Beiträge von Trevor

    Sehr richtig!


    Es erinnert nicht nur an Manguels "Tagebuch eines Lesers", sondern ist dieser Idee auch nachempfunden.
    Bracharz hat sich nach der Lektüre Manguels zu dem Umsetzen der Idee auf seine Weise entschlossen.



    LG
    Trevor

    Kurt Bracharz „Für reife Leser“


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    Der Mensch ist bekanntlich ein Gewohnheitstier und das ist im Falle dieser Lektüre auch gut so. Andernfalls würde man wahrscheinlich nicht über die ersten zwanzig Seiten hinauskommen.


    In Tagebuchform und kurzer, prägnanter Alltagssprache ohne viel Schnörkel und Klimbim berichtet der Autor über seine Leseabenteuer.
    Er wählt anfangs genau zwölf Bücher aus, die er in ebenso vielen Monaten lesen will, hat aber auch über jede Menge Zwischenlektüren, Filme, Erlebnisse, Literaten und vieles mehr stets etwas zu berichten. Dabei schreibt Kurt Bracharz so, wie er denkt, verworren, in vielen Sprüngen, zusammenhanglos und doch mit einem Sinn dahinter, denn v.a. die scheinbare Unordnung seiner „Materialsammlung“, wie sein Werk nach eigenen Angaben von einem Leser betitelt wurde, macht es lesbar und wendet die Gefahr ab, dass aus diesem Projekt eine staubtrockene Abhandlung werden könnte.
    Andererseits verwendet Bracharz etliche Vergleiche, erwähnt viele Bücher, formuliert geschickte Anspielungen, die einem in manchen Fällen aufgrund fehlender Kentnisse nicht klar und sinnvoll erscheinen, was wohl erheblich zu der Unordnung beiträgt.


    Während er ersten Hälfte des Buches fragt man sich nicht selten, warum man es liest und trotzdem kann man nicht aufhören, weil man Gefallen an den sprunghaften Gedankengängen Bracharz` findet. Man fühlt sich unmittelbar angesprochen, einbezogen, ganz so, als würde der Autor mit einem selbst diskutieren und erfährt Inspiration, Anregungen und Zweifel.
    Die Auswahl der Bücher ist interessant, da es zwar keine unbekannten Autoren sind, er aber die typischen Klassiker außen vor lässt, wobei Kurt Bracharz in sehr eindeutigem Tonfall, wenig feinfühlig mit aller Subjektivität vorprescht und so manchen Autor entweder schmackhaft macht oder einem auf immer verleidet.


    Nun könnte man sich fragen, was Sinn und Zweck der Übung sein soll und der Autor selbst teilt dem Leser im Nachwort knapp (wie sonst) mit, dass er durchaus eine Ordnung angestrebt hat, aber welcher Art sie sein sollte, definiert er nicht und überlässt es jedem mehr oder weniger selbst.


    Ich komme trotz aller Zweifel nicht umhin, diesem Buch vier Ratten zu geben, die ich weniger dem Text an sich widme, als vielmehr dem Autor selbst.
    Ich werde mir einige der genannten, mir noch unbekannten Bücher zum Lesen vormerken und auch den phlegmatisch angebrachten Sarkasmus habe ich genossen, aber das Sympathischste an allem war die Tatsache, dass man auf jemanden gestoßen ist, der eine ebensolche Liebe für Bücher empfindet wie man selbst, sich an wunderschönen, aufwendig gestalteten Ausgaben ergötzen und schon an kleinsten Übersetzungsfehlern ewig stören kann, der jede noch so unbedeutende Information speichert und zu den unpassendsten Zeiten wieder abruft.


    4ratten



    Liebe Grüße
    Trevor

    Didier Goupil "Castro ist tot!"


    [kaufen='978-3852185842'][/kaufen]



    Ohne Frage ist der Titel des Buches gewollt provokativ, aber im Laufe des Romans stellt sich schnell heraus, dass diese Provokation einem milderen, fast resignierenden Ton weicht.
    Es ist aus Sicht des Autors die Resignation vor dem endgültigen Scheitern einer hoffnungsschwangeren Revolution, die ihr Volk in Armut, Verzweiflung und mutloser Trägheit zurück lässt.
    Der Roman, in zwei Hälften unterteilt, die jeweils kurz gehaltene Kapitel enthalten, wird aus Sicht des beginnenden 21. Jahrhunderts erzählt und befasst sich sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Gegenwart.
    In ersten Teil, „La vie en rose“ betitelt, stellt der Autor sich selbst als Ich-Erzähler ins Zentrum, spaziert durch das Havanna des 21. Jahrhunderts, beobachtet und urteilt. Als Tourist steht er für die Außenperspektive, sein Grundton ist ein traurig melancholischer, zuweilen auch sarkastisch. Er kennt Kuba so, wie man es in den Nachrichten erfährt, wie nur ein Außenstehender es betrachten kann.
    Parallel dazu wird bereits von der Verhaftung des regimekritischen kubanischen Journalisten Juan Valero berichtet, der in dem zweiten Teil des Romans „Castro ist tot“ das Zentrum der Erzählung darstellt und für die Innenperspektive steht. Mittels eines personellen Erzählers werden dessen Haftbedingungen geschildert, brutal, schonungs- und hoffnungslos.
    In lebhaftem Stil werden eine Menge interessanter Geschichten, Anekdoten und Rückblicke erzählt, sozusagen ein kurzer Abriss von fast allem einer knapp 50 Jahre alten Revolution. Dabei werden sowohl Kritik als auch positive Anmerkungen getroffen, die allerdings im nächsten Atemzug schon wieder einen bitteren Beigeschmack enthalten.
    Und wenn man über Kuba schreibt, darf natürlich eines nicht fehlen, die Musik. Son, Salsa, Cha Cha Cha, all das steht für die kubanische Seele wie nichts anderes und stellvertretend lässt der Autor den Verlust dieser Musik, ihrer Wurzeln und großen Stars für den Verlust des ganzen Volkes stehen.


    Das Buch ist ohne Frage äußerst interessant, erregt Mitleid und Trauer, Wut und Unverständnis und trotzdem kann ich dem Roman nur drei Ratten geben.
    Man fragt sich, woher der Autor so manche Behauptung nimmt und würde sich eine Quellenangabe wünschen, denn immerhin handelt es sich hier nicht um eine Fiktion, sondern um Realität. Es heißt zum Beispiel, Kuba hätte bereits an die 20 000 Ärzte gegen Öl mit Venezuela getauscht und würde daher an einem Ärztemangel leiden, aber woher kommt diese Angabe?
    Ebenso fehlt in Folge dieser Behauptung jegliche Stellungnahme zu der Gesamtsituation Südamerikas, die ohne Zweifel nicht unberücksichtigt bleiben darf. Es wird nur wenig Bezug zu der Stellung Kubas in den internationalen Beziehungen genommen, ihr Handel mit China, Venezuela und ehemals der UdSSR, allesamt linksorientierte Regierungen, wird erwähnt, das Wirtschaftsembargo der USA und dessen fatale Auswirkung auf die Versorgung Kubas hingegen findet keinerlei Beachtung.
    Der immer wieder rabiate Eingriff der USA-Regierung in die Länder Südamerikas und deren Ausbeutung bleibt genauso unerwähnt wie die allgemein bekannte Tatsache, dass Kuba unter nicht amerikanischem Einfluss immerhin das am besten situierte Land Südamerikas ist.
    Die Einschätzungen des Ich-Erzählers wirken nicht selten anmaßend, wenn er zum Beispiel glaubt, in den Gesichtern der Kubaner nach kurzer Zeit des Lebensgefühl eines ganzen Volkes sehen zu können und auch die verhöhnende Darstellung Castros in seinen Turnschuhen, die Nachäffung seiner Marotten wirken wenig objektiv.


    Alles in allem ist dieses Buch eine sicherlich gerechtfertigte Frage nach der Armut und Verzweiflung der kubanischen Bevölkerung, eine interessante Darstellung eines nach wie vor heiklen Themas. Die Antwort hingegen ist eine, wenn auch leise, Anklage aus einer einseitigen Betrachtungsweise heraus.


    3ratten



    Liebe Grüße
    Trevor

    [kaufen='978-3852188027'][/kaufen]


    Unmittelbar und schnell, fast zu schnell, wird der Leser in das Geschehen hineingezogen. Aus den Aufzeichnungen einer Insassin, die sich selbst in die Position des Ich-Erzählers stellt und somit auch wertend kommentieren kann, erfährt man den Alltag in einer Irrenanstalt. Als Leser hat man das Gefühl, unmittelbar angesprochen zu werden und verfängt sich schnell in die Handlung und beteiligten Personen.
    Von Beginn an begegnet einem die Sprache, roh und trotzdem poetisch, abgehackt, aber erzählerisch, schonungslos offen und doch nur andeutungsweise und es wirkt verstörend so wie die abgerissenen Schilderungen, die rasant Situationen und Personen wechseln, wodurch dem Leser nie Genug Zeit und Raum geschaffen wird, um eine Beziehung und somit Emotion aufbauen zu können. Es stellt sich das Gefühl der Absurdität ein, aber wie sollte es anders sein in einem Irrenhaus?


    Alles wird nur kurz, fast grob angerissen und es geht hier nicht um die Einzelpersonen oder besonders schwere Schicksale, sondern um die Sache an sich, den Umstand, dass es hier um erkrankte Emotionen geht, die nicht fassbar sind.
    Nicht nur die Insassen leiden darunter, auch das Personal, welches in unterschiedlicher Weise beschrieben wird, fast so, als könne sich die Autorin nicht entscheiden, ob sie eine Verurteilung, Verständnis oder Rechtfertigung verdient hätten. Es gibt Schwestern und Ärzte, die recht kühl und distanziert erscheinen, aber auch solche, denen durchaus menschliche, warme Züge gegeben werden und am Ende wird sogar eine Art der Absolution erteilt, denn wie sonst sollte sich das Personal selbst schützen, wenn nicht durch schematisierte Arbeitsabläufe, die keinen Raum bieten für Zwischenmenschliches.
    Etwaige Behandlungsmethoden wie das Anlegen der Zwangsjacke oder das Verabreichen von Arsen oder Schlafmitteln, werden so beiläufig knapp erwähnt, dass sie gar nicht brutaler wirken könnten.
    Eine Handlung an sich gibt es nicht und auch selten Tages- bzw. Zeitangaben, die Erzählung wird dem Leser mehr oder weniger vor die Füße geschmissen, ganz nach dem Motto „Friss Vogel oder stirb“, denn so ist das Leben.


    Dieser Ort und v.a. der recht knappe Umfang der Aufzeichnungen lässt keinen Platz für schmalzige Sentimentalitäten, denn sonst bräuchte der Leser viel mehr Zeit, um in die Echtheit der Handlung einzudringen. So aber gelingt es der Autorin, den Leser von der ersten Zeile an mit ihrer authentisch kühlen Sprache, mit der ganzen Tragik zu erschlagen, zu fesseln, vorzuführen.


    Was ist die Lösung und gibt es eine? Die Frage scheitert schon fast daran, dass man das wofür nicht definieren kann. Muss es eine Lösung für die Insassen geben oder eine für die Absurdität der Welt da draußen? Die Autorin kommt auf die Liebe zu sprechen .... welche Liebe? Muss sie erwidert werden oder genügt es, wenn wir sie in uns haben? Müssen wir nicht zuerst uns selbst lieben, aber ganz langsam und behutsam? Ihre Liebe wird nicht erwidert, weil sie nicht einmal erkannt wird und auch die Schilderungen zwischenmenschlicher Beziehungen, des Liebesaustausches zwischen den Patienten und Angehörigen oder untereinander sind nur einseitig und wirken gescheitert. Es sind Patienten, die keine Liebe erwarten, weil sie noch nie geliebt wurden, nicht einmal sich selbst lieben können. Vielleicht ist das die Antwort, wenn es überhaupt eine gibt. Die Ich-Erzählerin legt sich keinesfalls fest, deutet nur unsicher an und resigniert. Das ist ihre Entwicklung, die Suche nach einer Antwort, einem Warum und schließlich die Resignation vor dem grausamen Spiel des Lebens, eines Gottes oder Teufels, wenn man es so sehen will und auch die Liebe kann wohl keine Rettung sein, weil sie aus uns nur Spielgefährten macht, Marionetten zur Belustigung derer, die dieses Spiel mit uns spielen.


    Die Ich-Erzählerin wird nach sechs Wochen entlassen, aber der Ton, in dem sie dies in aller Kürze notiert, zeigt deutlich, dass sie bereits resigniert hat noch ehe sie wieder in das Leben geschmissen wird.


    Dieses Buch ist allemal lesenswert, literarisch wertvoll und in hohem Maße menschlich, ohne Zeigefinger und Moral, einfach authentisch und still und somit eine umso brutalere Anklage des Lebens.
    Als einzigen Kritikpunkt könnte man die Kürze des Werkes anbringen, denn sobald man sich endgültig auf den Ton der Erzählerin eingelassen hat, ist es auch schon wieder zu Ende.


    Im Anhang erfährt man noch einiges zur Überlieferung, Entstehung und Interpretation des Werkes. U.a. wird untersucht, inwiefern autobiografische Bezüge hergestellt werden können und welche äußeren Umstände Chrinstine Lavant besonders beeinflusst haben müssen. V.a. aus dem Briefnachlass erhält man einiges an interessanten Zusatzinformationen.
    Weiterhin gibt es noch jede Menge editorischer Hinweise sowie Erläuterungen der Ausgabe.


    Fazit: Ein überaus empfehlenswertes Stück Literatur der österreichischen Nachkriegszeit in netter Aufmachung und mit ergänzenden Erläuterungen, die, wenn auch etwas knapp ausgefallen, dem Ganzen einen Hintergrund geben.


    5ratten


    Liebe Grüße
    Trevor

    [kaufen='978-3518458549'][/kaufen]


    Ich habe selten ein Buch gelesen, das die Widersprüche, Konflikte und Schönheiten des Lebens auf solch überzeugende Art und Weise zu einem Ganzen, Sinngebenden formen konnte.
    Der junge hübsche Goldmund verkörpert die Seele eines Sinnesmenschen, der genießt und verschwendet, verführt und liebt, träumt und leidet, ganz und gar die Schöpfung eines Gottes in sich aufnimmt, an den er nicht glaubt.
    Der stets beherrschte und streng gläubige Narziß hingegen steht für den Denker, dem sich die Welt in Form von Texten, Sprachen, Gebeten und Formeln erschließt. Alle Lebendigkeit, die sich den Trieben und Sinnen eines Menschen erschließt, verkörpert für ihn die Sünde.


    Zwischen den beiden Figuren entsteht trotz oder gerade wegen ihrer Gegensätzlichkeit im Wesen eine tiefe Freundschaft und Liebe füreinander, in der jeder der beiden in der Bewunderung für den jeweils anderen aufgeht.


    Goldmund zieht schließlich als Landfahrer in die Welt hinaus, während Narziß seiner Laufbahn im Kloster folgt und es bis zum Stand des Abtes bringt. Es vergehen viele Jahre bis die zwei auf unerwartete Weise und in einer verzwickten Situation wieder aufeinandertreffen und sich eine Menge zu erzählen haben.
    Unter den vielen Fragen, die beiden auf der Seele brennen ist auch die alles Entscheidene Frage nach dem Sinn des Lebens, der hier vielmehr in der Überwindung des Vergänglichen gesehen wird. Diese Frage wiederum ist v.a. für den rastlosen Goldmund nur unter Beachtung des Konflikts zwischen dem Denker und dem Künstler zu beantworten, da es dieser Widerspruch ist, der ein ganzes Leben lang in ihm lodert. Er wäre gern beides, der Sinnesmensch, der das Leben in vollen Zügen mit aller Leidenschaft genießt und zugleich der Denker, der sich auf die gesammelten Eindrücke der Wanderschaft in aller Ruhe besinnen kann, um sie der Vergänglichkeit zu entreißen. Goldmund bedient sich hierbei der Bildhauerei und erschafft etliche Figuren, die verschiedenen bewegten Etappen seines Lebens entspringen und somit noch viele Jahre, mindestens sein Leben überdauern werden. Aber mit der Arbeit an seinen Figuren erschöpft sich auch sein Vorrat an Kraft, seine Eindrücke des Lebens und er wird von Neuem in die Welt hinausgezogen.
    Narziß hingegen verbringt sein gesamtes Leben im Kloster, widmet es dem Lernen und Lehren von Schülern und entreißt der Vergänglichkeit somit auf ganz andere Art und Weise seinen Geist.
    Als Narziß und Goldmund schließlich wieder zusammentreffen, beneidet einer den jeweils anderen, denn beiden wurden Opfer abverlangt. Narziß hat nie die Lebendigkeit der Welt und seiner selbst , Goldmund hingegen nie die Wärme einer Heimat, Sicherheit und Geborgenheit spüren dürfen und doch muss man den beiden zugestehen die jeweils richtige Entscheidung getroffen zu haben. Am Ende steht die Erkenntnis, dass jeder sich entsprechend seines Gemüts und Geistes im Leben und auf Erden verwirklicht hat und es ihnen einzig dadurch gegeben war, ein Stück ihrer selbst und des Lebens der Vergänglichkeit, dem Tod zu entreißen und die Nachwelt mit sinnlicher und wissender Erfüllung zu bereichern.


    Dieses Buch ist auch sprachlich meisterhaft geschrieben und ein wirklicher Genuss. Ich kann es nur jedem empfehlen, der nach einem Werk sucht, welches den Geist nicht mit dem Zeigefinger sondern auf liebevolle Art und Weise bereichert und gleichzeitig unterhaltsam ist.


    5ratten


    Liebe Grüße
    Trevor

    Da dieses Werk hier nur als Hörbuchfassung kommentiert ist, habe ich einen eigenen Thread eröffnet.


    [kaufen='978-3499225000'][/kaufen]



    Die Handlung spielt im Jahre 194... in dem algerischen Küstenstädtchen Oran. Es beginnt mit ein paar toten Ratten und seltsamen Todesfällen in der Bevölkerung bis schließlich offiziell der Ausbruch der Pest bestätigt wird. Die Stadt und deren Bewohner werden ohne Vorwarnung von der Außenwelt abgeschottet, es gibt keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme zur Außenwelt, denn auch Telegramme sind verboten. Dieser Zustand der strikten Quarantäne dauert kanpp ein Jahr und Camus führt den Leser mittels ambivalent angelegter Charaktere durch diese Zeit.


    Die Entwicklung der Situation wird sehr eindringlich und durchdacht dargestellt und steht letztendlich doch für das Gesamtbild der Menschheit an sich.
    Vom anfänglichen Verkennen der ernsten Lage, dem anschließenden Ausbruch der kopflosen Panik bis hin zur Phlegmatie und Selbstaufgabe zeigt Camus an Einzelschicksalen lebhaft dargestellt die vollkommene „Funktionsweise“ des Menschen.
    Manche sind einem sympathischer und andere weniger, wie es wohl mehr oder weniger in jedem Roman der Fall ist, aber je tiefer man in die Charaktere, deren Biografie und Motivation vordringt, versteht man, dass es hierbei nicht um Sympathie geht.
    Camus bringt einen dazu, zu verstehen.
    Man entwickelt nach und nach Verständnis für jeden einzelnen in diesem Stück angelegten Charakter, weil man sich selbst, eigene Hoffnungen, Ängste, Verzweiflungen und jede Menge mehr in ihnen und ihren Handlungsweisen erkennt.


    Es gibt etliche Interpretationen zu diesem Werk des Philosophen Camus, u.a. auch Auslegungen auf den zweiten Weltkrieg, die durchaus gut zutreffen können. Sollte der Autor aber und in erster Linie beabsichtigt haben, den Lesern einen Spiegel vorzuhalten, dann ist ihm dieses Vorhaben m. M. Nach sehr gut geglückt.
    Umso bedrückender wirkt das Scheitern einzelner Personen an ihrem Schicksal, das Scheiter unserer eigenen Hoffnung.


    Die Tatsache, dass Camus die grundlegendsten Emotionen des Menschen wie Verzweiflung, Angst, Sehnsucht, Zuversicht, Hoffnung, etc. in solch konzentrierter Reinform hinstellen konnte, verdankt er dem Rahmen, den er seinen Personen gegeben hat.
    Sie befinden sich allesamt in einer absoluten Ausnahemsituation, abgeschottet von der Außenwelt haben sie nicht die Möglichkeit, ihre Emotionen in der Hektik und Anonymität des Alltags zu verlieren. Die Charaktere müssen sich, viele von ihnen zum ersten mal überhaupt, mit ihren Gefühlen, ihren Gedanken, ihrem Gewissen, ihrem Handeln auseinandersetzen und lernen jemanden kennen, mit dem sie bisher ihr ganzes Leben verbracht haben: sich selbst.


    Die ständige emotionale Randlage und die sprachliche Intelligenz eines Albert Camus lassen dieses Buch an den Händen kleben, bis man die letzte Seite ausgelsen hat.


    Zur Motivation und allgemeinen Erheiterung dient dieses Werk allerdings nicht, sondern hinterlässt gemäß der allgemeinen Philosophie Camus` die deprimierende Erkenntnis, dass der Mensch zwar vieles vermag, aber sich letztendlich permanent in einer solch absurden Situation befindet, dass selbst alles Handeln keinen Ausweg bringen kann. Das einzig Positive, das der Autor dem Leser zu erkennen gibt, ist die Fähigkeit des Menschen zur Liebe, in Liebe für andere Menschen handeln zu können und Liebe zu erhalten.
    Dementsprechend wirken auch die Charaktere in dem Buch als Marionetten ihrer Umwelt, ihrer Gefühle und jeweiligen momentanen Situation, sprich des Absurdums, wie Camus es in seiner Philosophie beschreibt.


    Ich bin kein Freund seiner Philosophie, aber dieses Buch ist auf eine Art und Weise geschrieben, die einen unmittelbar berührt, betrübt und vor den Gedanken stellt, dass der Mensch in seiner Unvollkommenheit doch stets um einen Ausweg aus seiner Situation bemüht ist.


    Empfehlen kann ich dieses Buch v.a. denjenigen, die für den Bereich der philosophischen sowie sozialen Anthropologie Interesse hegen und nichts gegen ein bißchen deprimierende Kost einzuwenden haben.


    5ratten


    Liebe Grüße
    Trevor

    Hallo an alle Leser :winken:


    Da ich es oft bedaure, dass in vielen anderen Foren die Klassiker meist im Abseits stehen, bin ich sehr froh, dass mich jemand auf dieses Forum aufmerksam gemacht hat.


    Auch wenn ich die Klassiker bevorzuge und hohe Ansprüche an Literatur habe, bin ich grundsätzlich keinem Genre abgeneigt, da sich kostbare Schätze überall finden lassen. Im Bereich der Klassiker zählen die Gebrüder Mann zu meinen absoluten Favoriten.
    Ich verwende viel Zeit darauf, die Klassiker durchzustöbern und habe mir vor kurzem Leselisten zugelegt, da ich sonst den Überblick verlieren würde. Meine Liebe führt leider auch dazu, dass ich andere Genres und v.a. zeitgenössische und moderne Literatur aus den Augen verliere, aber damit habe ich mich abgefunden.


    Der Tag ist viel zu kurz, um alles lesen zu können, was vielversprechend klingt und deshalb muss man wohl oder übel Abstriche machen.


    Ich hoffe, hier auf hilfreiche und gute Empfehlungen zu stoßen und ungeahnte Schätze zu finden.


    Liebe Grüße
    Trevor