Otfried Höffe: Die hohe Kunst des Alterns

  • In letzter Zeit gibt es in meiner unmittelbaren Umgebung Lebensereignisse, die tief eingreifen, mich sehr in Anspruch nehmen und zur Konzentration veranlassen. Daher kann ich an den meisten Diskussionen, die hier im Forum laufen, nicht teilnehmen.


    Doch ein Buch lenkt mich gar nicht von diesen Umständen ab, sondern führt auf eine mich angenehm berührende Weise an sie heran:


    Otfried Höffe. Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens. C. H. Beck Verlag. München 2018. 217 Seiten.


    Ich werde bald mehr dazu schreiben. Und vielleicht kommen wir über dieses Buch wieder ins Gespräch.


    Es gab bereits mehrere Rundfunkinterviews mit dem Autor Otfried Höffe, einem der herausragenden deutschen Philosophen der Gegenwart, der über Aristoteles und Kant geschrieben hat.

    Doch an die Philosophie wird auch der Anspruch herangetragen, nicht nur Klassiker zu interpretieren, sondern auch Hilfe für das Nachdenken über die Lebensgestaltung anzubieten.

    Zu DDR-Zeiten gab es zum Beispiel nur eine Lehrstuhlinhaberin, die die Kombination Philosophie und Medizin vertrat und auch dadurch zu überzeugen suchte, dass sie drei Kinder aufzog. Dabei war der Bedarf an Information über die Grenzbereiche des menschlichen Lebens und Sterbens gerade in einer vorwiegend nichtreligiösen Gesellschaft riesig (biologische Einflüsse auf die individuelle Entwicklung, Schwangerschaftsabbruch, geistige und körperliche Behinderung, würdevolles Altern, selbstbestimmtes Sterben).

    Doch waren das Tabuthemen, weil ja der durch die sozialistische Erziehung zu formende, immer im Kollektiv ohne ausgeprägten Anspruch auf Individualität lebende Mensch vor 1989 nach dem Willen der Partei gar nicht über solche Themen nachzudenken hatte. Einen Teil des Diskussionsbedarfs fing angesichts des Mangels einer relativ unabhängigen literarischen Öffentlichkeit die schöne Literatur auf (Christa Wolf, Brigitte Reimann, Maxi Wander), doch waren die Autorinnen oft selbst ratlos, traumatisiert oder unsicher, um wirksame Lebenshilfe vermitteln zu können.


    Geistreiche Plaudereien in den Medien sind vielleicht einmal unterhaltend, aber beim Altern, mit dem gemeinhin die Themen Krankheit und Tod verbunden werden, geht es um eine sehr viele Menschen ernsthaft berührende Problematik. Otfried Höffe führt in einer Auswahl das an, was Denker seit der Antike darüber gesagt haben, die Ergebnisse der modernen Medizin und der Alternsforschung werden herangezogen.

    Im Grunde war ich schon sehr früh, seit der Kindheit, mit dieser Problematik in der Lebensumgebung konfrontiert und habe eine große Menge an Literatur konsumiert, die allerdings oft Ratlosigkeit hinterließ.


    Zur Einführung vielleicht die folgende Rezension:


    http://www.informationsmittel-…n.de/showfile.php?id=9541


    Ich möchte mir mit Euch einmal ansehen, wie Otfried Höffe über das Altern nachdenkt.

  • Ein sehr interessantes Thema! Auf Deine Eindrücke bin ich gespannt.


    Mir hat man zum 50. ein Buch von Wilhelm Schmid zum Thema geschenkt:

    https://www.suhrkamp.de/bueche…wilhelm_schmid_17600.html


    Das war natürlich gewissermaßen ein Wink mit dem Zaunpfahl, zugleich aber wirklich nett gemeint. Wilhelm Schmid ist ja mittlerweile ein bisschen sowas wie ein Briefkastenonkel der gebildeten Stände, nett verpackte Lebensratschläge ohne allzu große Herausforderungen. Die Lektüre war dann auch ganz nett, aber viel mehr dann doch nicht.


    Etwas mit mehr Substanz wäre wirklich gefragt.

    Wobei sich mir auch die Frage stellt, worüber wir reden, wenn wir über 'Altern' reden. Während in früheren Jahrhunderten die Lebenserwartung deutlich geringer war und das, was wir rein physisch als 'Alter' bezeichnen würden, weitaus früher einsetzte, haben wir heute Siebzigjährige, die noch richtig fit sind. Natürlich gibt es Unterschiede, aber in meinen Augen beginnt das, was ich wirklich als 'alt' bezeichnen würde, bei den meisten Menschen heute erst mit ca. 80 Lebensjahren. Vorher sind die Menschen häufig noch sehr aktiv und auch geistig und körperlich recht mobil.

    Zugleich und in einem scheinbaren Widerspruch dazu steht, dass Wirtschaft und Arbeitsmarkt Menschen ab etwa 50 Jahren schon als unvermittelbar behandeln und als zu entsorgende Altlasten oder im günstigeren Fall als 'Auslaufmodelle'. Und das, obwohl von überall her der Fachkräftemangel beklagt wird. Man möchte sich an den Kopf fassen.


    Also: ich bin gespannt auf Anregungen!

  • @JH Newman

    Otfried Höffe beginnt sein Buch mit Überlegungen, die Du ebenfalls anstellst.


    Alter und Altern hätten in der Öffentlichkeit bisher kaum die nötige Aufmerksamkeit gefunden. Durch den „demographischen Wandel“ würden aber diese Themen verstärkt beachtet. „Die Philosophie meldet sich aber immer noch kaum zu Wort“ (S. 11).


    Die Leitfrage Höffes lautet: Gibt es eine „Kunst“ des Alterns ? Dabei ist unter „Kunst“ nicht künstlerisches Schaffen zu verstehen, sondern das „Können“, die Fähigkeit der konstruktiven Lebensbewältigung.


    Höffe wendet sich vehement gegen die Übermacht der Ökonomie, die den alternden Menschen nur zum Gegenstand finanzieller Geschäfte degradiert. Das anglophone Gequatsche des Managements mache sich auch auf diesem Gebiet überaus lästig bemerkbar, die Management-Sprache und BWL-Mentalität bringe solche Wortungetüme hervor, wie den „Effizienzpakt“ (beschönigend für Einsparungen) und gewissermaßen als Krönung das „sozialverträgliche Frühableben“. Einer der ersten literarisch-belletristischen Ausflüge Otfried Höffes bezieht sich auf Gogols „Die Nase“, in der ein Arzt beteuert, er habe keine finanziellen Interessen. So etwas könnten aber heute nur reiche Erben oder Geldspekulanten von sich sagen, auch Ärzte sind natürlich auf angemessene finanzielle Zuwendungen angewiesen.


    Höffe geht auf drei philosophische Altersdiskurse ein: 1. Die Ethik des glücklich-gelungenen Lebens, wie sie etwa in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt wurde, 2.) die Ethik der moralischen Anforderungen, die Ethik des „kollektiven Wohls“, wie sie etwa bei John Stuart Mill und im britischen Utilitarismus zum Ausdruck kam, sowie 3.) die Moralkritik, wie sie radikal von Friedrich Nietzsche geäußert wurde. Der erste beträfe die „eudaimonistische Altersethik“ als Lebenskunst, die deontologische Altersethik frage als zweites danach, wie alte Menschen behandelt werden sollten, die Kritik beträfe negative Altersbilder.


    Philosophie und Medizin sollten im Sinne des „Arist-o-crates“ kooperieren: des „Aristo-teles“ sowie des „Crates“ = Hippokrates (S. 22). Gar nicht selten gäbe es eine Personalunion, eine Doppelbegabung als Arzt und als Philosoph zugleich, wie bei dem legendenumwobenen Empedokles in der Antike.

    Besonders im islamischen Bereich des Mittelalters sei häufig die Einheit von Körper und Geist betont worden, so von Ibn Sina (Avicenna) 1027, dem Leibarzt Ab Bahr Ibn Tufail und Ibn Ruschd (Averroes). Marsilius von Padua, der Autor eines Friedensvorschlages im 14. Jahrhundert, Paracelus, der sogar behauptete, seine Patienten zu lieben, und John Locke waren Ärzte und Philosophen zugleich (bei letzterem hatte ich zuerst die Pädagogik und Erkenntnistheorie im Auge, nicht sogleich seine Tätigkeit als Arzt).


    Gerade Avicenna und Averroes, möchte ich hinzufügen, wurden von dem aus Glauchau stammenden späteren Chemnitzer Bürgermeister, dem Arzt und Begründer dreier Geowissenschaften (Geologie, Mineralogie, Hüttenkunde) Georg Agricola (1494-1555) intensiv studiert, der sich dem Menschen wie dem einträglichen Bergbau seiner sächsischen Heimat gleichermaßen zuwandte und überaus ausgeglichen schrieb.

    Die Ärzte hätten sich von drei Maximen leiten zu lassen: dem Patientenwohl und der Schadensminimierung (wie sie im Eid des Hippokrates festgehalten sind), dann aber auch in neuester Zeit der Selbstbestimmung des Patienten.


    Diese Formulierung Höffes hat mich gerade in meiner jetzigen Situation berührt:


    ... Dazu zählt keine diagnostische und therapeutische Allwissenheit, wohl aber die Pflicht zur ständigen Fortbildung. Der Arzt muss nicht, wie Paracelsus behauptet, um den Patienten heilen zu können, ihn lieben. Unverzichtbar sind aber Verständnis und Einfühlungsvermögen, Gesprächsbereitschaft und Geduld, die Fähigkeit, zuzuhören und Mut zu machen, sowie die Bereitschaft, menschlich-seelische Probleme nicht bloß zu ‚somatisieren‘. Angst und Hoffnungslosigkeit verdienen mehr, als zu einer Depression etikettiert zu werden, die mit Psychopharmaka schon optimal behandelt werde.“ (S. 26)


    Es tut jetzt gut, so etwas zu lesen.

  • Kleiner Beitrag zum Thema "vernünftig altern". Folgendes Gedicht von Goethe habe ich in einer Beethoven-Biographie gelesen, der Titel steht leider nicht dabei - vielleicht kennt ihn jemand?


    "Ein alter Mann ist stets ein König Lear,

    Was Hand in Hand mitwirkte, stritt,

    Ist längst vorbeigegangen;

    Was mit und an dir liebte, litt,

    Hat sich woanders angehangen,

    Die Jugend ist um ihretwillen hier;

    Es wäre töricht, zu verlangen:
    Komm, ältele mit mir."


    Es ist übrigens das erste und einzige Mal, dass ich das Wort "ältele" gelesen habe. Kann es sein, dass Goethe dieses Wort erfunden hat?
    (Das Gedicht dürfte übrigens auch auf Frauen zutreffen.)

  • vielleicht kennt ihn jemand?

    ich kenn ihn nicht, aber ich hab die Digitale Bibliothek ;-): Das ist ein titelloses Gedicht der Zahmen Xenien, ziemlich am Anfang.


    Nachtrag: Auf der ganzen DVD gibt es übrigens zu "ältele" genau 1 Treffer. Erfunden hat Goethe das Wort wohl nicht, aber das Grimmsche Wörterbuch hat als Nachweis nur ein Zitat von Hagedorn und eben dieses Gedicht.

  • ... und da steht auch noch als Beispiel: "das ältelet mich an" und das Zitat nach Hagedorn "wenn ich ihm (dem leser) nur nicht ältle". Demnach wäre "älteln" jedenfalls etwas, was den Mitmenschen auf die Nerven geht.

    Man sollte nicht älteln, egal wie alt man ist.

    Danke, Giesbert, für den Hinweis!

  • Ich habe auch die weiteren Bemerkungen darunter noch gar nicht gelesen und mich in den Seume-Thread veriirrt - mache mal sicher eine Pause, ich kann jetzt sowieso keine Ruhe finden.



    Hallo Zefira ,

    als sich Goethe mit Schiller zusammentat, um in den "Xenien" zahlreiche seiner Zeitgenossen zu verspotten, war er noch nicht fünfzig Jahre, Schiller noch nicht vierzig Jahre alt. Sicher fühlten sich etliche dieser Schriftsteller ungerecht behandelt. Goethe und Schiller nahmen vor allem diejenigen Literaten aufs Korn, die ihrer Ansicht nach zu leichte Kost boten, also Aufklärungsschriftsteller, die leicht eingängige Antworten zu bieten schienen, wie zum Beispiel Friedrich Nicolai in Berlin.

    Das von Dir zitierte Gedicht findet sich in einem Alterswerk, den "Zahmen Xenien", die 1827 in einer Gedichtausgabe "Letzter Hand" erschienen. Da war Goethe 78 Jahre alt. König Lear war ein Narr, wenn er von seinen Kindern bedingungslose Liebe verlangte. Hat sich aber nicht auch Goethe wie ein Narr verhalten, als er 1823 um die Hand der 16jährigen Ulrike von Levetzow anhielt?

    In diesem Gedicht geht es fast knittelvers-mäßig zu, wie in Goethes Jugendwerk, wenn ich weiter unten die "tiefe" Zeile wiederfand, die mir tatsächlich immer wieder einfiel und ich nicht mehr wusste, woher ich sie kannte:

    "Manches können wir nicht verstehen, lebt nur so fort, es wird schon gehn".


    Damals als "aggressiv" empfundene Xenien, im Alter "Zahme Xenien":


    wer literarisch an die Öffentlichkeit trat, musste auch Spott einstecken können, wenn das auch damals die wenigsten konnten.

    Wie sehr stechen aber diese heute relativ harmlos anmutenden Auseinandersetzungen



    - das Phänomen der "Lohnschreiberei" hatte ja einen ziemlich ernsten Hintergrund, die wenigsten konnten sich als "freie Schriftsteller" auf dem literarischen Markt behaupten, sieh die Diskussionen hier im Forum über Johann Gottfried Seume und seine Wanderstiefel - und selbst bei den Weimarer Dioskuren machte es einen Unterschied, ob man 4000 Taler Einkünfte hatte oder 200 und so ein adeliges Frählein heimführen wollte -


    stechen diese Sticheleien ab von dem heutigen Hass, der Forderung nach eindeutiger Parteinahme in einer komplexen Welt mit schwer verständlichen Zusammenhängen, die vielfältige Antworten zulässt, aber man muss sich in bestimmten Medien unter "links" oder "rechts", "grün" oder "Nazi" eingeordnet sehen,


    nein, also flüchtet man im Alter, wenn man noch kann, in Zeiten, in denen es einen derartigen Hass noch nicht gab.


    Oder doch schon? Viel von diesem vernichtenden Haß, der auch die literarische Welt erfasste, brachte die Französische Revolution mit sich. 1793 wurde Caroline Böhmer, die mit dem Mainzer Revolutionär Georg Forster verheiratet war, zusammen mit anderen Frauen lediglich ihrer vermuteten Gesinnung wegen auf einer Festung eingesperrt, der junge August Wilhelm von Schlegel versuchte sie dort herauszuholen. Goethe hat beschrieben, wie der Mob einen Mainzer Revolutionär schlug und mißhandelte, bis der Weimarer Staatsmann selbst einschritt.


    Oder in Nantes lässt 1793 ein wildgewordener Revolutionär (Carrier) tausende unschuldige Opfer in den Fluss werfen, Stefan Zweig schildert, wie ein umgedrehter Oratorianerpriester (Fouche) zum "Mitrailleur von Lyon" wurde und Tausende wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht eiskalt erschießen ließ.


    Ich weiß, man könnte sagen, ein Linker in der Jugendzeit arbeitet sich im Alter, konservativ geworden, an den Revolutionslegenden der DDR-Zeit ab, in der ein Marat zum Volkshelden erhoben wurde, der sich in seinen Aufrufen als "Volksfreund" nicht mit 10000 zu Tötenden zufrieden gab, sondern lieber noch ein paar Nullen anhing.


    (Das ist jetzt die Goethezeit, 1793 schrieb er den "Reineke Fuchs")


    "Mein" Karamzin hatte einen einzigen Gegner (außer relativ harmlosen literarischen Neidern, mit denen er gar nicht erst die Klingen kreuzen wollte), einen feindlich Gesinnten, der ihn richtig übel politisch als "Jakobiner" und "Franzosenfreund" kurz vor dem Einfall Napoleons 1812 beim Zaren anschwärzte - Karamzin ließ sich später mit ihm an der Tafel nieder und sah, wie Fürst Pavel Golenischtschew-Kutuzow derart beschämt mächtig ins Schwitzen kam.



    1827 war Goethe, in der "Biedermeierzeit" vor der nächsten Revolution, altersmilde, er hörte schon in England die Lokomotiven keuchen und atmet hier noch den Geruch der Pflaume ein.


    Aber man lasse sich auch nicht gänzlich täuschen: er teilte auch noch aus und konnte sich das als gefeierter Schriftsteller leisten, vor dem sich die Kleists, Hölderlins und Heines wegducken mussten.


    Es geht bald weiter mit den nächsten Kapiteln Otfried Höffes, mein reales Leben hält, wie hier schon angedeutet, vieles bereit, das dem Alternden einige Bewegung abverlangt.

  • Danke für den Hinweis auf die "Zahmen Xenien". Ich habe gerade einen Blick hineingeworfen und folgendes gefunden:



    »Deine Zöglinge möchten dich fragen:

    Lange lebten wir gern auf Erden,

    Was willst du uns für Lehre sagen?«

    Keine Kunst ists, alt zu werden,

    Es ist Kunst, es zu ertragen.

    Das klingt für mich unglaublich aktuell, wenn ich mich in meiner näheren Umgebung umsehe. Es gibt viele Menschen, die unglaublich alt werden, weit über 80, meine Schwiegermutter ist 93. Aber die wenigsten behalten ihre gewohnte Handlungsfreiheit und Selbstständigkeit. Der Vater meiner Nachbarin erkennt sie schon seit zwei Jahren nicht mehr, obwohl er sonst rüstig ist und sogar mit ihr spazieren geht. Noch tragischer (sagt sie mir; sie ist jeden Tag im Altenheim zu Besuch) die vielen, vielen Menschen, die den ganzen Tag mit hängendem Kinn im Sessel hängen und nur zu den Mahlzeiten munter werden, zum Sterben aber immer noch zu gesund sind. Die Medizin hat es geschafft, den Todeszeitpunkt immer weiter zu verschieben (Balzac bezeichnet einen Fünfziger als Greis!); jetzt hoffe ich, sie schafft es auch, den Leerraum zwischen aktivem Leben und Todeszeitpunkt zu verkürzen. Sonst sterbe ich lieber früher ...