Edmond de Goncourt: Die Brüder Zemganno / Juliette Faustin

  • Die Brüder Zemganno



    Die Brüder Zemganno sind Zirkusartisten. Eigentlich Akrobaten, u.a. am Trapez; aber da sie ihre Kunststücke im Rahmen einer selbst erfundenen Spielszene zu zeigen pflegen, firmieren sie als "Clown-Akrobaten".

    In 86 kurzen Kapiteln (manchmal nicht mal eine Seite lang) wird ihr Berufsleben berichtet; von den Anfängen bei einem kleinen Wanderzirkus an über Engagements in England geht es weiter bis hin zu hoch bezahlten Auftritten in erstklassigen Etablissements in Paris. Nebenher erzählt der Autor natürlich auch Privates, aber das nimmt nicht viel Raum ein, weil die beiden nur für ihre Arbeit leben. Keiner von ihnen hat jemals eine "Frauengeschichte", sie trennen sich nie.


    Zu Beginn des Romans, bei dem winzigen und recht armseligen Wanderzirkus, wird der ältere, Gianni, als "Jüngling" bzw. "junger Mann" beschrieben; Nello wird noch gestillt. Der Altersunterschied müsste also mindestens zwölf Jahre betragen, vielleicht auch mehr. Gianni leitet den kleinen Bruder an, der schon als Kleinkind im Clownkostüm in der Manege steht. Bei ihren späteren gemeinsamen akrobatischen Nummern bleibt Gianni stets der Anführer und denkt sich die Gestaltung aus. Goncourt beschreibt die Entwicklung einer artistischen Nummer als intellektuelle Herausforderung, die nicht nur körperliche Übung, sondern auch viel Denkarbeit braucht.Gianni ist ehrgeizig, schaut sich jede Nummer anderer Akrobaten an, wann immer es möglich ist, liest sogar Bücher über die Theorie des Extremsports, z.B. Hochsprung.


    Edmond de Goncourt schrieb "Die Brüder Zemganno" allein nach dem Tod seines jüngeren Bruders Jules, mit dem er etliche Bücher gemeinsam verfasst hatte - "in enger Schaffensgemeinschaft" heißt es beim Projekt Gutenberg. Man merkt dem Buch auf jeder Seite die innige Verbundenheit und die Trauer an. Es ist ein sehr liebevoll geschriebenes, sehr lesenswertes Buch, das übrigens auch interessante Einblicke in die damalige Welt der Zirkusartisten bietet. Ich habe es mit viel Anteilnahme und Freude gelesen. Man kann es bei Gutenberg umsonst runterladen und in zwei Tagen lesen. Was ich hiermit empfehle.


    Juliette Faustin folgt demnächst, ich habe gerade damit angefangen.

  • Juliette Faustin



    "Ich möchte einen Roman machen, der (...) auf menschlichen Dokumenten beruht. Nun (...) finde ich, dass es den Büchern, die von Männern über Frauen geschrieben werden, an einer Sache mangelt ... an der Mitarbeit einer Frau, und mich würde es sehr nach dieser Mitarbeit verlangen, und zwar nicht nur von Seiten einer einzigen, sondern einer großen Anzahl von Frauen. (...) Und ich wende mich an meine Leserinnen aus allen Ländern mit der dringenden Bitte, in jenen leeren Stunden des Müßiggangs, in denen die Vergangenheit wieder erwacht, (...) einige der bei der Rückerinnerung auftauchenden Gedanken auf ein Stück Papier niederzuschreiben und es anonym an die Adresse meines Herausgebers zu schicken."

    Ich weiß nicht, ob Goncourt Antworten bekommen hat, und wenn ja, wieviel davon eingeflossen ist in seinen Roman aus der Perspektive einer "unbürgerlichen" Frau, einer Schauspielerin.


    An anderer Stelle innerhalb des Romans (Kap. 31) schreibt er:

    "Unter Frauen bürgerlicher Herkunft und Erziehung ist das Weib (...) sozusagen stets dasselbe Wesen, das Empfindungsvermögen der einen wie der andern scheint nach derselben Schablone gefertigt zu sein. Unter der Einwirkung äußerer Umstände hat die gut erzogene oder halbwegs gut erzogene Frau Abneigungen, Anwandlungen von Liebe oder Mitleid, sogar Nervenanfälle, die in einem für die ganze Klasse aufgestellten Erziehungsprogramm vorausgesehen und beschrieben zu sein scheinen." *)

    Juliette Faustin, als "Tragödin" erfolgreich und gefeiert, ist von einem solchen Verhaltenskodex frei. Sie folgt ihren eigenen Neigungen, lebt mit einem Mann zusammen, den sie spontan wieder verlässt, nimmt ihren Beruf äußerst ernst, tut aber ansonsten immer, was sie will. Bei der Wiederbegegnung mit einem Jugendgeliebten, dem Engländer Lord Annandale, krempelt sie ihr ganzes Leben um, sagt alle Theaterverträge ab und zieht sich mit ihrem Lord aufs Land zurück. Goncourt ist jedoch viel zu sehr Realist, als hier alles in eitel Sonnenschein enden zu lassen.



    Wie auch "Die Brüder Zemganno" ist "Juliette Faustin" eine hochinteressante Milieustudie; in einzelnen Zügen manchmal etwas befremdlich (wenn zum Beispiel Juliette von einem Landsitz am Bodensee aus an ihre Schwester schreibt, dass man in Deutschland alles wegschließen müsse, weil die Leute "so diebisch" seien). Mich hat es nicht ganz so gefesselt wie "Die Brüder Zemganno", vielleicht wegen der etwas distanzierteren Erzählweise; aber es ist ebenfalls ein lesenswertes Buch. Ich habe eine Übersetzung von Albert Klöckner und Curt Noch aus dem Schünemann-Verlag, die - verglichen mit der bei Gutenberg vorliegenden Übersetzung - ein bisschen umständlich und wortreich ist. Wobei ich natürlich nicht weiß, welche Übersetzung authentischer ist.

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    *) Ich kann mich erinnern, dass in "Pot-Bouille" von Emile Zola einige Abschnitte vorkamen, die genau diese gesellschaftskritischen Überlegungen zum Thema hatten, wenn auch nicht so allgemein, sondern in Form einer Szene: Sowohl die Liebesäußerungen der einen Frau als auch die hysterischen Anfälle einer anderen schienen einem vorgegebenen Muster zu folgen, das sich stets wiederholte, und in gleicher Weise wiederholten sich auch die Reaktionen der Familie bzw. der Ehemänner.