Charles Dickens: Bleak House

  • Ah, Dickens greift den Schatten in Bezug auf Ada & Richard wieder auf. Wir erinnern uns - in Kapitel 13 hieß es:


    Zitat

    So jung, so schön, so hoffnungsfreudig gingen sie leichten Schrittes dahin durch die Sonnenstreifen, wie ihre eignen glücklichen Gedanken jetzt vielleicht über die Jahre der Zukunft hinschweiften und sie zu Jahren der Freude machten. Dann traten sie in den Schatten und verschwanden.


    In Kapitel 17 nun:


    Zitat

    Ich erinnerte mich noch recht gut des Blickes, mit dem er sie und Richard betrachtet hatte, als sie beim Schein des Kaminfeuers gesungen, und es war nur sehr wenig Zeit vergangen, seit wir sie aus dem sonnenerleuchteten Zimmer in den Schatten hatten treten sehen,


    Sucht man die Stelle mit dem Kaminfeuer heraus (Kapitel 6) findet sich auch da der Schatten:


    Zitat

    An der Wand verschmolzen ihre Schatten miteinander, umgeben von seltsamen Gestalten, die in dem flackernden Schein des Feuers gespenstisch zu schwanken schienen.


    In dem Text steht wohl wirklich nichts zufällig.

  • Hallo,


    im 18. Kapitel scheint sich ein weiterer möglicher Herd kommender Verwicklungen anzubahnen: Lady Dedlock stößt ihre französische Zofe vor den Kopf und zieht ihr ein hübsches einheimisches Mädchen vor.
    Hier bedient Dickens englisch-französische Animositäten, indem er Hortense mit scharfen Gesichtszügen, einem herrischen, leidenschaftlichen und nachtragenden Charakter ausstattet und ihr die unschuldig-naive Rosa gegenüberstellt.
    Andererseits gönnt er gerade der klischeehaften Hortense einen der bisher stärksten Auftritte im Buch überhaupt: Von Lady Dedlock gekündigt und gedemütigt, hält Hortense inne und ...


    zog dann, ohne eine Miene zu verziehen, die Schuhe aus, ließ sie auf dem Rasen stehen und ging langsam und wohlüberlegt gerade durch die nässesten Stellen des Grases dem Wagen nach.(Kap. 18, Ende)


    Ob sie nur ihre Leidenschaften damit abkühlen will, oder vielleicht absichtlich eine Erkältung hervorrufen will, ich denke, wir werden Hortense noch später wieder begegnen, wer weiß mit welchen Folgen für Lady Dedlock oder Rosa.


    Halte im Moment im 19. Kapitel.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Halte im Moment im 19. Kapitel.


    Ich komme ebenfalls zum 19. Kapitel.


    Im 18. Kapitel wird auch deutlich, dass Lady Dedlock die Mutter von Esther ist, als sich diese in der Kirche begegnen. Wie auch hier, gefallen mir in dem Roman die Verflechtungen zwischen der Handlung, den Personen und den Orten: das uneheliche Kind begegnet der Mutter in der Kirche ! Auch interessant scheint mir die Beziehung von Mr. Jarndyce zu Esther, er war mit Lady Dedlocks Schwester gut bekannt - evtl. wollte er sie ja auch heiraten und sie tat es nicht, weil sie Esther betreute ? - zumindest scheint er eine nicht unbedingt väterliche Zuneigung zu seinem Mündel zu haben: Bei dem Wort Vater sah ich den früheren sorgenvollen Ausdruck wieder auf seinem Gesicht erscheinen. Es könnte natürlich auch ein Hinweis auf Nemos Tod sein.


    Miss Flite nennt Esther übrigens Fitz-Jarndyce, soweit ich weiß, bedeutet das "uneheliches Kind" von Jarndyce.


    Besonders gut an Esther gefällt mir, dass sie zwar nach außen die perfekte häusliche und liebenswerte junge Frau darstellt, wir aber durch ihre Ich-Erzähhaltung sehr viel von ihr selbst erfahren, durchaus kritische und selbstbewusste Gedanken.


    Mir scheint auch, dass Dickens sehr gerne mit Gegensätzen arbeitet, auch bei John Jarndyce, der bisher der perfekte Wohltäter ist, im Gegensatz zu Mrs. Jellyby oder Mr. Skimpole.

  • zum 19. Kapitel:



    Mir scheint auch, dass Dickens sehr gerne mit Gegensätzen arbeitet, auch bei John Jarndyce, der bisher der perfekte Wohltäter ist, im Gegensatz zu Mrs. Jellyby oder Mr. Skimpole.


    Ein Höhepunkt Dickensscher Personenbeschreibung ist auch Mr. Chadband, da wird einem ja schon vom Lesen schlecht. Seine tranigen Augen und ölige Stirn harmonieren mit den unerträglichen Erbauungsreden, die er mehr ausscheidet als ausspricht. Gerade in diesem Zusammenhang wirkt dann so ein armes Würstchen wie Jo, der hier im Roman das Leiden dieser Welt auf sich zieht, besonders bedauernswert.


    Intereressant auch die gefühlskalten Ehegattinnen Mrs. Chadband und besonders Mrs. Snagsby. Ihr Mann gibt ihr besonders kontrastiv anmutende Kosewörter, wenn man sich ihr Verhalten den Armen gegenüber ansieht, auch das wieder ein Kunstgriff Dickens'.


    Hoffe, in der nächsten Zeit schneller voranzukommen, da sich der Arbeitsberg in nächster Zeit etwas lichtet.


    finsbury

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  • Hallo,


    ja, wenn man denkt, dass man Zeit hat, kommt es anders ... . Jedenfalls bin ich nicht viel zum Lesen gekommen und halte im 27. Kapitel.


    Abgesehen davon, dass es sowieso nicht schön ist, bei einem guten Buch nicht voranzukommen, habe ich durch diese sporadische Leseweise das Problem, dass ich einige der Nebenfiguren vergessen habe und jetzt nicht alle Zusammenhänge verstehe. So wird im 26./27. Kapitel Kapitän Hawdon, der wohl schon früher erwähnt wurde, eine wichtige, undurchsichtige Rolle zugewiesen, allein habe ich eben den Zusammenhang vergessen.


    Nun, mit Hortense hatte ich wohl tatsächlich den richtigen Riecher, sie versucht sich Esther anzudienen und nimmt bei Mr. George Schießunterricht, da ist wohl noch einiges zu erwarten.


    Wenn der auctoriale Erzähler übernimmt, ändert sich immer auch der Ton des Buches, die sanfte Ironie Esthers weicht einer schärferen Variante, statt der relativen Sicherheit und Behütetheit, die trotz aller Unwägbarkeiten doch immer in Esthers Ton vorherrscht, greift in den auctorialen Teilen eine sehr pessimistische Weltsicht um sich: Die Gestalten wie Mr. Smallbead und seine liebreizende Familie, aber auch die graue Eminenz des Mr. Tulkinghorn wirken bedrohlich und stimmen einen bedenklich für das Menschengeschlecht. Sicher gibt es daneben auch immer Typen wie Mr. George und seinen treuen Adlatus, aber können sie jemals den Teufeleien der anderen bzw. der Verschleppungstaktik der Behörden standhalten? In Teilen hat Bleakhouse für mich etwas Kafkaeskes. Manchmal verbreitet der Temple die gleiche Atmosphäre wie der Ort zu Füßen des Schlosses ... . Auch dass sich Richard einfach nicht von den Erfolgsträumen bezüglich des Prozesses lösen kann, erinnert mich an die statischen Helden K., die aus ihrer Katastrophe einfach nicht herausfinden.


    Freue mich, mal wieder von euch zu hören, giesbert und Steffi


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Freue mich, mal wieder von euch zu hören, giesbert und Steffi


    Ich bin noch bei Kapitel 23, komme also noch langsamer vorwärts ;-)


    Aufgefallen ist mir wieder mal eine Kleinigkeit zu Krook:


    Zitat

    "Ebenso leicht könnte man ein Bündel alter Kleider, in dessen Innerem Spiritus glüht, wecken."
    [...]
    »Sie sind ein Edelmann, Sir«, Krook kostet abermals, und sein heißer Atem haucht sie an wie eine Flamme.


    Sein heißes Ende kündigt sich fast jedesmal an.

  • Ich bin noch bei Kapitel 23, komme also noch langsamer vorwärts ;-)


    Dann will ich auch nicht zu viel verraten und ein wenig verlangsamen: Im Moment bin ich nämlich ein wenig vorangekommen und stecke nun im 31. Kapitel. Der Faden mit Kapitän Hawdon hat sich von selbst geklärt: Du weißt es sicherlich, giesbert, Steffi will ich nicht die Spannung nehmen.
    Nun also klärt sich so einiges, Caddy Jellyby kommt unter die Haube und Esthers Hintergrund wird immer deutlicher.


    Manchmal hat die Figur der Esther doch einige Schwächen: So nervt das ständige Verweisen auf "Mütterchen Hubbard" und ihre falsch wirkende Bescheidenheit, mit der sie verschämt das Lob anderer Leute auf sie wiedergibt. Ansonsten aber sorgt der Wechsel der Erzählperspektive aber auch immer wieder für Erholung: Wenn ich einige düster-sarkastische auctoriale Kapitel hinter mir habe, freue
    ich mich auch wieder auf die eher naive, sanft humoristische Erzählweise Esthers, wenn auch mit den oben angegebenen Einschränkungen.


    Aufgefallen ist mir wieder mal eine Kleinigkeit zu Krook:



    Sein heißes Ende kündigt sich fast jedesmal an.


    Dafür wieder vielen Dank: Bei einer Erstlektüre überlese ich solche Sachen regelmäßig: Sie fallen mir gar nicht auf, weil sie ja erst vom Schluss her ihre Rolle als Vorausdeutung bekommen. Eigentlich müsste man jedes lohnende Buch zweimal lesen, wenn man nur die Zeit hätte ... .


    finsbury

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  • Ich bin auch noch nicht viel weiter, 36. Kapitel.




    Manchmal hat die Figur der Esther doch einige Schwächen: So nervt das ständige Verweisen auf "Mütterchen Hubbard" und ihre falsch wirkende Bescheidenheit, mit der sie verschämt das Lob anderer Leute auf sie wiedergibt. Ansonsten aber sorgt der Wechsel der Erzählperspektive aber auch immer wieder für Erholung: Wenn ich einige düster-sarkastische auctoriale Kapitel hinter mir habe, freue
    ich mich auch wieder auf die eher naive, sanft humoristische Erzählweise Esthers, wenn auch mit den oben angegebenen Einschränkungen.


    Geht mir ebenso ! Die zwei unterschiedlichen Erzähler sind ein sehr guter Trick, um die Spannung zu halten.


    Inzwischen ist Richard ja bereits vom Fall Jarndyce vergiftet, ein schlechtes Zeichen ! Er spekuliert natürlich auf das Erbe, aber das ist wohl recht aussichtslos. Es bestätigt sich die Einschätzung, dass er nicht gewillt ist, für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten sondern lieber auf den Reichtum wartet.


    ..jenem Gewirr von Wegen aus Kent und Surrey und Straßen von den Londoner Brücken her, die in dem allbekannten Elefanten zusammenlaufen ... Elephant and Castle - ein Stadtviertel Londons, der Name kommt von einem Gasthaus.


    Skimpoles Charakter wird nun auch etwas deutlicher - er benimmt sich nicht gerade nett gegenüber Jo, den er einfach wieder wegschicken möchte. Fürchtet er, dass er Konkurrenz bekommt ? Ich frage mich auch, ob er etwas mit Jos Verschwinden zu tun hat ?


    Im 34. Kapitel sind Mr George und Mr Bagnet bei Tulkinghorn wegen der Bürgschaft, allerdings konnte das ja nicht gutgehen bei zwei so gutherzigen Menschen. Tulkinghorn ist da schon ein ganz anderes Kaliber ! Das Ehepaar Bagnet finde ich übrigens äußerst köstlich: "Wenn meine Alte hier gewesen wäre, hätte ich ihm meine Meinung gesagt." :breitgrins:


    Und dann taucht auch noch die Haushälterin, Mrs. Rouncewell auf, die bei Tulkinghorn bekannt ist. Und schon wieder gibt es so einen kleinen Hinweis, bei dem man nicht genau weiß, ob er zu etwas führt: Mrs. Rouncewell hatte einen Sohn, der Soldat war und Mr. George sieht Mrs. Rouncewell nicht an sondern den Kalender .. da fange ich schon wieder an zu spekulieren.


  • Das Ehepaar Bagnet finde ich übrigens äußerst köstlich: "Wenn meine Alte hier gewesen wäre, hätte ich ihm meine Meinung gesagt." :breitgrins:


    Darüber habe ich mich auch amüsiert. So eine Person wie Mrs. Bagnet ist anscheinend für Dickens auch nicht unbedingt typisch. In der Rowohlt-Biografie steht, dass Dickens aufgrund persönlicher Erfahrungen mit Mutter und Frau ein eher negatives Frauenbild hatte und entweder "böse" Frauencharaktere oder solche unrealistischen Lichtgestalten wie Esther erschaffen hat. Das stimmt auch mit meinen Lektüreeindrücken der mir bekannten Dickensromane überein. Diese Mrs. Bagnet ist ja dagegen eine durchaus humoristisch genommene, aber mit sehr viel Zuneigung gezeichnete Frau.




    Und dann taucht auch noch die Haushälterin, Mrs. Rouncewell auf, die bei Tulkinghorn bekannt ist. Und schon wieder gibt es so einen kleinen Hinweis, bei dem man nicht genau weiß, ob er zu etwas führt: Mrs. Rouncewell hatte einen Sohn, der Soldat war und Mr. George sieht Mrs. Rouncewell nicht an sondern den Kalender .. da fange ich schon wieder an zu spekulieren.


    Und ich hab's überlesen, weil ich diesen Zusammenhang bisher nicht vermutet hatte. Danke!


    Bin im tränenschwangeren 36. Kapitel, wo es zum Treffen und Aufdeckung zwischen Esther und ihrer Mutter kommt. Jetzt freu ich mich schon wieder auf den sarkastischen Dickens in der auctorialen Perspektive.


    finsbury

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  • Hallo,


    Zitat von "Steffi"

    Skimpoles Charakter wird nun auch etwas deutlicher - er benimmt sich nicht gerade nett gegenüber Jo, den er einfach wieder wegschicken möchte. Fürchtet er, dass er Konkurrenz bekommt ? Ich frage mich auch, ob er etwas mit Jos Verschwinden zu tun hat ?


    Harold Skimpole ist übrigens wohl ein Portrait von Leigh Hunt, einem Essayisten und Dichter der englischen Romantik, der wohl wichtige Beiträge zur englischen Literatur schuf, aber gleichzeitig durch sein amoralisches Gehabe auffiel. (vgl. hier)
    Eine außerordentliche Romanfigur, wie ich sie in ihrer Konsequenz bisher noch nicht gelesen habe. Dagegen sind die Nihilisten in Dostojevskis Dämonen geradezu Sammelbecken von kruder Moralität!


    Da Skimpole seine Amoralität aber ausschließlich zu seinem persönlichen Wohl verwendet, ist er in dieser Hinsicht durchaus Utilitarist.


    Inzwischen bin ich im 39. Kapitel und erfreue mich noch im Nachhinein am 38. Kapitel, das mit einer sehr schönen Szene brilliert, in der Mr.Guppy angesichts von Esthers Pocken(?)narben hastig seinen Heiratsantrag zurückzieht und dabei möglichst jede Form der juristischen Absicherung sucht.
    Allerdings bin ich darüber etwas verwundert, hatte ich doch angenommen, dass seine Verehrung Esthers im Wesentlichen daraus resultiert, dass er sich durch eine mögliche Verehelichung materiellen Gewinn durch eine Erpressung Lady Dedlocks oder ein eventuelles Erbe Esthers erhoffte. Nun scheint das aber nicht so wichtig zu sein, dass es Esthers anscheinend gar nicht mal so schlimme Entstellung wettmacht.


    finsbury

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  • Inzwischen bin ich im 39. Kapitel und erfreue mich noch im Nachhinein am 38. Kapitel, das mit einer sehr schönen Szene brilliert, in der Mr.Guppy angesichts von Esthers Pocken(?)narben hastig seinen Heiratsantrag zurückzieht und dabei möglichst jede Form der juristischen Absicherung sucht.
    Allerdings bin ich darüber etwas verwundert, hatte ich doch angenommen, dass seine Verehrung Esthers im Wesentlichen daraus resultiert, dass er sich durch eine mögliche Verehelichung materiellen Gewinn durch eine Erpressung Lady Dedlocks oder ein eventuelles Erbe Esthers erhoffte.


    Ja, mich hat sein schneller Rückzug auch überrascht, ich wähnte neben der finanziellen Seite auch noch Liebe im Spiel :breitgrins: Aber ich muss sagen, solche Täuschungen des Lesers machen die Geschichte sehr lesenswert.


    Mr. Tulkinghorn lässt nun jede Maske gegenüber Lady Dedlock fallen. Auch wenn er natürlich notorisch gemein ist, finde ich trotzdem, dass sein Charakter doch recht interessant angelegt ist. Obwohl er reich und einflussreich ist, wird er im Hause Dedlock wie ein Diener behandelt - er wird nie in diese Klasse aufsteigen können und so macht er in dem Geschäft weiter, das er kennt und ihm offensichtlich Befriediung verschafft, nämlich Informationen sammeln und erpressen. Im Moment jedenfalls weiß er offensichtlich noch nicht, wer Lady Dedlocks Kind ist, aber ich bin sicher, er wird das noch irgendwie herausfinden.


    Und schon wird aus einer Justiz- und Gesellschaftssatire womöglich ein Krimi. Ich bin gespannt, wie es Lady Dedlock gelingt, ihre Gefühle weiterhin zu unterdrücken und das Bild einer über alles erhabenen Lady zu spielen.



  • Mr. Tulkinghorn lässt nun jede Maske gegenüber Lady Dedlock fallen. Auch wenn er natürlich notorisch gemein ist, finde ich trotzdem, dass sein Charakter doch recht interessant angelegt ist.


    Das ist ja das Schöne an den Dickensschen Schurken, dass sie zwar alle, wie du so schön sagst, "notorisch gemein" sind, dies aber auf ganz unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten.
    Tulkinhorn ist ein typischer "grauer Herr", ein Mensch, der für die Macht lebt, die ihm sein geheimes Wissen über andere Menschen verschafft. Ein Mensch, der sonst eigentlich gar keinen Spaß am Leben hat, denn bis auf seinen edlen Portwein ist alles um ihn zwar solide, aber düster und zurückhaltend. Über Freunde oder auch nur zweckungebundene Bekannte verfügt er nicht, hat keine Interessen außer seinen Machtspielen, was für ein armseliges Leben!


    Esther scheint nun bei ihrem Vormund in eine Lebensstellung als Ehefrau zu gehen, aber so wird's wohl nicht bleiben.


    Bin nun im 45. Kapitel, wo Esther nach "Deal" (sic!), einen Hafen-und daher Warenumschlagsort fährt, wo sich der hoch verschuldete Richard aufhält. Nicht nur an dieser Stelle fällt einem auf, wie häufig Dickens sprechende Namen benutzt. Dedlock, in dem Tod und Schließen anklingen, was eine Vorausdeutung wohl auf das Schicksal der Lady sein dürfte, Summerson bei Esther, das ihr sonniges Gemüt beschreibt. Es gibt noch deutlichere Namenshinweise, aber das Abendessen meldet sich gerade, deshalb ein andermal mehr.


    finsbury

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  • Huch :entsetzt:,


    im 48. Kapitel rechnete ich fest mit Myladys Tod, und wer liegt am Ende auf den Brettern? Der finstere Tulkinhorn! Mit diesem frühzeitigen Abgang hätte ich nicht gerechnet. Das wirft einen völlig neuen Blick auf die französische Zofe. Sollte sie sich mit Mylady nur scheinbar entzweit haben, in deren Auftrag Tulkinhorn
    auf den Fersen geblieben sein, sich ihrer Tochter angedient und das Schießen bei George gelernt haben, um Myladys Feind zu beseitigen? Oder bin ich jetzt auf dem völlig falschen Dampfer? Es gelingt Dickens hier locker, mich der hohen Muse abspenstig zu machen und mich in die Niederungen krimineller Verwicklungen zu begeben!


    finsbury

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  • Huch :entsetzt:,


    im 48. Kapitel rechnete ich fest mit Myladys Tod, und wer liegt am Ende auf den Brettern? Der finstere Tulkinhorn!


    :breitgrins: Ich bin bereits im 59. Kapitel und ich finde, ab Tulkinghorns Tod nimmt die Geschichte nochmal richtig Fahrt auf ! Dickens macht das ganz geschickt und es wird noch richtig dramatisch, mit Schneesturm und allem drum und dran ! Also da hat er sich einiges einfallen lassen, um die Leser bei der Stange zu halten. Mir macht das richtig Vergnügen.


    Die Namen übrigens finde auch sehr spannend, auch, weil es manchmal nur der Klang der Namen ist, die ein bestimmtes Gefühl auslösen. Die Namen für die Politiker Doodle, Coodle oder Buffy, Duffy - man sieht die lächerlichen Personen richtig vor sich. Oder Woodcourt, das klingt schon richtig heimelig-aufrichtig. Dedlock eher steif-aufrecht, die Gefühle weggeschlossen.


  • :breitgrins: Ich bin bereits im 59. Kapitel und ich finde, ab Tulkinghorns Tod nimmt die Geschichte nochmal richtig Fahrt auf ! Dickens macht das ganz geschickt und es wird noch richtig dramatisch, mit Schneesturm und allem drum und dran ! Also da hat er sich einiges einfallen lassen, um die Leser bei der Stange zu halten. Mir macht das richtig Vergnügen.


    Na, da freue ich mich doch schon auf mein langes Wochenende! Melde mich, wenn ich etwas weiter vorgedrungen bin.


    finsbury

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  • Nun habe ich Bleak House beendet und bin sehr zufrieden mit dieser Lektüre.


    Im Gegensatz zu einigen anderen hier im Klassikerforum halte ich Dickens für einen der großen Schriftsteller und fühle mich in meiner Meinung auch nach diesem Roman wíeder bestärkt.


    Natürlich ist Dickens ein Kind seiner Zeit und außerdem den Gesetzen des Marktes unterworfen gewesen. Das merkt man seinem Roman an vielen Stellen an. Seine sentimentalen Stellen und reißerischen Elemente sind dem geschuldet.Aber gerade das Letztere trägt auch zum Lesevergnügen bei :zwinker:.
    Dickens gelingen in "Bleak House" grandiose Charakterzeichnungen und Einblicke in historische Bezüge, die sich leider, wenn auch abgewandelt, noch heute finden.


    Nun habe ich keine weitere Zeit, hoffe aber im Laufe des Wochenende noch meine abschließende Stellungnahme fortsetzen zu können.


    Steffi, bist du auch durch? Wie geht es dir mit dem Roman?


    Und giesbert,
    doch keine Lust oder vielleicht Zeit gehabt, die Lektüre fortzusetzen?


    finsbury

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  • Also nochmal weiter mit der Schlussstellungnahme und ein paar Leseeindrücken aus den letzten Kapiteln.


    Erstaunt hat mich Sir Leicesters Wandlung. Er war im ganzen Roman als Karikatur angelegt. Und plötzlich, nach Myladys Flucht und seinem Schlaganfall bekommt er einen Anflug von "edler Einfalt und stiller Größe": Das hält sich allerdings nicht bis zum Buchende, sein letzter Auftritt mit George an seiner Seite wirkt wieder karikierend.
    Ansonsten ist Esthers Liebesgeschichte denn doch sehr kolportagehaft, aber Georges Ausflug in Rouncewells Firmenwelt entschädigt dafür.
    Dass die aufkommende Bürgerwelt genauso borniert ist wie der überlebte Adel (schön dargestellt im 66. Kapitel) sieht man daran, dass die junge Rosa mit den Töchtern von Fabrik-Rouncewell nach Festlandseuropa geschickt wird, um gesellschaftlichen Schliff zu erhalten, bevor sie den aufstrebenden Jungunternehmer heiraten darf.


    Nun überlege ich bei leichter Lektüre noch, ob ich die Pickwicker oder einen anderen Dickens noch hinterherschiebe oder erstmal Pause vom viktorianischen England mache.



    finsbury

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  • Steffi, bist du auch durch? Wie geht es dir mit dem Roman?


    Hallo finsbury,


    kleiner Schock am Morgen - du bist schon fertig ?! Leider bin ich nicht viel weiter gekommen, aber heute und morgen habe ich Zeit ...


    Ich bin schon gespannt, wie sich alles zusammenfügt.


    Ich gebe zu, ich bin eigentlich sehr überrascht, wie gut mir Bleak House gefällt, haben mich doch die anderen Romane, die ich kenne (Große Erwartungen, Nicholas Nickelby, Oliver Twist) nicht so ganz überzeugt. Sie waren mir ein wenig zu klischeehaft, zu offensichtlich auch in ihrer Aussage. Naja, Große Erwartungen hat schon tolle Momente ! Aber in Bleak House gibt es auch poetischere Bilder, diese dauernden kleinen Anspielungen finde ich sehr gut gemacht und auch die zwei verschiedenen Erzähler. Vielleicht liegt es hier daran, dass Dickens nicht mehr nur eine Geschichte erzählen will sondern auch mit verschiedenen Stilen und Genres spielt. Kriminalroman, Gesellschaftsroman - aber auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land, Bügertum und Adel.