seinerseits Grace, ihn angestiftet und bei der Tat geholfen zu haben, so dass auch Grace verurteilt wurde. Sie blieb fast dreißig Jahre im Gefängnis, zeitweise auch in einer Irrenanstalt, da sie "hysterische Anfälle" hatte. 1872 wurde sie begnadigt.


    Margaret Atwood hat aus dieser Geschichte einen eindringlichen, sehr lesenswerten Roman gemacht, der ein anschauliches Bild der Zustände in gutbürgerlichen Haushalten der Zeit abgibt - aus der Sicht des Dienstpersonals. Vor allem aber ist "Alias Grace" ein intensives Psychogramm einer sehr jungen Frau, die dem Druck ihres - aus heutiger Sicht - fast unvorstellbar harten Lebens nicht standhält. Die Miniserie "Alias Grace" ist eine sehr werktreue Verfilmung des Buches, bis in einzelne Dialogzeilen hinein. Buch und Film bestehen vor allem aus Gesprächen zwischen Grace und dem jungen Arzt Simon Jordan, der sie während ihrer Gefängniszeit aufsucht, um ihre "Gedächtnislücken" im Zusammenhang mit den Morden aufzuklären. Dabei werden natürlich auch Grace' Erinnerungen an die Überfahrt aus Irland, an ihre Familie, ihre Freundin Mary und an das Leben im Kinnear-Haushalt filmisch miterzählt. Wer sich für Patchworkquilts und die Geheimnisse ihrer Herstellung und Bedeutung interessiert, wird auch zufriedengestellt. Das Thema nimmt im Roman einigen Raum ein und in der Serie sind viele wunderschöne Beispiele zu sehen. Sarah Gadon, eine kanadische Schauspielerin, verkörpert Grace hinreißend geheimnisvoll und vieldeutig. Beeindruckend, wie sie es schafft, Grace als Fünfzehn- bis als fast Fünfzigjährige ohne Glaubwürdigkeitsverlust darzustellen. Es gibt übrigens auch eine Hypnosesitzung und viele andere sehr spannende Szenen.



    Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=3ImCEOk3f7s

    Wenn man "Phantastik", wozu auch etwa Marquez, Kafka, Perutz und Jean Ray gehören, als Subgenre der Fantasy ansieht, ist die grobe Zuordnung in Fantasy richtig. Ich würde eher umgekehrt Fantasy als Subgenre der Phantastik verstehen und Peake in die Phantastik tun. Übrigens direkt neben Jean Rays "Malpertuis" - da gibt es auch einige Verwandtschaft.
    Es gab aus der Hobbit Presse mal zwei "Almanach"-Ausgaben, in deren erster der Unterschied zwischen Phantastik und Fantasy sehr ausdrucksvoll herausgearbeitet wurde.


    Bei dem Vergleich zu Dickens musste ich lächeln - ich neige auch immer dazu, Steerpike "Steerforth" zu nennen, obwohl er wohl mehr der Uriah Heep-Typ ist.

    Ich bin am Reread und hänge hier mal meine Eindrücke von Gormenghast I, "Der junge Titus", an.


    In 2007, als ich diesen Faden hier anfing, habe ich die Lektüre nicht beenden können. Ich weiß sogar noch, was mir damals dazwischenkam ... :rolleyes:


    Diesmal werde ich mich nicht ablenken lassen.


    Gormenghast I - Der junge Titus


    "Eine Umgebung, in der jede Veränderung ein Verbrechen wäre."


    Zeit und Ort beliebig, ein abgeschlossenes Kontinuum. Das Schloss Gormenghast ist so gewaltig, dass man eine Fußballarena samt Zuschauerrängen darin unterbringen könnte. (Es gibt eine Szene gleich am Anfang, in der ein entlaufener Küchenjunge auf dem Dach des Gebäudes eine Wandelhalle abschreitet, also wohlgemerkt nur ein einziger Raum des Gebäudes - diese Halle ist, so wie beschrieben, mindestens so groß wie ein Fußballfeld.)


    Gormenghast ist uralt; derzeit bewohnt es der sechsundsiebzigste Graf Groan, Lord Sepulchrave. Sein Nachfolger, der junge Lord Titus, wurde soeben geboren, damit nimmt das Werk seinen Anfang. Es ist schwer vorstellbar, wie es zu dieser Geburt kam, denn ein größerer Gegensatz als zwischen Lord Sepulchrave und Titus' Mutter Lady Gertrude lässt sich gar nicht denken: er alt und vergeistigt, nur mit seinen Büchern beschäftigt; sie ist körperlich ziemlich mächtig, geistig eher schlicht und spricht eigentlich nur mit ihren Katzen und Vögeln. Die beiden haben bereits eine Tochter, die fünfzehnjährige Fuchsia, die völlig sich selbst überlassen unter der Aufsicht eines winzigen, schwächlichen Kindermädchens lebt, und zwar in einer Phantasiewelt - notgedrungen, sie hat sonst nichts. Und damit haben wir schon fast alle wichtigen Schlossbewohner; es kommt noch der Chefkoch Swelter dazu, der Leibdiener Flay, der Archivar Sourdust, die beiden Schwestern von Lord Sepulchrave, mit Namen Cora und Clarice, sowie der Leibarzt und seine mannstolle Schwester. Natürlich noch eine Menge Unterpersonal (allein 25 Gärtner), aber die zählen kaum. Alle führen so ihr mit Staub und Spinnweben bedecktes Leben. Der Schlossherr ist den größten Teil des Tages damit beschäftigt, völlig sinnlose Rituale zu absolvieren, die seiner Vorfahren geprägt haben - zum Beispiel um neun Uhr früh auf der östlichen Zinne ein Glas Wein heben und dergleichen. Genau genommen ist der "Zeremonienmeister" Sourdust, der ihm diese Aufgaben zuteilt, die wichtigste Person im Schloss.


    Bis mit der Person des Küchenjungen Steerpike so etwas wie eine Erobererfigur auftaucht. Steerpike entwischt aus der Küche, verdingt sich zunächst als Diener des Leibarztes, sein Ziel ist aber, sich bei allen unentbehrlich zu machen. "Die Macht zu haben" ist ja immer ein beliebter Impetus in klassischen Geschichten - in diesem Fall witzlos, denn was bedeutet schon die Macht in einem Gemäuer wie Gormenghast? Für Steerpike (und alle Schlossbewohner) ist Gormenghast die Welt. Steerpike ist übrigens das genaue Gegenteil des Prinzips, das im Schloss herrscht: er ist energisch, effektiv, um es mit Peake zu sagen "aktiv wie ein Aal an der Angel". Sein Aufstieg ist das zentrale Thema des ersten Bandes; erst im zweiten und dritten tritt der junge Lord Titus als sein Gegenspieler ernsthaft in Erscheinung.


    Das Bild von Gormenghast wäre nicht vollständig, würde man die "Lehmhüttenbewohner" nicht erwähnen. Sie leben im Schatten des Schlosses, ernähren sich mehr schlecht als recht und haben mich, so wie sie beschrieben werden, an die "Prolls" in George Orwells 1984 erinnert, das wir gerade in der Leserunde vorhatten. Die junge Witwe Keda, die sich nicht zwischen zwei Verehrern entscheiden kann, wird Titus' Amme. Nach ihrer Rückkehr in ihr Dorf wird sie ausgestoßen, weil man ihr die Schuld dafür gibt, dass die beiden Rivalen einander umgebracht haben. Keda ist eine äußerst lebendige Figur, im Grunde neben Fuchsia die einzige Sympathiefigur in diesem ersten Band. Dieser schließt übrigens mit dem Tod des alten Lords. Titus, zu diesem Zeitpunkt zweijährig, ist nun die Spitze der Ahnenreihe. Was er selbst darüber denkt, wissen wir noch nicht.





    Dem Buch ist deutlich anzumerken, dass der Autor Maler ist. Jede Situation, die er beschreibt, hat er zweifellos genau "gesehen". Andererseits muss man einen derart wortverliebten Autor wohl suchen gehen. Ihm entgeht nichts, und die kleinste Kleinigkeit wird so behaglich auserzählt, als ob man alle Zeit der Welt hätte. Es hat keinen Zweck, sich so ein Buch mal eben zwischendurch vorzunehmen (diesen Fehler habe ich vor ein paar Jahren gemacht, und prompt ging mir am Anfang des zweiten Bandes die Puste aus). Gormenghast ist kein Sprint und auch keine Wanderung mit Schrittzähler. Den Rucksack schultern und spazieren - egal, wie lang es dauert; so muss man das Buch lesen.


    Demnächst folgt hier (hoffentlich :rolleyes: ) die Fortsetzung über Band II "Im Schloss".

    Ich habe für ein anderes Forum etwas zu Gormenghast geschrieben, ich werde es gleich mal hier präsentieren.
    Ich hatte ein wenig Angst vor dem Buch, das ich von der Erstlektüre her als eher bräsig in Erinnerung hatte - jetzt lese ich anscheinend ganz anders, einfach weil ich mehr Zeit dafür habe, es ist wirklich ein Genuss.


    PS. Aus "DuMonts Bibliothek des Phantastischen" habe ich übrigens zwei Bände von Robert Aickman. Das ist ein Autor, von dem ich begeistert war - seine Geschichten sind vielfältig deutbar, ich empfand sie als sehr inspirierend. "Glockengeläut" und "Die Züge" zum Beispiel sind lesenswert. Einen ähnlichen Stil verfolgt der österreichische Autor Wolfkind.

    Auch "Der Täter und der Tote" von Hugh Walpole, das ich 2019 hier vorgestellt habe, ist ein Buch dieser Serie.

    Zitat

    Erhabene Situationen können der Lächerlichkeit, dem Hohne, der Ironie verfallen

    Keine neue Erkenntnis, aber jedenfalls eine wichtige.
    Danke für die treffende Zusammenfassung. Ich habe auf dem Höhepunkt meiner Phantastik-Phase dieses Buch sehr gemocht, ebenso wie Poe, Strobl, Ewers, Perutz, Jean Ray, Blackwood und viele andere.
    Im Moment macht mir Mervyn Peake solche Freude, dass ich mich vielleicht nochmal diesem Genre zuwende. Ein paar Bücher in meiner Sammlung sind noch ungelesen. (Die neuere Literatur dieser Sparte gefällt mir meist nicht besonders.)

    sandhofer : Den "angepappten" kenne ich nicht. Meine Ausgabe (Hobbit Presse) besteht aus drei Einzelbänden: "Der junge Titus", "Im Schloss" und "Der letzte Lord Groan", im Original "Titus Alone". Nach meiner Erinnerung spielt dieser letzte Band bereits nicht mehr im Schloss, ist wesentlich kürzer als die anderen beiden und auch stilistisch etwas anders, Im Nachwort heißt es, dass im Grunde auch dieser dritte Band nicht eigentlich "vollendet" ist in dem Sinne, dass Peake ihn als fertig zur Veröffentlichung erklärt hätte.


    "Peake's Progress" enthält, soweit ich es erschließen konnte, einige Erzählungen und Gedichte sowie Zeichnungen - hoffentlich viele, denn das war mein Hauptgrund für den Kauf. Ich habe übrigens in einem "Almanach" der Hobbit Presse noch eine Erzählung von Peake gefunden mit dem Titel "Dieselbe Zeit, derselbe Ort". Es geht darin um einen Mann, der sich immer wieder mit einer bezaubernden Frau trifft, und zwar jedes Mal in einem Restaurant am selben Tisch. Sie sitzt in der Ecke, halb vom Tisch verdeckt, und das ist die einzige Perspektive, aus der er sie zu Gesicht bekommt. Eigentlich ist die Heirat geplant, aber er lässt entsetzt davon ab, als er einmal zufällig durch das Fenster sieht, wie sie Platz nimmt - sie hat überhaupt keinen Unterleib und gehört zu einer Freakshow (ihre Freakkollegen tauchen gegen Ende noch einmal auf). Früher hielt ich diese Geschichte für die Vorlage zu Tod Brownings Film "Freaks", aber das kann schon zeitlich nicht sein. "Freaks" stützt sich auf eine andere Kurzgeschichte von einem Autor namens Clarence Robbins.


    ps. Von "grimmigen Erinnerungen" sprach ich oben übrigens deshalb, weil es im Nachwort zu diesem letzten Band heißt, dass Peake darin seine traumatisierende Erfahrung verarbeitet hätte, nämlich dass er als Berichterstatter bei der Befreiung des KZ Bergen-Belsen dabei war. Ich kann mich dumpf an mindestens eine Szene im dritten Band erinnern, die darauf anspielt - aber nur sehr dumpf, es ist mehr ein Gefühl als eine richtige Erinnerung. Die zweite Lektüre macht mir viel Freude, vor allem, weil ich deutlich merke, dass ich heute ganz anders lese als damals; einfach weil ich mehr Zeit habe.

    Ach, das wusste ich gar nicht, dass es den Film in voller Länge dort gibt. Ganz herzlichen Dank für den Link, giesbert . Ich habe den Film nämlich noch nie gesehen, Herr Zefira kennt ihn aus früheren Zeiten und hat mir mal davon erzählt. Den werde ich mir auf jeden Fall ansehen.


    Ich will in den nächsten Tagen eine Miniserie nach dem Roman "Alias Grace" von Margaret Atwood im Stream ansehen und die Gelegenheit nutzen, dem Buch vorher noch eine Zweitlektüre angedeihen zu lassen. Ich habe es vor zig Jahren schon mal gelesen und weiß noch, dass es jedenfalls leicht und fluffig wegzulesen ist.


    Da ich den ersten Teil von Gormenghast heute beendet habe, passt es gut. Ich weiß nicht, ob ich hier schon erzählt habe, dass ich mir ein englischsprachiges Buch mit Werken von Mervyn Peake bestellt habe. Er war ja im Grunde mehr Maler und Illustrator als Schriftsteller und hat viele bekannte Bücher bebildert, u.a. Romane von Stevenson und die beiden Alice-Bände. Ich habe mir im Internet etliche Seiten mit seinen faszinierenden, düsteren Zeichnungen angesehen und habe mir schließlich das Buch gegönnt, das seine Frau nach seinem Tod herausgegeben hat, "Peake's Progress". Es war nicht teuer. Ich bleibe in Gormenghast bis zum bitteren Ende (an den letzten Band habe ich ein paar grimmige Erinnerungen ...).