Ein Klassikerforumswettbewerb für 2021 - Kommentare und Diskussionen

  • Ich wüsste gerne, ob es neuere Übersetzungen von Wolfes Werk gibt, in denen sein unverhohlener Rassismus vielleicht ein wenig gezähmt erscheint. Schon in "Schau heimwärts, Engel", das eigentlich eines meiner "Lebensbücher" ist - ich habe das vermutlich im Lauf meines Lebens fünfmal gelesen - nervt das. In "Von Zeit und Strom" ist es keineswegs besser. Dass ein Autor dieser Zeit das Ne*-Wort gebraucht, ist wohl normal, aber Wolfe benutzt ständig das Ni*-Wort. Über Juden schreibt er auch so mancherlei, aber er macht sie jedenfalls nicht in dieser platten Form nieder.
    Das Buch macht durchaus Spaß, aber man muss beim Lesen jederzeit den berühmten Löffel Salz in Griffweite haben.

  • Mir geht es wie dir. Ich zucke auch innerlich zusammen, wenn ich eines dieser Wörter lese. Trotzdem fände ich es nicht angebracht, in einer neuen Übersetzung diese Ausdrücke quasi zu korrigieren. Ganz im Gegenteil: Ich finde es wichtig, dass wir zusammenzucken, und uns bewusst sind, dass es eine Zeit gab, in der es völlig normal war, sich so auszudrücken. Durch eine beschönigende neue Wortwahl würden wir nur zeigen, dass WIR heute besser sind, und dass WIR solche Wörter nicht in den Mund nehmen. Darum geht es aber meiner Meinung nach bei einer Übersetzung nicht.

    Beim Thema Holocaust ist es uns doch so wichtig, dass wir nicht vergessen, was geschehen ist. Und auch wenn es um Rassismus geht, dürfen wir nicht vergessen und durch eine neue Wortwahl so tun, als sei in dieser Beziehung schon immer alles in Ordnung gewesen.

    Und bei der Gelegenheit wird mir bewusst, dass ich "Schau heimwärts, Engel" bisher noch nicht gelesen habe. Muss ich demnächst nachholen!

  • Im Grunde ist es mir auch sehr wichtig, dass in den Klassikern nicht herumgepfuscht wird. Wenn Wolfe es so gesehen hat, sollte es auch so stehen bleiben. Nur, die evtl. dunkelhäutigen Leser/innen dieses Romans tun mir schon recht leid. Wenn es mich schon ständig triggert, wie wird es ihnen damit ergehen?


    Wolfe ist ein ungemein sinnlicher Autor, übertreibt bei jeder Gelegenheit und benutzt bisweilen geradezu überkandidelte Ausdrücke, zum Beispiel bezeichnet er die jugendliche Lebenslust Eugenes gern als "Bocksgeschrei". Damit ist nicht etwa der Samenstau der Pubertät gemeint - das könnte ich ja noch nachvollziehen -, sondern einfach jugendliche Lebensfreude, das wäre also theoretisch auf junge Damen auch anwendbar, aber junge Damen oder überhaupt Damen sind bei Wolfe - auch das stößt mir sauer auf - irgendwie keine richtigen Menschen, entweder sind sie sexuell anziehend (und sonst nichts) oder hysterisch. Vielleicht kommt doch noch mal ein Lichtblick.


    Es klingt eigentlich erstaunlich, dass ich dieses Buch trotz all meiner Einwände gern lese, aber es ist an dem. Nur kann ich nicht lange dranbleiben, hier ein Kapitel und da eins, das geht gut.

  • Du hast mich neugierig gemacht. Wolfe kommt auf jeden Fall auf meine Zu-Lesen-Liste. Da muss er allerdings erst einmal hinten anstehen. Bin gerade in einer Leserunde mit "Die Elixiere des Teufels" von ETA Hoffmann, und daneben habe ich "Das Treffen in Telgte" von Günter Grass.

  • Ach, die "Elixiere" warten bei mir schon lange auf ein Wiederlesen! Da ich ohnehin, sobald ich meine diesjährige Klassiker-Leseliste abgedient habe, mich meinem Phantastica-Regal zuwenden möchte, kann ich bei dieser Gelegenheit dann an ein Re-Read gehen.

  • Für mich ist es die erste Begegnung mit den Elixieren. Weiss nicht, wie das passieren konnte, wo ich Hoffmann so liebe! Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich "Das Fräulein von Scuderi" schon gelesen habe, und "Klein Zaches" und und und... Ich habe unter anderem eine wunderschöne leinengebundene Ausgabe aus dem Verlag Neues Leben Berlin mit neun Geschichten und ganz bezaubernden Illustrationen von einem Carl Hoffmann. Ich frage mich, ob das eine zufällige Namensgleichheit ist? Hoffmann ist allerdings kein besonders seltener Name.

    Meine allererste Begegnung mit Hoffmann hatte ich bereits mit 17 Jahren oder so durch die Oper "Hoffmanns Erzählungen". Ich habe gleich die Originalgeschichten gelesen und mich auf der Stelle verliebt.

  • Jetzt muss ich mal lachen! Ich glaube, ganz genau dieses Buch habe ich auch!

    Es hat einen hellgrünen Schutzumschlag und heißt "Der unheimliche Gast".

    Ich hatte das ungeheure Glück, es für ganz kleines Geld auf einem Flohmarkt zu finden. Die farbigen Illustrationen sind ganz bezaubernd, zum Beispiel die zum Sandmann sind richtig schön gepflegt-gruselig.

    Der Sandmann ist meine Lieblingsgeschichte von Hoffmann, aber ich habe auch noch nicht alles von ihm gelesen. Einiges wartet da noch auf mich ...

  • Ah, jetzt hat sich auch mein Verdacht bestätigt. Ich habe einen schönen Doppelband Gespenstergeschichten im Schuber, vom Verlag Neues Berlin, in dem auch einige Illustrationen von Carl Hoffmann drin sind. Der Stil kam mir gleich so bekannt vor ...

  • Ich bin hier neu, und habe noch nicht rausgefunden, wie das mit gezielten Antworten direkt unter einem Beitrag funktioniert.


    Also erst einmal sandhofer: danke für den Link!


    Und Zefira: Genau das Buch meine ich, "Der unheimliche Gast.". Der hellgrüne Schutzumschlag hat sich bei mir allerdings schon vor einer ganzen Weile verabschiedet.

  • Ich war ein paar Tage unterwegs und hatte wenig Lesezeit, bin nun ungefähr in der Mitte von "Zeit und Strom". Wie schon mehrmals erwähnt, stört mich der unverhohlene Rassismus. Der vorläufige Höhepunkt war erreicht, als Eugene Gant, der literaturwissenschaftlich gesehen als Wolfes alter ego betrachtet wird, einen Riesenaufstand macht, als er bei einer Trunkenheitsfahrt von einem Landpolizisten festgesetzt wird: die Festsetzung nimmt er noch hin, aber dass sich in der Zelle, in die er hinein soll, bereits ein Ni** befindet, ist ein unerträglicher Affront. Er tobt herum wie nicht gescheit. Am nächsten Tag, als er ausgenüchtert ist, holt ihn sein Bruder ab. Dass er besoffen im Auto saß (immerhin nicht am Steuer, aber der Fahrer, sein Freund, war auch besoffen) ist ihm im Nachhinein recht peinlich, aber dass er die Zelle mit einem Ni** teilen sollte, sieht er nach wie vor als Ungeheuerlichkeit an.

    Das Buch hat durchaus schöne Momente, aber bei weitem nicht die erzählerische Qualität wie "Schau heimwärts, Engel", und vor allem strahlt es, auch von dem rassistischen Aspekt abgesehen, zuweilen eine merkwürdige misanthropische Selbstgerechtigkeit aus, die mir auf die Nerven geht. Ich lese es wahrscheinlich trotz alledem fertig, weil viele Personen, die darin vorkommen, mir aus "Schau heimwärts, Engel" lieb und teuer sind, vor allem Lukas Gant ist mein heimlicher Favorit. Den Folgeband "Geweb und Fels" werde ich mir aber definitiv nicht mehr antun.

  • Ich habe es ausgelesen, es ist ein sehr fremdartiges Buch mit diesem archaischen Gemisch aus Religion und Aberglaube (wenn man nicht ohnehin der Meinung ist, dass das dasselbe ist), aber die Atmosphäre und Landschaftsschilderung machen es zu einer durchaus lohnenden Lektüre. Wer vielleicht "Das Gehöft" von Federigo Tozzi kennt - das Buch ist ein wenig ähnlich im Stil, halt noch mit den religiösen Vorstellungen von Schuld und Sünde als Handlungsmotor.

    Danke für den kleinen Eindruck.

    Ich habe mal flüchtig die sardische Welt des Films und der Literatur gestreift. Seither bleiben bestimmte Namen irgendwo in den hintersten Ecken des Gedächtnisses gespeichert und ab und an kommen ein paar dazu. Deledda ist so einer.

    Salvatore Mereu ist ein sardischer Filmemacher, dessen "Bellas Mariposas" ich faszinierend fand. Der Film beruhte auf einer Vorlage von Sergio Atzeni, die anscheinend bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Giulio Angioni lieferte mit "Assandira" eine weitere literarische Vorlage für Mereu.


    Obwohl die sprachlichen Aspekte für jemanden, der des Italienischen nicht mächtig ist, nur sehr schwer zu fassen sind, also in diesem Fall die Eigenheiten der sardischen Sprache, finde ich sie sehr spannend. Ebenso der Versuch, solche Besonderheiten in eine Übersetzung hinüberzubringen, was gewöhnlich sehr schwer ist, oder eben diese einfach wegzulassen, was leicht aber manchmal auch bedauerlich ist.

  • Ich werde "Von Zeit und Strom" wohl doch nicht auslesen. Über "Die Ni**er" ging es schon eine ganze Weile her, jetzt hat Wolfe Eugen Gants jüdische Studentinnen aufs Korn genommen (Eugen ist Universitätsdozent); dieses Kapitel ist einfach ekelhaft. Wolfe (oder sein Eugene Gant, wenn man so will) ist ein Chauvinist, der, zumindest in diesem Buch, alle anderen Menschen ausschließlich nach seinen eigenen Bedürfnissen definiert. Dieser unglaubliche Mangel an einfachster menschlicher Demut nervt fürchterlich, das wäre allenfalls von einem sehr alten Menschen auszuhalten, aber nicht von einem Kerl knapp über zwanzig, der selbst noch in den Wanderjahren begriffen ist. Und anscheinend wird es auch nicht besser. Angeblich trifft Eugen bei einer Schiffsreise in den letzten Kapiteln des Buchs "die Frau seines Herzens", die laut einer Besprechung, die ich online gefunden habe, so beschrieben wird:


    "Rosalind selbst aber war lieblich und süß und stark wie die Erde ringsum. Sie war kein Geschöpf aus einer Elfenphantasie, sie war nicht geschmeidig und schlank und flüchtig wie eine Nymphe, sie war ein Mädchen, warm und mit einem kräftigen Körper, mit weiten, gebärfähigen Hüften, wohlig, sanft und umgängig von Natur wie eine Kuh, aber strahlend und schön von der Helle ihrer Mädchenhaftigkeit, voller Süße, Kraft und zärtlich heiterem Frohsinn."

    Ganz ehrlich, das wird mir zu doof. Ich streiche dieses Buch von meiner Liste, beim Stand 618 Seiten von insgesamt 1174.

  • Heute war ich zufällig wieder in dem schönen Antiquariat in Wiesbaden, wo ich damals die kommentierte Ausgabe von Huck Finn gefunden habe. Das nehme ich jetzt mal als Zeichen, lege den Wolfe weg und widme mich Huck.
    Natürlich habe ich auch wieder eingekauft, unter anderem einen Gedichtband von Enzensberger "Die Geschichte der Wolken", der mir schon jetzt viel Freude macht.

  • Mit Huck kam ich leider nicht weit, da mir etliche Leserunden dazwischenkamen und außerdem eine Urlaubsreise, bei der ich das großformatige Buch nicht mitnehmen wollte. Dafür habe ich nun endlich Anna Karenina (Reread) wieder begonnen, das kann neben meiner aktuellen Leserunde mit Shuggie Bain neebnher laufen.
    Kürzlich habe ich mal wieder in Tolstojs Novelle "Die Kreutzersonate" geschaut und finde gleich am Anfang von Anna Karenina die dort angesprochenen Themen wieder: Der in vollem Saft stehende Ehemann meint, ein Recht auf außereheliche Freuden zu haben, da seine Frau mit 33 Jahren nach sieben (!) Schwangerschaften - fünf Kinder haben überlebt - nicht mehr attraktiv genug und obendrein von Familiensorgen bedrückt ist.
    Anna ist noch gar nicht aufgetaucht (ich stehe noch am Anfang), dafür aber Lewin und seine Kitty.

  • Anna Karenina war nicht mein Lieblings-Tolstoi, deshalb bin ich bisher nicht auf ein Reread gekommen.

    Bin gespannt auf weitere Leseeindrücke, Zefira.


    Ich glaube, dass ich so gut wie nichts von der Liste schaffen werde, weil ich mich anhand der Teilbände der "Ahnen" durch die Epochen hangele und dabei soviel anderen Lesestoff finde, dass ich im Moment im 16. Jahrhundert verweile und das wohl noch eine ganze Weile. Dann schreibe ich den Rest eben auf 2022 um.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

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  • Ich finde es faszinierend, wie Tolstoj mit wenigen Worten einen Seelenzustand überzeugend schildern kann. Beispiel: Anna ist Wronski auf einem Ball begegnet und genießt die Aufmerksamkeit, die er ihr entgegenbringt. Als sich die beiden im Zug wieder treffen, erklärt er sogar, er wolle überall sein, wo sie sei. Anna hat noch nicht realisiert, dass sie ihn wiederliebt (oder es sich noch nicht gestattet, da sie verheiratet ist), fühlt sich aber allgemein glücklich und bedeutend. Als Karenin, ihr Mann, sie vom Zug abholt, fallen ihr als erstes seine großen, abstehenden Ohren auf. Sie sollte ihn ja kennen, schließlich ist sie mit ihm verheiratet, aber im weiteren Lauf des Tages - das Familienleben ist angenehm, er behandelt sie sehr aufmerksam - kommt ihr wieder der Gedanke "wie kommt er bloß zu diesen Ohren"? Dieses Detail finde ich unglaublich sprechend, es sagt so viel über die Beziehung der beiden, bzw. über ihren Seelenzustand, nachdem sie Wronski begegnet ist.

  • Irgendwie bin ich heuer gar nicht zum Lesen gekommen, ich nehme alle Bücher in den Bewerb für nächstes Jahr mit. Irgendwie herrscht bei mir jedes Jahr Chaos :rolleyes:

    Und ich dachte, ich schaffe ganz viel, weil ich Anfang des Jahres wegen einer OP zwei Monate nicht arbeiten musste, aber es ist dann doch nicht so gewesen bzw. ich habe alles mögliche Andere gelesen, auch viel Unterhaltungsliteratur und bin hier fast gar nicht weitergekommen. Aber das macht doch nichts, ich mache es genauso wie du.
    Oft ist es auch so, dass man in dem Moment, wo man seine Listen für das nächste Lesejahr macht, ganz andere Interessen hat, als sie sich dann im Laufe des Jahres entwickeln. Dann ist das eben so. Wir sind ja Lust-Leser und keine Berufsleser, jedenfalls denke ich, dass das für einen Großteil hier gilt, auch wenn viele von uns auch beruflich mit Büchern zu tun haben.


    Zefira, ja die Szene mit den Ohren zeigt die prägnante Erzählkunst, mit einem scheinbar lächerlichen Detail viel zu sagen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)