Juni 2012: Heimito von Doderer - Die Dämonen


  • ... das aus der Hexenverfolgung resultierende Thema der historischen Änderung kollektiver Erfahrungswelten (auf die Geyrenhoff nochmal mit seinem Perlchen am Ende des Kapitels anspielt)...


    Die ganze Zeit ging mir das Perlchen nicht mehr aus dem Kopf - jetzt sehe ich auch die Verbindung - danke !!


    du hast ja ein Gespür die Textstellen wieder zufinden, Gontscharow, vielen Dank fürs Zitieren, ich bekam die Stellen nicht mehr zusammen.


    Da schließe ich mich mit dem Dank gleich an ! Diese Vorwegnahmen und Hinweise sind ja schon langsam unheimlich :breitgrins:

  • erweiterte Zeitleiste:


    September 1925: Unfall Mary K.
    Vorfrühling 1926: Leonhard Kakabsa und Malva Fiedler begegnen sich
    Spätsommer 1926: Kreis um Trix K.
    Herbst 1926: Geyrenhoff zieht nach Döbling
    Mary K. kommt nach Wien zurück
    Ende 1926: Schlaggenberg zieht nach Döbling
    Sa, 8.1.1927: Oper Rosenkavalier (Fr. Ruthmayr, Dr.Neuberg, Levielle)
    Eulenburgs Troupeaux bei Fr. Ruthmayr; Schlaggenberg und Stangeler treffen sich
    Versammlung gegen Grete Siebenschein im Café
    Camy Schlaggenberg fährt nach England
    Lasch ist auf Geschäftsreise
    Hausball bei Baron Frigoni
    Mo, 10.1.1927: Grete und Stangeler streiten
    Quapp kommt an
    1.2.1927: Quapp zieht nach Döbling
    Februar 1927: Gyurkicz und Eulenfeld ziehen nach Döbling
    Skiausflug Quapp, Schlaggenberg und Stangeler
    März 1927: Gründungsfest der Unsrigen
    Fr. 25.3.1927: Geyrenhoff trifft Levielle auf dem Graben
    Mo, 28.3.1927: Levielle trifft Schlaggenberg
    Ende März 1927: Stangeler belauscht Lasch und Levielle
    Frühling 1927: Geyrenhoff beginnt Chronik
    Mitte April 1927: Ausflug der Unsrigen
    Quapp zieht in die Nähe von Gyurkicz
    Ende April 1927: Stadtbummel Geyrenhoffs
    Sa, 14.5.1927: Treffen Mährischl, Altschul, Levielle, Lasch
    Levielle reist nach Paris, trifft Frigoni am Westbahnhof
    Quapp trifft Stangeler und verspätet sich
    Tischtennis bei Siebenschein
    Geyrenhoffs Erleuchtung
    Oper Rosenkavalier (Fr. Ruthmayr + Geyrenhoff)
    So, 15.5.1927: Geyrenhoff erhält Brief von Camy
    Geyrenhoff bei Gontard (Gespräch über Revolution)

  • Die ganze Zeit ging mir das Perlchen nicht mehr aus dem Kopf - jetzt sehe ich auch die Verbindung - danke !!



    mir ist auch erst nach diesem Beitrag ein "Perlchen" aufgegangen.


    danke für die chronologische Auflistung.
    Ich versuche gerade folgenden Satz darin unterzubringen:


    S. 456
    Ich wußte, daß ich doch schon drauf und dran gewesen war, ein älterer Herr zu werden. Damit war's nun vorbei. Eine neue Vergangenheit wuchs mir zu, sie war noch kein halbes Jahr alt.



    ein halbes Jahr zurückgerechnet ergibt Mitte Dezember 1926. Geyrenhoff ist bereits nach Döbling gezogen. Um Weihnachten '26 hatte G-ff ein Gespräch mit Kajetan. Könnt ihr noch näher den obigen Satz analysieren?



    Edit:
    auch über diesen Satz kann man noch lange nachdenken, ob man über die Bezüge bereits gelesen hat oder ob sie sich noch erfüllen:


    S. 459


    ....ich kann mich heute nicht mehr erinnern, ob ich diese Mätzchen mit den Händen schon vorher gewußt hatte. Wenn nicht, so hätte ich mir's dann leicht denken können. Es hätte nicht viel Verstand erfordert. Man brauchte nur zu wissen, daß hier alles in einer Verlegenheit, einer Halbheit, einer Notlüge, in irgendeinem Nachgeben seine erste Herkunft hatte, diese ganze Gesellschaft, wie sie war.



    eine Verlegenheit?
    eine Halbheit?
    eine Notlüge?




    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Zitat von Autor: JMaria« am: Heute um 10:26 »


    auch über diesen Satz kann man noch lange nachdenken, ob man über die Bezüge bereits gelesen hat oder ob sie sich noch erfüllen:


    S. 459


    ....ich kann mich heute nicht mehr erinnern, ob ich diese Mätzchen mit den Händen schon vorher gewußt hatte. Wenn nicht, so hätte ich mir's dann leicht denken können. Es hätte nicht viel Verstand erfordert. Man brauchte nur zu wissen, daß hier alles in einer Verlegenheit, einer Halbheit, einer Notlüge, in irgendeinem Nachgeben seine erste Herkunft hatte, diese ganze Gesellschaft, wie sie war.


    Geyrenhoff ahnt, dass die Handverletzungen von Quapp und Eulenberg vorgeschoben sind, um nicht mitspielen zu müssen. Deshalb gibt er Quapp kräftig die Hand und sie lacht, weil sie verstanden hat, dass er verstanden hat. Eulenberg fragt er gar nicht erst nach seinem verletzten Arm. So wie die beiden sich mit einer Notlüge entziehen und nur „halb“ am Tischtennis- Fünfuhrtee teilnehmen, basiert die ganze Gesellschaft (sei es die bei den Siebenscheins, sei es die Gesellschaft allgemein) auf den tönernen Füßen von Halbheit und Konvention.


    Zitat von Autor: JMaria« am: Heute um 10:26

    S. 456
    Ich wußte, daß ich doch schon drauf und dran gewesen war, ein älterer Herr zu werden. Damit war's nun vorbei. Eine neue Vergangenheit wuchs mir zu, sie war noch kein halbes Jahr alt.


    ein halbes Jahr zurückgerechnet ergibt Mitte Dezember 1926. Geyrenhoff ist bereits nach Döbling gezogen. Um Weihnachten '26 hatte G-ff ein Gespräch mit Kajetan. Könnt ihr noch näher den obigen Satz analysieren?


    G. erinnert sich - ausgelöst durch das Lavendelwasser - an sein ganzes bisheriges Leben. Die Stationen seines Lebens sieht er in seiner Erinnerung um eine lange schnurgerade Achse plaziert. Ihm wird klar, dass es keinen Bruch, keine Änderung, keine Wendung in seinem Leben gegeben hat, auch nicht durch den Krieg und den Zusammenbruch des k.u.k.-Reiches: Es war alles gebührlich gewesen: Gehorsam im Elternhaus, Pflicht im Amte oder Pflicht als Soldat; so gehorchte ich Gesetzen, die ich selbst nicht geschaffen, auch nicht nachgeschaffen hatte.(S.456)
    Jetzt aber ist ein neuer Abschnitt seines Lebens, eine Wende eingetreten ( worin die besteht, werden wir wahrscheinlich noch erfahren) und zwar ganz offensichtlich mit Entstehen der Döblinger "Kolonie" und dem Kreis der „Unsrigen“. Ohne sie wäre er seinen Weg auf der vorgeschriebenen Bahn schurgerade weiter gegangen ohne Perspektive auf Veränderung, bis zum Tod. Insofern war er drauf und dran, ein älterer Herr zu werden...

  • Hallo,


    bin am Ende des Kapitels "Auf offener Strecke", das mir einige Verständnisschwierigkeiten bereitet.


    Aber zunächst einmal großen Dank, Steffi, deine Zeitleisten helfen sehr bei der Orientierung in diesem Mammutroman.


    Was soll die Aufregung Geyrenhoffs darüber, dass er Stangeler wohl falsch eingeschätzt habe, weil dieser Revolutionäre als oberflächliche, nicht lebenspraktische Menschen darstellt. Dachte Geyrenhoff, Stangeler sei ein Revolutionär? Das ist mir bisher in seiner Beschreibung bisher überhaupt nicht aufgefallen, denn außer seiner libertinösen Einstellung zur Beziehung zu Grete und seine Launenhaftigkeit, die aber auch Unsicherheit ausdrücken kann, ist mir nichts bekannt, was ihn aus dem bourgeoisen/ adeligen Umfeld herauslöst.

    Und was Gürtzner-Gontard genau von Stangeler will, habe ich auch nicht begriffen. Aus welchen Fehlern soll er durch ihn lernen? (S. 492, dtv)


    Wirklich schwierig, dieses Kapitel!


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    eine Frage aus meinem letzten Beitrag hat sich durch etwas genauere Lektüre vielleicht geklärt. Gürtzner-Gontard will durch den Umgang mit René und die positive Aufnahme von dessen Gedanken sein mangelhaftes Handeln an seinen eigenen Söhnen kompensieren. Na ja, ein etwas merkwürdiger Weg.


    Bin nun im ungleich leichter zu lesenden Kapitel "Am anderen Ufer", das das Wiederlesen mit einigen auf den letzten paar hundert Seiten kaum erwähnten Personen bringt. Mary K. spielt in Form ihrer Kinder Trix und Hubert eine Rolle und Trix stößt auf Leonhard Kakabsa, d. h. auch der Ort der Handlung verlagert sich wieder jenseits des Donau-Kanals, in die Brigittenau. Daneben spielen auch einige erotische Eskapaden eine Rolle, vielleicht daher der Kapiteltitel?


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Bin nun im ungleich leichter zu lesenden Kapitel "Am anderen Ufer", das das Wiederlesen mit einigen auf den letzten paar hundert Seiten kaum erwähnten Personen bringt.


    Ich atme bei solchen Kapiteln auch erstmal auf, obwohl oft nicht weniger "drinsteckt" als in den mehr kryptischen Kapiteln.


    Auf offener Strecke - das Kapitel fängt ja schon mit dem Thema Reisen an und ich denke, das ist schon ein Hinweis, dass sich in Zukunft einiges ändern wird bzw. dass etwas auf ein Ziel hinführt. Eine Andeutung über den Justizpalast-Brand ? Die Unsrigen als Terrorzelle ? Geyrenhoff sieht sich in einer Sackgasse und alles wächst ihm über den Kopf. Im eigentlichen bleibt er vage, er könne es "näher im Augenblick nicht" bestimmen, er denkt an das Vermögen von Fr. Ruthmayr, das sich "möglicherweise schon in wirklicher Gefahr befand". Stangeler und Schlaggenberg scheinen Schlüsselfiguren zu sein. Bisher empfand ich Stangeler auch eher als biederen (unter den Butzenscheiben) Historiker, aber vielleicht entwickelt sich ja gerade daraus das Bewusstsein, dass sich etwas verändern muss. Außerdem sieht Gürtzner-Gontard auch aus einer gewissen Lebensuntüchtigkeit heraus einen Anlass, Revolutionen zu führen und er erklärt Stangelers Rassentheorie. Geyrenhoff wird es immer deutlicher, dass er in etwas hineingeraten ist. Über Gürtzner-Gontard gibt es neben Verbindungen zu Stangeler auch eine Verbindung zu Schlaggenberg; dessen Tochter Renata stand ja auch einmal neben Schlaggenberg, beiden taten aber so, als würden sie sich nicht kennen.


  • Jetzt aber ist ein neuer Abschnitt seines Lebens, eine Wende eingetreten ( worin die besteht, werden wir wahrscheinlich noch erfahren) und zwar ganz offensichtlich mit Entstehen der Döblinger "Kolonie" und dem Kreis der „Unsrigen“. Ohne sie wäre er seinen Weg auf der vorgeschriebenen Bahn schurgerade weiter gegangen ohne Perspektive auf Veränderung, bis zum Tod. Insofern war er drauf und dran, ein älterer Herr zu werden...


    Hallo zusammen,


    Gontscharow
    ich seh jetzt, dank dir, die Zusammenhänge viel klarer. Einige Redewendungen wie z.B. dieses 'ein älterer Herr werden' habe ich schlicht und einfach nicht kapiert. Ebenso konnte ich die vorgeblichen Verletzungen an der Hand Quapps und Eulenberg nicht einordnen. Derweilen ist es ganz einfach, wenn mans weiß.



    Zitat von "finsbury"

    eine Frage aus meinem letzten Beitrag hat sich durch etwas genauere Lektüre vielleicht geklärt. Gürtzner-Gontard will durch den Umgang mit René und die positive Aufnahme von dessen Gedanken sein mangelhaftes Handeln an seinen eigenen Söhnen kompensieren. Na ja, ein etwas merkwürdiger Weg.



    was wir aber auch nur durch G-ff wissen, und das muß sich ja nicht unbedingt so bewahrheiten, denn schließlich möchte sich der Chronist als all- oder zumindest mehrwissend erweisen ..... denn sonst ....ist die ganze Chronik beim Teufel.... weil er Stangeler falsch gezeichnet hat. Doch im gleichen Atemzug gibt er zu, dass er Frau und Tochter von Gürtzner-Gontard vergaß, als er den Bezug zu den Söhnen herstellt. Müssen die Schlußfolgerungen G-ffs immer richtig sein? Das frag ich mich ab und zu. Der Chronist spielt durch diese Gedankeneinschübe ganz schön mit uns.


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Müssen die Schlußfolgerungen G-ffs immer richtig sein? Das frag ich mich ab und zu. Der Chronist spielt durch diese Gedankeneinschübe ganz schön mit uns.


    Das sehe ich auch so - es ist ein Spiel mit Wissen und Macht. Nicht zu vergessen, dass er auch manches nur nacherzählt, wir also die zweite Fassung lesen. Aber natürlich ist das auch wieder ein Hinweis darauf, wie subjektiv die ganze Welt ist.

  • Eure Probleme mit dem Gürtzner- Gontard- Kapitel teile ich, eure Interpretationen, Vermutungen und besonders die offenen Fragen finden meine Zustimmung. :zwinker: Warum soll es uns besser gehen als den Romanfiguren? Ein Thema des Romans ist die Unmöglichkeit, die Gegenwart, das, was in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe abläuft zu verstehen, einzuordnen und zu überblicken. So geht es dem Chronisten und deshalb sucht er seinen ehemaligen Vorgesetzten auf : Ich erkannte plötzlich mein heftiges Bedürfnis zu sprechen, mich auszusprechen und Widerspruch zu erfahren von einer Seite, von wo aus er galt, ein anderes, ein Maß vom Unbeteiligten her, an meine Verwirrung zu legen. Während des Gesprächs mit GG merkt er, dass ihm „jeder wirkliche Standpunkt“ fehlt . Er klärt das Missverständnis, das entsteht, nicht auf: Ich nahm das Joch des Missverständnisses auf mich…, was nicht gerade zur Klärung der „Verwirrung“ beiträgt. Aber ohnehin!Warum sucht G-ff ausgerechnet klärende Hilfe bei GG, diesem „sacerdotalen“ Typen, der das alte Österreich verkörpert, ja zelebriert, eine Welt, von der sich G-ff eigentlich am Vortag verabschiedet hat? Ich glaube, es geht um nichts anderes als die Hinauszögerung dieses Abschieds. Kein Wunder, dass das Thema“ der intakte Duft einer heileren Welt…“(S480) im Wortlaut des vorangegangenen Kapitels nachklingt.
    Wunderbar finde ich die Passage, als G-ff, dem die Aussicht morgens seltsam gallertartig versperrt war(!),die Wohnräume betritt, ihm der Hofrat entgegen kommt und „ hinter ihm, draußen, hinter den fast bis zur Decke reichenden Fenstern, die weite Aussicht aufgehängt mit all ihren zahllosen Einzelheiten, wie einen Wandteppich aus alter Zeit , der Grund von gedämpftem Taubengrau in der Tiefe erfüllt, in welche sehr entfernete Stadt-Teile hineinwanderten mit ihrem Übermaß von….. Ich weiß nicht wie es euch bei dieser Passage ging, ich verspürte einen Hauch von Altmeister Stifter und seinem Nachsommer, wo Landschaft und Architektur zu idealen Stilleben (voll Wehmut für ihre Vergänglichkeit) gefrieren.
    Vollends eingenommen für dieses Kapitel hat mich die Geschichte des Vaters. Alt-Österreich at it’s best! Man stelle sich vor, dieses Kapitel - im Original geschrieben 1940, in barbarischer Zeit -:…. Er war als blutjunger Offizier desertiert, weil er ein Hinrichtungs-Peleton hätte kommandieren sollen. Die zu Erschießenden waren dabei von dem späteren Hamdi-Bey gleich über die türkische Grenze gebracht worden. Viele Jahre danach ist in dieser Sache , wenn ich mich recht entsinne, ein kaiserlicher Gnaden-Akt erflossen…
    Und rührend der Fez, den GG im Hause trägt, als biedermeierliche Reminiszenz daran…


    Bin im Kapitel "Im Osten"

  • Etwas Off Topic:


    wie verbucht man denn dies im Leben eines bibliophilen Menschen, insbesondere eines Doderer-Lesers ... denn ich habe gerade festgestellt, dass unsere Ziegelmauer, die wir restaurieren mußten mit Handschlagziegel (damit es 'alt' aussieht), von den Wienerberger Ziegel stammen, einer Firma an der auch Heimito von Doderers Vater Anteile besaß :breitgrins:



    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • Warum soll es uns besser gehen als den Romanfiguren? Ein Thema des Romans ist die Unmöglichkeit, die Gegenwart, das, was in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe abläuft zu verstehen, einzuordnen und zu überblicken.


    Ich frage mich ja, inwieweit das Doderer auch auf sein eigenes Leben und seine Zugehörigkeit zur NSDAP bezieht bzw. bezogen sehen will. Er erhielt zwar deswegen nach dem Krieg Publikationsverbot aber wie er im Nachhinein dazu stand, weiß ich nicht. Interessant in diesem Zusammenhang auch dieses Exposé als Hinweis auf eine Dissertation, in der für die erst 1952 nachträglich eingeführte Figur des Leonhars Kakabsa die Bedeutung eines Führers von der alten in die neue Zeit, also auch als Überwindung der NS-Zeit, thematisiert wird.



    JMaria: Bewundernswert, dieser Instinkt, auf die richtigen Ziegel zu setzen :breitgrins:

  • Nun habe ich etwas mehr Zeit.
    Das Kapitel über den Neusiedler See lese ich mit großer Freude, da ich selbst vor einigen Jahren dort war und Doderer mit gewohnter Meisterschaft Land und Leute dort beschreibt. Gerade bin ich in der Szene, wo Leonhard Kakabsa und Niki Zdarsa auf den Wagmeister von Eisenstadt, Alois Gach, treffen und von ihm in die alte Zeit der Kavallerieregimenter entführt werden. Wunderbar geschildert! Interessant ist auch, dass Kakabsa, der sich ja gerade von seinem Dialekt trennt und zumindest sprachlich zum Bildungsbürger mutiert, den Dialekt Gachs als besonders ergreifend, wahrscheinlich weil sehr authentisch und mit der Person des Wagmeisters harmonierend, empfindet. Über den Rittmeister Ruthmeyer, dessen Angestellter er vormals war, ist auch wieder die Vernetzung mit dem Romangeschehen gewährleistet.


    So, nun noch kurz in eigener Sache. Ab morgen bin ich verreist und dann zumindest eine Woche nicht online. In der zweiten Woche habe ich zwar theoretisch einen Internetzugang, nur inwieweit ich dazu komme, ihn zu nutzen, weiß ich noch nicht. Ich lese also (langsam) weiter, werde aber vermutlich erst ab dem 29. dazu kommen, mich wieder ausführlicher oder überhaupt zu äußern.


    Wünsche euch bis dahin weiteren interessanten Austausch und freue mich darauf, dann eure Postings zu lesen.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Zitat von "Gonscharow"

    Warum soll es uns besser gehen als den Romanfiguren? Ein Thema des Romans ist die Unmöglichkeit, die Gegenwart, das, was in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe abläuft zu verstehen, einzuordnen und zu überblicken. So geht es dem Chronisten und deshalb sucht er seinen ehemaligen Vorgesetzten auf : Ich erkannte plötzlich mein heftiges Bedürfnis zu sprechen, mich auszusprechen und Widerspruch zu erfahren von einer Seite, von wo aus er galt, ein anderes, ein Maß vom Unbeteiligten her, an meine Verwirrung zu legen. Während des Gesprächs mit GG merkt er, dass ihm „jeder wirkliche Standpunkt“ fehlt . Er klärt das Missverständnis, das entsteht, nicht auf: Ich nahm das Joch des Missverständnisses auf mich…, was nicht gerade zur Klärung der „Verwirrung“ beiträgt. Aber ohnehin!Warum sucht G-ff ausgerechnet klärende Hilfe bei GG, diesem „sacerdotalen“ Typen, der das alte Österreich verkörpert, ja zelebriert, eine Welt, von der sich G-ff eigentlich am Vortag verabschiedet hat? Ich glaube, es geht um nichts anderes als die Hinauszögerung dieses Abschieds. Kein Wunder, dass das Thema“ der intakte Duft einer heileren Welt…“(S480) im Wortlaut des vorangegangenen Kapitels nachklingt.



    das habe ich mich auch gefragt ... warum sucht G-ff GG auf ?
    Ein Hinauszögern des Abschieds vom alten Österreich ist die naheliegende Erklärung und du erklärst es auch mit den Zitaten.
    Wer möchte nicht in einer heilen Welt länger verweilen. Wirklich sehr schön, wie Doderer immer wieder den Duft der Erinnerung hineinbringt.





    Über Gürtzner-Gontard gibt es neben Verbindungen zu Stangeler auch eine Verbindung zu Schlaggenberg; dessen Tochter Renata stand ja auch einmal neben Schlaggenberg, beiden taten aber so, als würden sie sich nicht kennen.



    ja, das hat sich nun fein geklärt. Sie war es auch, welche damals auf dem Skizausflug die Spur der Unsrigen gekreuzt hatte....die Jacke an die Achselbänder gehängt, in einem blauen Hemd mit kurzen Ärmeln...



    Zitat von "finsbury"

    Bin nun im ungleich leichter zu lesenden Kapitel "Am anderen Ufer", das das Wiederlesen mit einigen auf den letzten paar hundert Seiten kaum erwähnten Personen bringt. Mary K. spielt in Form ihrer Kinder Trix und Hubert eine Rolle und Trix stößt auf Leonhard Kakabsa, d. h. auch der Ort der Handlung verlagert sich wieder jenseits des Donau-Kanals, in die Brigittenau. Daneben spielen auch einige erotische Eskapaden eine Rolle, vielleicht daher der Kapiteltitel?



    olala - ein pikantes Kapitel. Das amouröse Abenteuer im Badezimmer zwischen Trix und Fella und Renés Seitensprung. Doderers Affinität zu großen Brüsten ist uns nur zu bekannt... Frau Käthe's ....Kraft sprang aus dem Zwinger....


    Und in dieser Leichtigkeit und Unbekümmertheit der Jungen zieht nun wieder Mary K. hinein.
    Eine Frau, von der eine Faszination ausgeht, wie auch schon in der Strudlhofstiege. Wie sie stolz auf ihren Beinen steht !


    Ich habe mit dem Kapitel 3 "Im Osten" begonnen, wie Doderer die Wohnverhältnisse der Leute im Burgenland beschreibt hat mich an unseren letzten Besuch dort erinnert. Enge Gassen, dunkle Flure, niedere Zimmer, aufgetürmte Kissen im Schlafzimmer - all das kam mir wirklich nur zu bekannt vor.



    Gute Reise, finsbury :winken:



    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Auch ich wünsche dir eine angenehme Reise, finsbury. Und wenn es mit einem Urlaub verbunden ist, dann gute Erholung !


    Ich habe das Kapitel "Im Osten" heute beendet, muss mir aber noch ein paar Gedanken darüber machen, daher später weiteres darüber.

  • Hallo zusammen,


    Leonard erinnert mich etwas an Chwostik (Die Wasserfälle von Slunj). Ein Arbeiter, sehr sympathisch, hohe Ziele, gibt sich jedoch nicht auf. Bin immer noch im Kapitel "Im Osten".


    Edit:
    S. 544 unten heißt es über kroatische Literatur:


    Man schätzte die Kroaten mit Recht .... , ebenso ihr Sprache, deren Werke längst der Weltliteratur angehören.



    ich kenn keinen einzigen kroatischen Klassiker ! :rollen:


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • kurz vor dem Ende des Kapitels "Im Osten" ein paar Gedanken bevor ich sie vergesse:


    bis auf das 1. Kapitel im 2. Teil wo der Chronist Geyrenhoff erzählt, erzählt nun der Autor Doderer wieder, und bezieht sich mit 'wir' in die Geschichte ab und zu mit ein. Außerdem befinden wir uns im Sommer 26 bis und Ende 1926, am Ende des Kapitel "Im Osten" ist es Ende Januar 1927.


    Leonhard hat sich von seiner Klasse und ihrer Sprache getrennt, er denkt nun sogar in der 'neuen' Sprache. Leonhard und Zdarsa treffen in Fraunkirchen Gach, Hufschmied und Bereiter beim Rittmeister Ruthmeyer. Hier gibt es wieder eine Verbindung nach Wien... später trifft Schlaggenberg auf Anni Gräven und erzählt ihr die Geschichte seiner Eltern und seiner "Schwester". Anni trifft wohl unbewußt einen wunden Punkt, als sie erwähnt, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wenn seine "Schwester" von ihren richtigen Eltern nichts geerbt hat. ---- "da wird a Schwindel dabei sein". -----


    überraschend geschieht in diesem Kapitel auch ein Mord !


    soweit erstmal.


    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Im Kapitel "Im Osten" gibt es drei hauptsächliche Handlungsstränge. Wie JMaria schon schrieb, wird Leonhard als auftrebender Arbeiter geschildert, es erinnert an einen Entwicklungsroman, auch schwankt er zwischen drei Mädchen, hat zwei verschiedene Sexualpartnerinnen und scheint sich nicht sehr tief in die politischen Entwiklungen zu verstricken. Ja, irgendwie ist er zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er mitbekommt, was um ihn herum vorgeht, zumindest lässt uns der Autor das glauben. Außerdem erfahren wir auch, was es mit Quapps Geheimnis auf sich hat, nach meiner Rechnung müsste die Mutter 45 Jahre alt sein, ursprünglich Baronesse, verwitwet und war verheiratet mit einem französischen Adligen. Ob sie und schon begegnet ist ?


    Pinta, kroatischer Abstammung, und das "erwachende Ungarn" planen ganz ungeniert und es war für mich interessant, dass einige schon bekannte Figuren da mitmischen: Orkay und und auch Eulenfeld; die konspirativen Szenen in der Waldhütte haben aber für mich auch einen satirischen bzw. eher komischen Faktor, denn es ist doch alles sehr inszeniert. Dafür sind dann die Schattendorfer Morde umso realistischer und vielleicht wollte Doderer auch damit zeigen, wie aus einer fast lausbubenhaften Atmosphäre blutiger Ernst werden kann. Ich denke da auch wieder an Parallelen zu seiner Vergangenheit, auch da wurde aus für ihn erstrebenswerten Idealen blutiger Ernst. Die Morde münden dann ja in den Brand des Justizpalastes.


    Der dritte Handlunsgstrang ist der Mord an Hertha, mir hat die Schilderung des Milieus sehr gut gefallen und es hat mich auch an den Naturalismus Ende des 19. Jahrhundert erinnert. Ich muss ja nicht extra sagen, dass ich Emile Zola besonders gerne mag und diese Szene im kleinkriminellen Umfeld könnte ebenso auch in Paris spielen. Dass Anni Gräven noch das Druckmittel an sich nimmt und auch noch viel später verhaftet wird, lässt auf weitere Verwicklungen schließen - zumindest hoffe ich, dass Doderer da noch weitererzählt.


    Etwas irritiert bin ich, wenn sich Leonhard an die Pforte zum Wald erinnert (S. 610 Beck). Wurde das schon mal näher beschrieben oder sind das immer nur Erinnerungsfetzen ?