Gustav Meyrink: Das grüne Gesicht

  • Hallo,


    hier lesen wir in der nächsten Zeit den mystisch angehauchten Roman "Das grüne Gesicht" von Gustav Meyrink. Er erschien 1916 und spielt in Amsterdam.

    Angemeldet für die Leserunde sind

    Zefira

    Firiath

    finsbury.

    Wir freuen uns natürlich auch über mehr Mitleser.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Das erste Kapitel habe ich abgeschlossen. Es spielt in einem wenig fashionablen Viertel von Amsterdam, in dem der bisherige Er-Erzähler, Fortunat Hauberrisser, ein elegant gekleideter Ingenieur, etwas haltlos umherstreift. Um einer Bande neugierig gekleideter, nach Fisch riechenden Halbstarker zu entgehen, flüchtet er in einen Laden für Magie und erotische Schlüpfrigkeiten. Dort trifft er auf seriöse Überseekaufleute mit Interesse an Erotika, einen Zulu-Medizinmann, der sich Tricks von einem Preßburger Professor für einen noch gelungeneren Auftritt in seiner Heimat beibringen lässt, sowie auf eine aufreizende Verkäuferin und schließlich den Ladenbesitzer, anscheinend schon der Träger des titelgebenden grünen Gesichts.

    Bisher hat mir die Lektüre mit der farbigen Darstellung des Personals viel Vergnügen bereitet, allerdings zeigt sich in den Reflexionen des Er-Erzählers schon eine Weltmüdigkeit, die dann vielleicht in diese mystische Sinnsuche münden wird, für die der Roman anscheinend bekannt ist. Interessant, dass ein solcher Typus ausgerechnet Ingenieur ist, einem Berufsstand, bei dem man eher eine erdfeste Rationalität vermuten würde.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Das zweite Kapitel habe ich inzwischen auch gelesen. Interessant ist das Zeit-Setting. Der Roman ist 1916 erschienen und spielt in dem zeitgenössischen Amsterdam, das von Flüchtlingen vor den Kriegsfolgen, die weiter in den Westen, wohl vor allem nach Amerika wollen, überfüllt ist. Dieses Zeitraster setzt voraus, dass der Weltkrieg zu dem Zeitpunkt schon vorbei ist und die Menschen an den Folgen, besonders Sorgen um die berufliche Zukunft und inneren Konflikten in den Nachkriegsländern leiden. Das ist eine interessante Parallelwelt zur eigentlichen Entwicklung! Ich habe schon einmal einen Roman gelesen, bei dem das auch so war, der das Ende einer politischen Entwicklung schon als gegeben ansah, obwohl sie noch anhielt. Aber ich weiß leider nicht mehr, welches Buch das war.
    Tucholsky hat in seiner Rezension dieses Kapitel durchaus gelobt, weil es schonungslos auf die gesellschaftlichen Konflikte der damaligen Zeit hinweist, und ich finde auch, dass man im Moment den Roman noch gut lesen kann.
    Allerdings stößt mir bei Meyrink - wie schon im "Golem" - die latent rassistische und chauvinistische Schreibe auf, so wie er von den Afrikanern, aber auch den Juden, also seinen eigenen Leuten - er war der Sohn der jüdischen Hofschauspielerin Maria Meyer, ein sogenannter "Kryptojude", der sein Judentum verleugnete - spricht und wie er Frauen entweder als raffinierte Verführerinnen oder Wohltätigkeitsschrapnells darstellt. Aber vielleicht wird das Letztere ja noch etwas differenzierter.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe meine liebe Not mit den Meyrink-typischen Verschachtelungen und beschreibenden Nebensätzen.

    Manchmal muss ich einen Satz von hinten her aufdröseln, um richtig zu verstehen, worauf sich die einzelnen Nebensätze beziehen.

    Andererseits nimmt die Atmosphäre dieses "Vexiersaloons" in dem wie eingesunkenen wirkenden Grachtenhaus sofort gefangen.

  • Das ist ja mal lustig. Ich bin im zweiten Kapitel und finde dort gleich am Anfang des Gesprächs mit der "Frau Consul Rukstinat" den Satz "Yoni soit qui mal y pense".

    Steht das bei euch auch so da oder ist das ein Druckfehler?

    Die "Yoni" bezeichnet in der Tantra-Massage die Vagina.

  • Ob das wohl Absicht ist? Die anderen Wortspielereien sind ja absichtlich gesetzt wie z.B. das verballhornte Goethezitat. Die arme Frau Consul kriegt es ja dicke ab. Ich bin jetzt im vierten Kapitel und wundere mich, dass es immer noch so gut lesbar ist. Es wird im Netz von einigen so dargestellt, dass der Roman wegen der esoterischen Abschweifungen recht sperrig zu lesen sei.

    Wir werden sehen. Im vierten Kapitel tritt - so denke ich - die weibliche Hauptperson zum ersten Mal auf. Auch sie ist ruhelos bis hin zu Suizidabsichten, also die ideale Kombination (oder auch eben nicht?) zu Hauberrisser.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Bis zum sechsten Kapitel habe ich mich jetzt vorgearbeitet, und es wird immer mehr zu einer mystisch angehauchten Räuberpistole - mit hysterischer Tötung, Mord und immer mehr zwielichtigen Gestalten. Das Setting ist sehr gelungen, dieses mittelalterlich-düstere Amsterdam, andererseits im Vergnügungsrausch der langen Sommernächte. Das Ganze erinnert mich ein wenig an Sues "Die Geheimnisse von Paris", das wir vor vielen Jahren hier einmal gemeinsam lasen. Auch dort gab es viele schauerliche Verwicklungen, Mord und Totschlag. Allerdings klärte sich da alles auf der Ebene der Vernunft, was hier ja nicht zu erwarten steht. Ich mach jetzt mal eine kleine Lesepause, damit ihr aufschließen könnt.


    Zefira, der Stil macht mir gar keine Schwierigkeiten. Was für Sätze meinst du denn? Ich habe nur nicht alles Niederländische verstanden, aber das meiste.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ein Beispielsatz im ersten Kapitel, als Hauberrisser gerade in den Laden eingetreten ist - ich will den Satz nicht komplett abtippen, er beginnt mit "In einem Lehnstuhl in der Ecke" und beschreibt zunächst den Zitter Arpad. Meyrink beginnt mit der Beschreibung einer Kleinigkeit, dem "arabeskenverzierten Lackschuh", der "über den Schenkel gelegt ist". Dann geht er Blick hinauf zu dem Besitzer des Schuhs, einem "Balkangesicht". Wir erfahren, wie er aussieht samt dem "fettglänzenden Scheitel" und was er tut, nämlich Zeitung lesen und dabei einen Blick auf Hauberrisser werfen. Und dann geht der Blick zu dem Verschlag daneben, der nun wiederum im Raum verortet werden muss, ein "Verschlag, der den Raum für die Kunden von dem Innern des Geschäfts trennte", und da wird etwas "prasselnd herabgelassen" - was denn? - ach so, es kam ja zwei Zeilen vorher, es geht um ein Fenster in dem Verschlag, in dem schließlich eine Dame erscheint, deren Augen und Haare auch noch beschrieben werden, und das alles in einem einzigen Satz! Wenn ich den zu Ende gelesen habe, muss ich noch mal von vorn anfangen, um mir überhaupt klar zu werden, wo in diesem Raum der Verschlag ist und wo die Leute sich befinden. Derlei Kunststücke sind für Meyrink typisch, im "Golem" ist es oft dasselbe.


    Ich mag das Stilmittel des "pars pro toto" sehr, bei dem eine Person anhand einer einzigen sprechenden Einzelheit charakterisiert wird; Flaubert ist zum Beispiel darin Meister. Dass Meyrink mit dem Lackschuh anfängt, weist in diese Richtung, aber er bringt es offenbar nicht über sich, den Rest der Phantasie des Lesers zu überlassen, sondern häuft weitere Einzelheiten darauf wie den fettglänzenden Scheitel und den messerscharfen Blick und vermischt obendrein diese Einzelheiten mit Angaben über die Topographie des Raums. Um es an einem Bild zu erklären, auf mich wirkt das wie eine Wegbeschreibung "beim roten Rhododendronstrauch links (Achtung vor dem Hund!) und dann am Hanauer Kreuz die Ausfahrt nehmen", es wird klein und groß unterschiedslos miteinander vermischt. Aber das soll keine Kritik sein. Es macht das Lesen für mich etwas mühsam, aber es hat einen eigenen Reiz.


    ps. Ich bin im vierten Kapitel und habe gerade dort unterbrochen, wo Baron Pfeill seine Jugenderinnerung zuende berichtet hat - wie er "die Schwaben" ausgerottet hat (gemeint sind wohl die Mücken oder Schnaken). Heute nachmittag geht es weiter.


    Edit, abends: Ich habe die ersten sechs Kapitel durch.

  • Ich hinke hinterher, das schöne Wetter hat mich die letzten Tage ausgeprägt zur dringend nötigen Gartenarbeit verleitet, was aber dazu führte daß ich abends über dem Buch recht schnell eingeschlafen bin und noch nicht so weit bin, grad erst am Ende der 3. Kapitels. Ihr müßt aber nicht unbedingt auf mich warten, ich versuch die nächsten Tage auch tagsüber mal zu lesen und aufzuholen. Die Schachtelsätze find ich eigentlich gar nicht so schlimm, aber man sollte dazu tatsächlich nicht zu müde sein, sonst verliert man manchmal schon im Laufe eines Satzes schon den Faden :cool:

    Hauberrisser wirkt sehr ermüdet vom Leben, gleichzeitig zeigt er sich als durchaus amüsanter, teilweise gelangweilter, teilweise auch bissiger Beobachter des gesellschaftlichen Treibens um ihn herum, wenn er auch mit seinem Urteil sehr schnell bei der Hand ist. Das Zeitgeschehen spielt fließt eher nebenbei, über die Gespräche, in die Handlung mit ein, wird dadurch aber für mich umso anschaulicher.


    Allerdings stößt mir bei Meyrink - wie schon im "Golem" - die latent rassistische und chauvinistische Schreibe auf, so wie er von den Afrikanern, aber auch den Juden, also seinen eigenen Leuten - er war der Sohn der jüdischen Hofschauspielerin Maria Meyer, ein sogenannter "Kryptojude", der sein Judentum verleugnete - spricht und wie er Frauen entweder als raffinierte Verführerinnen oder Wohltätigkeitsschrapnells darstellt. Aber vielleicht wird das Letztere ja noch etwas differenzierter.

    Vom "Golem" kann ich mich nicht daran erinnern, aber hier ist mir das beim Lesen auch schon aufgefallen. Interessant und differenzierer fand ich ich dann das Gespräch mit seinem Freund/Bekannten über Religionen, Talmud und Talmi.

    "Lesen stärkt die Seele" (Voltaire)

  • Es gibt, was die leidigen Themen Rassismus und Chauvinismus angeht, im weiteren Verlauf noch ein paar recht krasse Stellen - speziell was Usibepu angeht, scheint Meyrink Anleihen beim Monostatos der "Zauberflöte" gemacht zu haben ...

    Im dramatischen fünften Kapitel sind mit die Begriffe Souquiant und Zombi aufgefallen, die mich an die haitianische Voodoo-Kultur erinnert haben, aber diese Kultur - ich habe sicherheitshalber bei Wiki nachgesehen - schreibt sich offenbar tatsächlich ursprünglich aus Westafrika her, es ist also keine reine Phantasie, dass ein Zulu mit solchen Begriffen hantiert.

    Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob der Begriff Souquiant unabhängig von Meyrink existiert. Ich habe ihn noch in einem Abenteuerroman erwähnt gefunden, im gleichen Sinn wie Meyrink ihn gebraucht, aber dort könnte er auch epigonisch stehen. Das gleiche gilt für die Schlange Vidu T'changa.


    Mir sind einige interessante Parallelen zum "Golem" aufgefallen, aber dazu besser später, wenn wir etwa Gleichstand erreicht haben.

  • Was du über den speziellen Satz schreibst, Zefira, ist sehr schön analysiert. Das kann er, der Meyrink, überhaupt auch Atmosphäre herstellen. Die Stelle mit Usibepu im 6. Kapitel, die du vielleicht meinst, finde ich auch ausgesprochen heftig. Ich will jetzt nicht direkt darüber schreiben, weil du Firiath, ja dieses sehr spannende Kapitel noch lesen wirst. Aber es geht sowohl um die Bewegungsform als auch um die Gier, die hier dem "Zulu" unterstellt wird, obwohl vorher irgendwo steht, dass Usibepu beim Zirkus sehr gut verdient.

    Da ich gestern und heute Morgen ein sehr interessantes Sachbuch zu Ende gelesen habe, bin ich heute nur ein Kapitel weitergekommen. Es wird immer undurchsichtiger mit Chidher Grün, Realität und Einbildung verschwimmen bei Hauberrisser. Das wirkt alles ein bisschen künstlich, bin gespannt, wie und ob das aufgelöst wird.
    Firiath, ich bin mir gerade am Anfang nicht immer sicher, ob diese gesellschaftskritischen Stellen aus der Er-Erzähler-Perspektive Hauberrissers gesehen sind oder es sich eher um einen Erzählerkommentar handelt. Aber so genau habe ich auch nicht gelesen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    2 Mal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • So ich hab gestern auch noch das 6. Kaptiel beendet und mit dem 7. angefangen. Dieses "Geisteswesen"-Treffen in der Wohnung und das ganze Mystizismus-Gebausche fand ich ehrlichgesagt ziemlich mühsam zu lesen - mir kam das vor wie ein kollektiver Drogenrausch. Es gibt immer wieder tiefe, interessante Gedanken dazwischen, aber man muß schon konzentriert lesen, das einem diese noch auffallen. Im Grunde suchen sie alle Sinn und Hoffnung in einer verzweifelten Zeit, aber das auf eine doch recht eigenwillige Art.

    Wie Usibepu dargstellt wurde, was ihm vom Autor aufgezwungen wurde zu tun, ist sehr unschön und für uns schwer in der heutigen Zeit schwer hinzunehmen, es ist auch völlig unnnötig. Mir kam es auch konstruiert vor, eigentlich passte es nicht zu dem "Medizinmann" der zuvor skizziert wurde.


    Hauberisser hat inzwischen versucht Chider Grün aus dem Vexiersalon wiederzufinden und ja Realität und Einbildung verschwimmen bei ihm, aber wie mir scheint auch bei vielen anderen.


    Am "bodenständigsten" scheint mir bisher noch Pfeill zu sein, seiner Erzählung zu seinen Jugenderlebnissen mit dem Schmetterlingssammler fand ich einerseits amüsant, andereseits hatte ich auch da Mühe mit den ständigen Übertreibungen und Ausschmückungen usw. - wobei ich lachen mußte über den Vorschlag seiner Mutter einfach die Steine zu behalten, die Kräten sähe man ja sowieso nie.

    "Lesen stärkt die Seele" (Voltaire)

  • Zitat

    Dieses "Geisteswesen"-Treffen in der Wohnung und das ganze Mystizismus-Gebausche

    Es ist ganz typisch für Meyrink, wie hier das Erhabene und das Lächerliche dicht nebeneinander liegen, einander sogar überlagern. Dieses Moment findet sich auch in seiner kurzen Prosa (der Sammlung "Des deutschen Spießers Wunderhorn") ganz oft. Gestern bin ich beim Surfen auf eine Seite mt der Bezeichnung "Spirituelle Reisen" gestoßen, die u.a. über "Gustav Meyrinks Einweihungsweg" berichtet. Meyrink scheint es ja mit seinem mystizistischen Werdegang durchaus ernst gemeint zu haben, aber wenn man in seinem Werk (soweit ich es gelesen habe - mir fehlt noch einiges) mengenmäßig gegenüber stellt, wie oft er über den Mystizismus ernsthaft berichtet und wie oft er ihn ins Komische zieht, überwiegt der letztere Aspekt m.E. bei weitem.
    Ich finde es auch etwas merkwürdig, wie er Elemente der Kabbala, des Buddhismus und obendrein auch noch des Voodoo (das Zombi-Motiv) zusammenrührt, wobei ich wie schon bemerkt nicht sicher bin, ob nicht die westafrikanischen Zutaten völlig seiner Phantasie entspringen.

  • Das neunte Kapitel habe ich jetzt erreicht, aber ich war mehrfach stark versucht, das Buch auf Nimmerwiedersehen über die Balkonbrüstung zu werfen. Was für ein extrem dick aufgetragener Chauvinismus und Rassismus!


    Die Selbstdemütigungen aufgrund ihres Geschlechtes, mit denen Eva (sic!) sich kasteit, sind kaum erträglich und dann noch diese Szene, wo Usibepu sie "magisch" ruft, um dann mit ihr wie King Kong und die weiße Frau über den Kirchhof und nachher ohne sie über die Dächer zu fliehen, das hätte im 20. Jahrhundert eigentlich nicht mehr vorkommen dürfen. Ich weiß, da gab es noch genug Kolonialismus, und der Nationalsozialismus stand zu dem Zeitpunkt noch bevor, aber von einem gebildeten und in ebensolchen Kreisen verkehrenden, kritisch eingestellten, zumindest Halbintellektuellen hätte ich eine zumindest differenziertere Darstellung erwartet.

    Ob seine beiden Ehefrauen sich auch dessen bewusst waren, wie weit sie als Frauen unter der eigentlichen Menschwerdung stehen, aber immerhin schon das Tierhafte des Afrikaners, dem sie ja aber auch hörig sind, weil sie ihre Triebe nicht unter Kontrolle haben, überwunden haben?

    Was für einen Pinn haben eigentlich solche Menschen, die derart auf andere herabblicken, im Kopf? Unsere Welt bietet - und bot Menschen in der privilegierten Stellung Meyrinks - auch schon damals so viele Möglichkeiten, ein normales, in sich ruhendes Selbstbewusstsein auszubilden, da muss man doch nicht anderen Menschengruppen Intelligenz und allgemein das echte Menschsein absprechen, um sich besser zu fühlen!

    Gegen diese massiven Verstöße gegen Humanität fällt die mythische Verschwurbeltheit mir schon kaum mehr auf, aber das mit den Seelengefährten ist schon weit hergeholt und auch diese etwas platonisch anmutende Theorie Sephardis, die Menschen hätten nicht selbst Ideen und Einfälle, sondern würden alle in einem bestimmten Stadium plötzlich sich der gleichen Grundideen erinnern, ist ein ziemlich abgeschmackter Mix aus philosophischen und mythischen Elementen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich habe das Buch durch. Es ging mir genauso wie Dir, finsbury .

    Und kurz vor Schluss - im dreizehnten Kapitel - gab es noch einmal in einem Dialog eine Stelle, an der ich dachte: wenn man das gesamte Personal dieses Romans in einen Sack steckt und auf den Sack haut, trifft es immer den Richtigen!

    Im vierzehnten Kapitel - ich glaube, auch Tucholsky hat das in seiner Rezension erwähnt - kommt aber nochmal eine hinreißende Schilderung, für die sich das Weiterlesen auf alle Fälle lohnt, und dann sind wir ja auch schon beinahe fertig. :D

  • In den auf das überaus ärgerliche achte Kapitel folgenden drei wird es wieder ruhiger, dafür umso verschwurbelter mit Höhepunkt bisher im elften, wo sich Hauberrisser nach erfolgloser hektischer Suche nach Eva auf die gefundene Schriftrolle zu konzentrieren beginnt, die die Äußerungen Pfeills, Sephardis, Eidotters und insbesondere Swammerdams aufnehmen und in ein Gesamtkonzept der geistigen Entwicklung zum wachen und sehenden Menschen überführt. Grundsätzlich ist da ja ein durchaus richtiger Gedanke dahinter, den ich gut nachvollziehen kann, nämlich, dass man alles durchdenken soll und nicht attraktiven Denkansätzen oder mystischen Konzepten aufsitzen soll, sondern immer weiter nachforscht. Aber diese ewige Seele, die es wiederzuentdecken gilt, das Konzept der Seelenwanderung überhaupt, das Gegeneinander von Geist und Körper, das sind Denkmodelle, mit denen ich nichts anfangen kann.
    Wie ich gerade bemerkt habe, beginnt das zwölfte Kapitel mit einem größeren Zeitsprung, da erhoffe ich mir doch wieder ein bisschen mehr Handlung. Und bin natürlich gespannt auf den von dir angedeuteten Höhepunkt im vierzehnten Kapitel, Zefira.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ein Handlungshöhepunkt ist es nicht - damit wir uns nicht falsch verstehen -, es ist nur eine Stelle, an der sich Meyrink wieder mal als guter Beobachter erweist, der seine Mittel kennt, Stimmung und Atmosphäre zu erzeugen. Was das Inhaltliche betrifft, werden wir Leser/innen nicht mehr getröstet.

  • In einer Nacht- und Nebelaktion habe ich den Roman nun auch hinter mir gelassen. Zefira, du und Tucholsky haben Recht. Diese beiden Kapitel, 2 und 14, sind die mit Abstand besten und eigentlich fast ausschließlich lesenswerten dieses Werks. Kapitel 14 ist ganz im Stil des barocken und vom Expressionismus wieder aufgenommenen Totentanz gestaltet, eine tolle apokalyptische Vision. Dafür hat sich der Kampf dann doch noch gelohnt.
    Der letzte Auftritt Usibepus war dagegen wieder zum Fremdschämen für den Autor und außerdem so unlogisch: Einerseits der triebgesteuerte Naturmensch, der möglichst viele Frauen "verkonsumiert", dann aber dennoch der Bote einer heilsbringenden Macht, die er natürlich am wenigsten geistig durchdringen kann, gleich gefolgt von dem chassidischen Juden Eidotter, der ja auch von einem Menschenschlag mit verschlagenem Gesichtsausdruck (irgendwo in dem Kapitel, als Sephardi Eidotter im Polizeigewahrsam besucht) abstammt. Mir hat sich auch nicht erhellt, welche höhere geistige Qualität das Erwachen Hauberrissers haben sollte, im Gegenteil: Wenn Eidotter die umgestellten Lichter als Gnade nach der Ermordung seiner Familie gewährt bekommt, erhält Hauberrisser sie, nachdem Eva gestorben ist, und zwar durch seinen Herbei-Ruf, von dem er ganz genau wusste, welche Folgen dieser haben würde. Das alles natürlich immer nur nach der "Logik" des Buches gesprochen.

    Über das verquaste Ende wollen wir dann mal hinwegsehen, sogar noch ein Geisterkind ist dazugekommen :trinken:. Was der Autor da wohl genommen hatte … .

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Zitat

    Wenn Eidotter die umgestellten Lichter als Gnade nach der Ermordung seiner Familie gewährt bekommt, erhält Hauberrisser sie, nachdem Eva gestorben ist, und zwar durch seinen Herbei-Ruf, von dem er ganz genau wusste, welche Folgen dieser haben würde.

    Das ist nicht ganz korrekt. Das Umstellen der Leuchter für Eidotter geschieht nicht nach dem Tod seiner Familie, sondern schon vorher, sogar - wenn ich es richtig verstanden habe - in Gegenwart seiner Frau Berurje, die zu diesem Zeitpunkt also noch gelebt hat. Allerdings hat sein Geistes- bzw. Seelenzustand nach dem Umstellen der Leuchter dazu geführt, dass bei ihm, wie er es formuliert, Denken und Fühlen vertauscht wurden - das heißt, er konnte nicht weiterstudieren, aber auch nicht um seine Familie trauern, was sein Glück war, sonst wäre er vor Trauer verrückt geworden. Ich fand Eidotters Erzählung eigentlich sehr bewegend. Dass er und Hauberrisser die gleiche "Erleuchtung" hatten, kann ich aber kaum annehmen; sie scheint sich bei diesen beiden doch sehr unterschiedlich auszuwirken. Während Hauberrisser zu einer Art höherer Erkenntnis gelangt, ist aus Eidotter eher eine Art Gottesnarr geworden, der den Mord an Klinkherbogk auf sich nimmt, weil er aus dem Gedanken eines "Universalbewusstseins" heraus meint, er sei mit daran schuld.

    Kann mir jemand vielleicht noch sagen, an welcher Stelle des Textes für Hauberrisser die Leuchter umgestellt werden? Ich meine mich zu erinnern, dass es eine solche Szene gab, finde sie aber nicht mehr.


    ps. Nachdem ich Deinen letzten Eintrag eben noch einmal gelesen habe, finsbury , verstehe ich jetzt, was Du mit "Unlogik" meinst.
    Eidotter bleibt die Trauer um seine Familie erspart, weil er zu einer höheren Bewusstseinsstufe gelangt ist. Während Hauberrisser zu einer höheren Bewusstseinsstufe gelangen will, gerade um sich die Trauer zu ersparen - um seiner Geliebten wiederbegegnen zu können. Er scheint aus sich heraus kein besonderes Streben nach Transzendenz zu haben, er will nur Eva zurück. So richtig logisch ist das nicht.


    Interessant fand ich, um das noch anzufügen, das Motiv des verschlossenen Raums. Dieses Motiv findet sich ja auch im Golem, es nimmt dort eine zentrale Position ein. Ich habe online eine Interpretation des Golem gelesen, in der es hieß, dieses Zimmer symbolisiere das eigene Unterbewusstsein - es hat zwei Fenster, durch die man hinausblicken kann; will man aber von außen hineinblicken, "reißt der Strick". Ich kann mich erinnern, dass ich als Sechzehnjährige von diesem Bild hell begeistert war (zumal ich mich damals auch sehr für Tarotkarten interessierte und etliche Bücher zu dem Thema durchstudierte).

    Im "Grünen Gesicht" scheint das verschlossene Zimmer aber keine symbolische Bedeutung zu haben, oder ich erkenne sie nicht. Es handelt sich einfach um eine Ausformung des bei Detektivgeschichten-Autoren beliebten "locked room-mystery", oder habe ich etwas übersehen?


    Als ich im letzten Jahr den Golem noch einmal gelesen habe, hat mich vieles daran geärgert; aber unterm Strich ist es, verglichen mit dem "Grünen Gesicht", m.M.n. der bessere Roman.

  • Zefira, danke für die Richtigstellung bezüglich der Leuchterumstellung bei Eidotter, was aber nichts an der Unlogik ändert, wie du ja oben später auch nachvollzogen hast.

    Die Lichterumstellung bei Hauberrisser findet in meiner dtv-Taschenbuchausgabe auf S. 248 unten statt und zwar während des Gesprächs mit Chidher Grün im 12. Kapitel, nachdem Eva verblichen ist und Hauberrisser ihr nach will.


    "Er (Chidher Grün) griff nach den beiden Lichtern und stellte sie um: das linke nach rechts und das rechte nach links, und Hauberrisser fühlte sein Herz nicht mehr schlagen, als sei es plötzlich aus der Brust verschwunden."


    Bezüglich des geschlossenen Raums, du meinst sicher den Tod Klinkherbogks, denke ich auch eher an eine detektivische Konstruktion, aber es interessant, dass ja einer von außen hereinsehen konnte und der Strick nicht riss, nämlich Eidotter. Außerdem setzt Meyrink dieses Setting kriminalistisch ja gar nicht in Wert.


    Den "Golem" habe ich 2002 gelesen und kann mich daher kaum mehr daran erinnern, nur eben dass ich mich über einige rassistische Klischees geärgert habe und das Ganze insgesamt ziemlich verquast fand, aber mit einigen tollen Szenerien in Prag. In dem Jahr war ich - glaube ich - auch in Prag, daher wohl der Griff zu diesem Roman.

    Allerdings muss ich insgesamt sagen, dass es mir schwerfällt, mystisch oder stark religiös orientierte Werke zu würdigen, da mir dafür einfach der Sinn und die Weltanschauung fehlt.


    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)