Klassiker in 500 Jahren?

  • Klassiker in 500 Jahren?


    In seinem 1580 zum ersten Mal erschienenen Essay „Über die Bücher“ nennt Montaigne nur drei unterhaltende Bücher der damaligen Moderne die, „des Verweilens würdig“ sind. Zwei davon:


    - „Das Dekameron“ von Giovanni Boccaccio (ital. Erstdruck: Venedig 1470; franz. ED: ?)
    - “Gargantua und Pantagruel” von Francois Rabelais (Erstdruck: 1532 Lyon)


    sind auch heute noch bekannte und gelesene Literaturklassiker und (ich wage die Vorhersage) werden es auch noch in hundert Jahren sein. Bei den „100 Büchern der Weltliteratur“ der „ZEIT“-Liste nehmen sie in der chronologischen Reihenfolge die Plätze 13 und 15 ein, während die „Essais“ von Montaigne auf Platz 16 (der chronologischen Reihenfolge) direkt folgen. Diese Urteilsgenauigkeit von Montaigne hat mich so beeindruckt, dass ich mich frage, ob wir heute in der Lage wären, aus der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2-3 Werke zu nennen, die in 500 Jahren noch gelesen werden. Wenn wir es auch nicht mehr überprüfen können (ich hätte sonst einen Preis für den Sieger ausgesetzt), wäre es doch spannend aus der Belletristik des 20. Jahrhunderts, die Bücher zu nennen, denen wir zutrauen, in 400 – 500 Jahren noch gelesen zu werden.


    Viele Grüße


    Hubert (der sehr gespannt auf eure Nominierungen ist)

  • Hallo Hubert,


    eine sehr interessante Frage...wie ich im Titel meinen Beitrag schon treffend bezeichnet habe, würde ich gerne unterteilen in


    1. Dichtung (das, was ich persönlich vorschlagen würde und was ich mir wünsche)


    - Uhrwerk Orange
    - Trainspotting
    - Aimée & Jaguar


    Weil diese Bücher für mich Hauptthemen unserer Zeit darstellen - Liebe, Gewalt, Drogen, der zweite Weltkrieg.


    und


    2. Wahrheit (oder wenigstens die wahrscheinlichste Form der Wahrheit, wenn man die Entwicklung so betrachtet)


    - diverse Mangaheftchen mit vielen bunten Bildchen
    - Stefan Effenberg "Ich hab's allen gezeigt"
    - Dieter Bohlen "Nichts als die Wahrheit"


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo zusammen!


    Ja, eine wirklich interessante Frage...


    Interessant nur schon deswegen, weil man sieht, wie sehr sich in unserer schnelllebigen Zeit (ein Gemeinplatz, ich weiss!) die Relationen verschieben können:


    Wenn Montaigne noch das rund 200 Jahre alte 'Decamerone' als zeitgenössisch empfunden hat, so geht Hubert bereits auf 100 Jahre zurück und wenn nimue 50 Jahre drin hat, würde es mich wundern. (Ich kenne die von Dir genannten Bücher nicht, sorry!)


    Wenn nimue sogar glaubt, dass kurzlebige Bestseller Ewigkeitswert haben... Das wäre irgendwie die heutige Sucht nach immer dem Neuesten quasi ad absurdum geführt... Na ja, entweder Dein Beitrag war höchst ironisch gemeint, oder Du bist eine (fast) grenzenlose Zynikerin...


    Zur Ausgangsfrage:


    Romane mit grossen, die Zeit überdauernden Gefühlen wie Liebe und Hass, Gut und Böse. García Márquez? Jorge Amado? Felix Krull? Harry Potter?


    Grübelnd...


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hi sandhofer,


    Zitat

    Wenn nimue sogar glaubt, dass kurzlebige Bestseller Ewigkeitswert haben... Das wäre irgendwie die heutige Sucht nach immer dem Neuesten quasi ad absurdum geführt... Na ja, entweder Dein Beitrag war höchst ironisch gemeint, oder Du bist eine (fast) grenzenlose Zynikerin...


    Hihi...Danke für das Kompliment! :bang:


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo Sandhofer,


    Zitat:
    Wenn Montaigne noch das rund 200 Jahre alte 'Decamerone' als zeitgenössisch empfunden hat


    Zwar ist „Il Decameron“ um 1350 entstanden (also 230 Jahre vor Erscheinen der „Essais“), aber wenn der italienische Erstdruck 1470 erfolgte, so dauerte es sicher noch Jahrzehnte bis das Buch ins französische übersetzt und in Frankreich gedruckt und verbreitet war. Es könnte schon sein, dass es für Montaigne eine moderne Neuerscheinung gewesen ist.


    Gruß


    Hubert

  • Hallo zusammen!
    Hallo Hubert!


    "Zwar ist „Il Decameron“ um 1350 entstanden (also 230 Jahre vor Erscheinen der „Essais“), aber wenn der italienische Erstdruck 1470 erfolgte, so dauerte es sicher noch Jahrzehnte bis das Buch ins französische übersetzt und in Frankreich gedruckt und verbreitet war. Es könnte schon sein, dass es für Montaigne eine moderne Neuerscheinung gewesen ist. " - Das 'Decamerone' ist m.W. schon vor seinem Erstdruck in andere Sprachen übersetzt worden; ich weiss zwar nun nicht in welche, aber Französisch wird wahrscheinlich dabei gewesen sein. Sei dem, wie dem ist: In meiner Übersetzung (Bode) spricht Montaigne einfach von "neuern Bücher", die "angenehm zu lesen" sind. Er meint mit 'neuer' wohl einfach die neue Mode, nicht-lateinisch zu schreiben und nur zur Unterhaltung, nicht zur Belehrung. Ich nehme schon an, dass Montaigne zumindest das ungefähre Datum der Erschaffung des 'Decamerone' kannte.


    Im übrigen: 20. Jahrhundert, das bleibt: Lolita?


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo !


    Wirklich interessant ! Da stellt sich mir die Frage, wie überdauert ein Buch diese Zeit ? Wenn es von möglichst vielen Menschen gelesen wird, entsprechend vermarktet wird und allen bekannt ist oder wenn es durch seinen Anspruch nur einem kleinen, somit elitären Kreis von Menschen zugänglich wird ?


    Also, Herr der Ringe, Harry Potter oder Ulysses ?


    Gruß von Steffi

  • Hallo Zusammen!


    @ Sonja: Ich habe die „100 Bücher der Weltliteratur“ der ZEIT mal schnell für Dich unter „Hinweise, Links, Anmerkungen“ eingetippt (Achtung: Joke!)


    @ Alle


    Drei Bücher des 20. Jahrhunderts, die ich liebe (das wären aber zu viele) und die meiner Meinung nach eine Chance zum Überleben haben:


    1. „Siddhartha“ von Hermann Hesse


    Ich liebe dieses Buch, weil Hesse in einer so sanften Sprache erzählt, dass man überhaupt nicht merkt: dies ist eines der provozierendsten Bücher aller Zeiten.


    Chancen zum Überleben: weil es in allen Kulturen (Europa, Amerika und vor allem in Asien) verstanden wird und Menschen bewegt und – es ist (wenn man dem Verlag glauben will) weltweit das meistgelesene Buch des 20. Jahrhunderts.


    2. „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry


    Ich liebe dieses Buch, weil es Mut macht ... zu Freundschaft und Liebe.


    Chancen zum Überleben: weil man es nicht mehr vergessen kann, wenn man es einmal gelesen hat und – es (wenn man dem Verlag glauben will) mit 115 Übersetzungen das am häufigsten übersetzte Buch ist, nach Bibel und Koran (Dank an Sandhofer für diese Information!)


    3. „Das Tagebuch der Anne Frank“


    Ich hoffe, dass dieses Buch, das über das Schrecklichste, das im 20. Jahrhundert geschehen ist, in der Sprache eines betroffenen Kindes berichtet, auch in 500 Jahren noch als Warnung gelesen wird –


    und als Buch, das bereits heute in mehr als 55 Sprachen übersetzt und in über 20 Millionen Exemplaren gedruckt ist und das jeden der es gelesen hat, erschüttert, hat es auch die Chancen dazu.


    Ich bitte um eure Kritik zu meinem Vorschlag. Ich werde eure Vorschläge gelegentlich auch bewerten!! :zwinker:


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Steffi hat geschrieben:
    wie überdauert ein Buch diese Zeit ? Wenn es von möglichst vielen Menschen gelesen wird, entsprechend vermarktet wird und allen bekannt ist oder wenn es durch seinen Anspruch nur einem kleinen, somit elitären Kreis von Menschen zugänglich wird ?


    Meine Meinung: Ein Buch, das nicht schon zu seiner Zeit ein großes Publikum findet, wird auch 500 Jahre später kein gelesener Klassiker sein. Aber ohne einen gewissen Anspruch interessiert es später auch keinen mehr: Massenware gibt es immer wieder neue. Auch eine spannende Vita des Autors kann sehr hilfreich sein (siehe Dante, Cervantes, Hugo u.a.).


    Nun zur Wertung (Bitte nur als Anregung zur weiteren Diskussion verstehen):


    Suse:


    Anthony Burgess „Clockwork Orange“: Ist das Buch nicht hauptsächlich durch die Verfilmung von Stanley Kubrick bekannt?


    Irvine Welsh „Trainspotting“: In England sicher ein Kultbuch, aber nur Sex, Drogen und Gewalt ist mir zu wenig oder hast Du da eine Handlung erkannt?


    Erica Fischer „Aimée und Jaguar“, sicher ein gutes Buch, aber Erica Fischer ist international zu unbekannt um zu überleben.


    Mangas: Diese Massenware wird so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen ist. Wenn Comics überleben, dann höchstens „Donald Duck“, weil originell, unverwechselbar und der erste?


    Effenberg und Bohlen: Literatur???


    *ggg* Haben Bücher, die Sandhofer nicht kennt eine Überlebenschance?


    sandhofer:


    Gabriel Garcia Márquez: Es könnte sein, dass man das 20. Jahrh. einmal das Jahrhundert der lateinamerikanischen Literatur nennen wird (so wie heute ja schon das 19. Jahrh. als das Jahrhundert der russischen Literatur gilt) und dann hat Garcia Márquez gute Chancen. An welches Buch hast Du gedacht?


    Jorge Amado: Zwar der bekannteste Schriftsteller in Brasilien, aber international? Da hat sicher Garcia Márquez größere Chancen.
    Welche Bücher: „Dona Flor und ihre zwei Ehemänner“ oder „Herren des Strandes“? Können solche Titel überleben?


    Felix Krull: Die Ironie von Thomas Mann wird außerhalb Deutschlands zu wenig verstanden, als dass er international überleben könnte. Aber wenn schon Mann, warum dann dieses Werk? Es gibt doch bessere?


    Harry Potter: Was zur Zeit von Montaigne die Amadis-Romane waren, das sind heute die Harry Potter-Romane: Von der großen Masse mit Begeisterung gelesen, aber bald gegen eine andere Masche ausgewechselt. Montaigne hat die Amadis-Romane übrigens nicht gelesen und bei Don Quixote haben sie zu einem Verlust des Realitätsempfindens geführt!


    Vladimir Nabokov „Lolita“: Ein Roman, mit fast soviel Anspielungen wie „Ulysses“, aber bedeutend leichter zu lesen. Da der „Lolita-Komplex“ heute schon fast so sprichwörtlich geworden ist, wie der „Ödipus-Komplex“: gute Chancen.


    Steffi


    Also, Herr der Ringe, Harry Potter oder Ulysses ?


    War „Herr der Ringe“ nicht schon am verschwinden und wurde erst durch die Verfilmung wieder ins Leben gerufen? Hat aber Außenseiter-Chancen.


    Harry Potter (siehe unter Sandhofer)


    Ulysses: wenn Blooms-Day zum irischen Nationalfeiertag ernannt wird, mit Überlebenschancen, aber ansonsten zu anspruchsvoll um als „gelesener“ Klassiker zu Überleben.


    @SONJA
    Kafka! Proust! Joyce!


    Sicher, die drei gehören zu den Besten die im 20. Jahrh. geschrieben haben. Aber:
    Prousts „Recherche ....“: zu umfangreich; Joyce: zu anspruchsvoll; Kafka: könnte sein!


    Ich fasse mal alle Vorschläge (incl. meinen) zu einer einheitlichen
    NOMINIERUNG des Klassikerforums für die Wahl zum
    „Klassiker des Jahres 2500 aus dem 20. Jahrh.“ zusammen:

    1. Vladimir Nabokov: „Lolita“
    2. Gabriel Garcia Marquez: „Cien anos de soledad“
    3. Antoine de Saint-Exupéry: « Le petit Prince »
    4. Franz Kafka: « Erzählungen »


    Also ein Buch aus Nordamerika (englisch) von einem russischen Autor, ein Buch aus Südamerika (spanisch), eins aus Frankreich und eins aus Deutschland, das ist schon mal sehr breit gestreut und international und wenn wir dann noch „Herr der Ringe“ und „Clockwork Orange“ als Außenseiter ins Rennen schicken, .... ???


    Könnt Ihr damit leben? Ich hoffe aber, dass ihr eure Vorschläge noch etwas verteidigt! Oder mögt Ihr keine Diskussionen?


    Liebe Grüße und Danke fürs Mitmachen


    Hubert

  • Hallo zusammen!


    "Ein Buch, das nicht schon zu seiner Zeit ein großes Publikum findet, wird auch 500 Jahre später kein gelesener Klassiker sein" - Hmmm. Wenn Du "seine Zeit" 1-2 Jahrhunderte über das erste Erscheinen erstreckst, möchte ich Dir zustimmen. Ansonsten gäbe es Gegenbeispiele in beiden Richtungen: Quatsch, der bei seinem Ersterscheinen gehypet wird und gute Bücher, die erst nach Jahren entdeckt werden.


    "Haben Bücher, die Sandhofer nicht kennt eine Überlebenschance?" - Nein. *ggg*


    Amado. Doch, doch, glaube mir. Noch fehlen wirklich gute Übersetzungen. Aber das war bei Joyce genauso. 'Dona Flor...', 'Tieta'...


    García Márquez.: '100 Jahre Einsamkeit', 'Die Liebe in den Zeiten der Cholera'. Ich hätte auch noch Vargas Llosa nennen können ('La ciudad y los perros'), Isabell Allende ('De amor y de sombra'), Pablo Neruda...


    Interessanterweise fehlte Süskind auf unseren Listen.


    Felix Krull - Über die Qualität der einzelnen Werke Manns lässt sich trefflich streiten. Persönlich halte ich 'Krull' für sein bestes. Sprachlich auch am einfachsten zu übersetzen. Ein wichtiger Faktor! Der bekannteste deutschsprachige Autor in Brasilien? Goethe? Nein: Stefan Zweig. Weil er problemlos zu übersetzen ist....


    Harry Potter: Ich zitiere: "Ein Buch, das nicht schon zu seiner Zeit ein großes Publikum findet, wird auch 500 Jahre später kein gelesener Klassiker sein. Aber ohne einen gewissen Anspruch interessiert es später auch keinen mehr: Massenware gibt es immer wieder neue. Auch eine spannende Vita des Autors kann sehr hilfreich sein" - Potter und seine Autorin erfüllen Deine Ansprüche durchaus... *ggg*


    'Der kleine Prinz' - meiner Meinung nach zu simpel gestrickt, als dass er sich als GROSSES Buch über Jahrhunderte halten kann. Da hätte 'Vol de nuit' grössere Chancen.


    Kafka: Zu sehr sind seine Probleme die des Aussenseiters im orthodoxen jüdisch-deutschen Milieu zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dass er die Zeiten überdauern wird. Wahrscheinlich werden die Amerikaner überleben: Nord-, Mittel- und Süd.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo !


    Je mehr ich über dieses Thema nachdenke, desto weniger fällt mir ein Buch ein, dem ich wirklich ernsthaft Chancen geben würde. Durch das totale Üebrangebot an Büchern (lesenswerte und weniger lesenswerte) wird der Bekanntheitsgrad eines einzelnen immer geringer. Ich habe das Gefühl ein überlebensfähiges Buch wird sich bald nur noch über das Medium Film bzw. Marketing definieren. Leider werden doch immer mehr bekannte Bücher verfilmt (siehe Lolita, Herr der Ringe ...) und deren Interpretation damit vorweggenommen. Da man sie aber nicht selbst "erlebt" hat, gerät das Buch und dessen Aussagen in den Hintergrund.


    Oder sind für mich nur die Themen nicht spannend genug, da bereits aus den Medien hinreichend bekannt ? Wie war es zu Cervantes oder Goethes Zeiten ? Die schrieben über Dinge, Ereignisse, Gefühle über die sonst niemand geschrieben hat. Und das hat dann auch die "Welt" verändert bzw. einen Einfluß auf die Gesellschaft gezeigt. Ich zumindest kenne leider kein Buch, das das heute geschafft hätte - obwohl "Der kleine Prinz" es verdient hätte ...


    Vielleicht sind die Kontinente auch in ihrer Entwicklung zu weit entfernt, als dass es ein Buch geben könnte, das alle Völker gleichermaßen betrifft und berührt ?


    Also von mir kein definitives voting - vielleicht habe ich "es" einfach noch nicht gelesen !


    Obwohl "Ulysses" hat schon einen gewissen Mythos, ob das ausreicht ? Es muß es ja nicht jeder gelesen haben ...



    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen!
    Hallo Steffi!


    "Ich habe das Gefühl ein überlebensfähiges Buch wird sich bald nur noch über das Medium Film bzw. Marketing definieren." - Hmmm, glaube ich nicht. Vielleicht guckst Du zuviel Film und Fernsehen? (Oder ich zu wenig?)


    "Wie war es zu Cervantes oder Goethes Zeiten ? Die schrieben über Dinge, Ereignisse, Gefühle über die sonst niemand geschrieben hat. Und das hat dann auch die "Welt" verändert bzw. einen Einfluß auf die Gesellschaft gezeigt. Ich zumindest kenne leider kein Buch, das das heute geschafft hätte" - Über Cervantes weiss ich, ehrlich gesagt, zu wenig. Goethe? Nun, sein "Werther" hat in der "Welt" eine Selbstmordwelle ausgelöst. Wobei wir bei der Zahl der Opfer wahrscheinlich im 2-stelligen Bereich bleiben. Später? Er konnte weder die Französische Revolution, noch Napoleons Aufstieg und Fall irgendwie beeinflussen. Ein Buch des 20. Jahrhundert, das die Gesellschaft wirklich beeinflusst hat? "Mein Kampf". Sorry, klingt jetzt bösartig, ist aber so. Du erwartest meiner Ansicht nach von Literatur etwas, das sie nicht liefern kann.


    "Vielleicht sind die Kontinente auch in ihrer Entwicklung zu weit entfernt, als dass es ein Buch geben könnte, das alle Völker gleichermaßen betrifft und berührt ?" - Du verlangst ein bisschen viel; selbst Homer kann diesen Deinen Anspruch nicht erfüllen... Im übrigen sind wir Europäer des 21. Jh. m.E. von Homer viel weiter entfernt als von z.B. den zeitgenössischen lateinamerikanischen Autoren.


    "Obwohl "Ulysses" hat schon einen gewissen Mythos, ob das ausreicht ? Es muß es ja nicht jeder gelesen haben ..." - Mag sein. Ulysses' Mythos ist aber einerseits ein sekundärer, da von Homer abhängig, andererseits ein intellektueller, und drittens zu sehr von der Sprache abhängig, als dass er überleben könnte. Ein Werk, welches Jahrhunderte und Kontinente erobern will, muss übersetzbar sein. Warum haben wir alle Romanciers vorgeschlagen und keine Lyriker? Weil Lyrik zu sehr an die Sprache gebunden ist. Wer kennt heute noch die alt-römischen Lyriker, von denen Montaigne schwärmt?


    Abgesehen von der Sprache, halte ich daran fest, dass, was überdauern soll, die ganz grossen Gefühle und Gegensätze wie Liebe und Hass, Gut und Böse ausdrücken muss. Denn die sind, glaube ich, unabhängig von Zeit und Ort ein Kennzeichen jeder "Condition humaine".


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Ich bleibe bei meinem Vorschlag: Proust und Joyce und Kaffka. Von den anderen Vorschlägen lasse ich noch den Hesse durchgehen. Nicht nur Siddharta, auch Steppenwolf, Narziss ..., und Glasperlenspiel haben Chancen.


    Hubert
    Proust ist bei weitem nicht so umfangreich wie Balzacs Menschliche Komödie und auch die wird überleben (ist aber 19. Jahrhundert). Es kommt nicht auf den Umfang an, sondern auf die Qualität.
    Joyce ist bei weitem nicht so anspruchsvoll wie Dantes Göttliche Komödie und die wird seit dem 14. Jahrhundert gelesen.


    sandhofer
    Was haben Kaffkas "Verwandlung" oder "Bericht für eine Akademie" mit orthodoxem jüdisch-deutschem Milieu zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu schaffen. Das ist zeitlose Literatur. Isabell Allende ist doch dagegen "unterste Schublade"


    Grüsssssse Sonja

  • Hallo zusammen!
    Hallo Sonja!


    » Isabell Allende ist doch dagegen "unterste Schublade" « - Das musst du mir bitte nun belegen!


    Gruss


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    Vielen Dank allen, die sich weiter an der Diskussion beteiligt haben und hoffentlich weiter beteiligen!!!


    sandhofer:
    Amado. Doch, doch, glaube mir.


    Danke für den Tip, werde ich nochmals lesen.


    García Márquez.: '100 Jahre Einsamkeit', 'Die Liebe in den Zeiten der Cholera'. Ich hätte auch noch Vargas Llosa nennen können ('La ciudad y los perros'), Isabell Allende ('De amor y de sombra'), Pablo Neruda...


    Du scheinst ja ein Liebhaber der lateinamerikanischen Literatur zu sein? Wie findest Du meine These: „Es könnte sein, dass man das 20. Jahrh. einmal das Jahrhundert der lateinamerikanischen Literatur nennen wird (so wie heute ja schon das 19. Jahrh. als das Jahrhundert der russischen Literatur gilt)“.? Ich würde zu Deiner Aufzählung noch nennen: Octavio Paz und Alejo Carpentier!? Zweifel hätte ich bei Pablo Neruda: Nicht weil er schlecht wäre; Nein, aber als Lyriker und doch ausschließlich mit Problemen Südamerikas befasst? Isabel Allende: Liebe ich, seit ich sie bei einer Lesung in Frankfurt (Buchmesse) erlebt habe, würde aber das „Geisterhaus“ vor „Liebe und Schatten“ sehen?


    Harry Potter: einen gewissen Anspruch? eine spannende Vita des Autors?


    Wäre möglicherweise eine eigene Diskussion wert?


    Wahrscheinlich werden die Amerikaner überleben: Nord-, Mittel- und Süd.


    Diese Aussage hat mich von Dir etwas überrascht, in Erinnerung eines anderen Postings von Dir über (nord-)amerik. Literatur; muß ich aber nochmals nachlesen


    Steffi:
    Leider werden doch immer mehr bekannte Bücher verfilmt (siehe Lolita, Herr der Ringe ...)


    Wieso leider, habe ich nicht verstanden. ??? Meiner Meinung schaden Verfilmungen (die man auch nicht ansehen muß) einem guten Buch nicht.


    und deren Interpretation damit vorweggenommen.


    „Schuld und Sühne (Verbrechen und Strafe)“ wurde schon mehr als zehn Mal!!! verfilmt. Dies hat aber weder dem Buch, noch den Interpretationsmöglichkeiten geschadet. Oder?


    Vielleicht sind die Kontinente auch in ihrer Entwicklung zu weit entfernt, als dass es ein Buch geben könnte, das alle Völker gleichermaßen betrifft und berührt ?


    „Siddharta“ von Hesse, beweist aber doch das Gegenteil.??


    Obwohl "Ulysses" hat schon einen gewissen Mythos


    :breitgrins: Höre ich da einen „Ulysses“-Fan heranwachsen? :zwinker:


    @Sonja
    Proust ist bei weitem nicht so umfangreich wie Balzacs Menschliche Komödie und auch die wird überleben (ist aber 19. Jahrhundert). Es kommt nicht auf den Umfang, sondern auf die Qualität an.


    Die Qualität bei Prousts „recherche ...“ bestreite ich nicht. Aber kennst Du viele, die das Werk schon komplett gelesen haben. Wahrscheinlich wird man da bei Joyce(-lesern) noch eher fündig.


    Joyce ist bei weitem nicht so anspruchsvoll wie Dantes Göttliche Komödie und die wird seit dem 14. Jahrundert gelesen.


    Interessant, dass die Damen eher für Joyce stimmen, die Herren eher dagegen. Oder habe ich da was falsch verstanden?


    Liebe Grüsse


    Hubert


    PS: Sollte ich jetzt irgend welchen Mist geschrieben haben oder irgend jemanden verärgert haben: ich war den ganzen Tag wandern (bei der Hitze) und bin ziemlich kaputt - wenn das als Entschuldigung zählt

  • Hallo zusammen!
    Hallo Hubert!


    "Du scheinst ja ein Liebhaber der lateinamerikanischen Literatur zu sein?" - Ja. Da gibt es Talente, die den Weg nach Europa (hoffentlich: noch!) nicht geschafft haben. Paz und Carpentier füge ich gern noch hinzu...


    Was Nord-Amerika betrifft: Ich sprach da von der zeitgenössischen Literatur. Hemingway und Faulkner (die Lehrmeister z.B. auch von García Márquez!) haben Werke von hoher Qualität verfasst. Kerouac als Vertreter der Beat-Generation gehörte auch irgendwo unter die ersten 50. Dos Passos ("U.S.A.'') ist ebenfalls ein Stück Weltliteratur des 20. Jahrhunderts.


    "Die Qualität bei Prousts „recherche ...“ bestreite ich nicht. Aber kennst Du viele, die das Werk schon komplett gelesen haben. Wahrscheinlich wird man da bei Joyce(-lesern) noch eher fündig." - Im Gegensatz zu 'Finnegans Wake' habe ich Proust tatsächlich von Anfang bis Ende gelesen. Da letztlich zu sehr mit den Problemen des Indiividuums Proust und der letzten Jahrhundertwende verknüpft, gebe ich ihm allerdings keine Chance auf ein 500-jähriges Überleben. Genausowenig wie Kafka oder Joyce. Obwohl ich ihn über beide stelle und zu den Jahrhundert-Autoren zähle. Aber das ist Klopstock auch. Was bedeutete Klopstock nicht noch für Goehte - und wer hat heute noch seinen 'Messias' von A-Z gelesen? (Bevor jemand fragt: Ja, ich habe es gelesen. Und nicht bereut. Aber es ist ganz eindeutig ein Werk, das in der heutigen Zeit keine Chance hat.)


    Grüsse


    Sandhofer


    PS. Diese Auseinandersetzung mit den väterlichen Normen, das letztliche Scheitern daran, den Ansprüchen des Vaters Genüge zu tun können bei Kafka ist für mich schon sehr stark mit der speziellen Situation des konservativen deutschen Judentums in Prag vor dem 1. Weltkrieg verbunden.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo !


    Hubert:
    Bezüglich der Medien fürchte ich, dass erstens viele Menschen sich lieber einen Film anschauen als das Buch zu lesen und zweitens die wirklich guten Bücher nicht bekannt werden, da Filme ja meistens nach marktpolitischen Gesichtspunkten gemacht werden. In den 2 größeren Buchhandlungen hier bekommt man z.B. so gut wie keine Klassiker; Belletristik und Buch zum Film jedoch en masse ! Für die wenig Interessierten keine Chance, nicht promotete Bücher zu lesen ! Bei den kleinen Buchhandlungen ist man auf die Nische bzw. Geschmack des Inhabers angewiesen. Und drittens wissen wir doch alle, dass die meisten Filme den Inhalt verfremden bzw. verkürzen. Außerdem will ich am Ende meine Phantasie und nicht die Phantasie des Drehbuchautors und Regisseurs spüren ! Anschauen tue ich mir sie daher meistens nicht !


    sandhofer schrieb:

    Zitat


    Ein Buch des 20. Jahrhundert, das die Gesellschaft wirklich beeinflusst hat? "Mein Kampf". Sorry, klingt jetzt bösartig, ist aber so. Du erwartest meiner Ansicht nach von Literatur etwas, das sie nicht liefern kann.


    Ich bin kein Literaturwissenschaftler, aber ich denke schon, dass Literatur die Gesellschaft verändert. Oder meinst du, das Literatur die Veränderungen der Gesellschaft nur wiederspiegelt ? Homer keinen Einfluß auf die Entwicklung der westlichen Kultur hatte ? Mir fällt z.B. Gerhart Hauptmann ein oder Brecht, auch Fontane. Da ich gerade Thomas Bernhards "Holzfällen" lese, ein genaues Abbild der Kunstszene :smile:


    An Literatur, die ich weiterempfehlen kann, habe ich andere Ansprüche. Nicht das, was ich persönlich gut finde, wird diese Zeit überdauern (schade!) sondern ... ich bin mir über die Kriterien, die solch ein Buch haben müsste immer noch nicht klar und habe deshalb oben versucht, einige aufzustellen.


    sandhofer schrieb:

    Zitat

    Abgesehen von der Sprache, halte ich daran fest, dass, was überdauern soll, die ganz grossen Gefühle und Gegensätze wie Liebe und Hass, Gut und Böse ausdrücken muss.


    Könnte vielleicht wirklich das wichtigste Kriterium sein.


    LG von Steffi

  • Hallo zusammen


    mit Interesse verfolge ich eure Diskussion und habe eine Frage, auf die mich Sandhofers Satz über Klopstock brachte.


    Es gibt doch immer wieder Zeiten der Wiederentdeckung von Klassikern, und wenn andere Medien mitmischen, kann es gerade zu boomen (was ich aber auch schade finde, das man einen Klassiker erst durch das visuelle wahrnimmt, das nur am Rande), wie z.B. Oscar Wilde, Shakespeare, Jane Austen, u.a.


    Deswegen finde ich es schwer voraus zusagen, dieser oder jener wird nicht überleben, dafür sind die Medien, die sich Klassiker zur Vermarktung benutzen einfach zu unberechenbar. Oder was meint ihr?


    und wer weiß, vielleicht wird ja Lyrik irgendwann wieder mehr Beachtung geschenkt, oder ist sie bereits totgesagt?


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen!


    Steffi
    "In den 2 größeren Buchhandlungen hier bekommt man z.B. so gut wie keine Klassiker; Belletristik und Buch zum Film jedoch en masse !" - Dass der Geschmack der Masse gerade die grossen Buchhandlungen dominiert (und die kleinen dabei eingehen) war immer schon der Fall. Welche Mühe hatte nicht z.B. Schiller, seine Werke zu verkaufen...


    "Ich bin kein Literaturwissenschaftler, aber ich denke schon, dass Literatur die Gesellschaft verändert. Oder meinst du, das Literatur die Veränderungen der Gesellschaft nur wiederspiegelt ? Homer keinen Einfluß auf die Entwicklung der westlichen Kultur hatte ?" - Je älter ich werde, desto weniger glaube ich an einen Einfluss von Kunst auf die Gesellschaft. Wie sonst hätte das Volk, das Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin vervorbrachte, einem Adolf Hitler derart folgen können, wie es geschah??? Das Volk des Dante und Petrarca einem Mussolini??? Das Volk des Cervantes einem Franco??? Das Volk des Camoëns einem Salazar??? Das Volk eines Tolstoj und Dostojewskij einem Stalin??? Das Volk des Homer, Sophokles, Sokrates, Platon, Aristoteles ihren Tyrannen???


    "Mir fällt z.B. Gerhart Hauptmann ein oder Brecht, auch Fontane." - Kannst Du mir erklären, was Du meinst? Ich versteh jetzt wirklichnicht.


    JMaria
    "Es gibt doch immer wieder Zeiten der Wiederentdeckung von Klassikern, und wenn andere Medien mitmischen, kann es gerade zu boomen (was ich aber auch schade finde, das man einen Klassiker erst durch das visuelle wahrnimmt, das nur am Rande), wie z.B. Oscar Wilde, Shakespeare, Jane Austen, u.a. " - Ich glaube ja nun, dass nicht Hollywood diese Namen wieder ins Gespräch gebracht hat, ausser vielleicht bei Leuten, die schon stolz darauf sind, wenn sie 2 Seiten von Effenbohlens gelesen haben. Ich glaube vielmehr, dass Hollywood diese Autoren verfilmt hat, weil sie noch immer im Gespräch waren. Es gab und gibt schon lange vor den Verfilmenungen z.B. billige Ausgaben für Jedermann im englisch-amerikanischen Raum von Austen, Brontë, Dickens...


    Warum wird Chaucer immer wieder hervorgeholt und (der um einiges jüngere!) John Donne bleibt ein Name für Spezialisten? Weil der eine ein Klassiker ist, der andere bestenfalls eine Zeitlang einer war. Um im deutschen Sprachraum zu bleiben: Ältere Semester mögen sich vielleicht an eine Fernseh-Serie erinnern, zur Zeit, als es nur Öffentlich-Rechtliches gab: "Rinaldo Rinaldini". Wird das Buch seither wieder gelesen? Nein. Verständlich: Obwohl zur Goethe-Zeit ein Bestseller (um einiges better selling als Goethes Werke!) - der sentimental-larmoyante Held entspricht zwar dem ausgehenden 18. und dem 19. Jahrhundert, heute ist er ungeniessbar...


    Ich bin, was die Verbreitung und den Einfluss von Literatur auf die Leute betrifft, ein unverbesserlicher Pessimist. Wenn ich meinen Alltag so anschaue, und die Mussestunden, wo ich ein Buch hervornehme, mal beiseite lasse, muss ich sagen, dass den grössten Einfluss auf mein Leben und die Gesellschaft um mich keine Literaten und Künstler haben, sondern - jeder in seiner Weise - Figuren wie Albert Einstein, Adolf Hitler und Bill Gates. Und das ist nicht ironisch gemeint.... Weil andererseits glaube ich daran, dass sich Qualität letztlich doch durchsetzt. Aber Qualität (auf die Gefahr hin, als unmöglicher Zyniker verschrien zu werden), Qualität ist nichts für die Masse. So ist es auch mit Kultur, die nicht McDonald's meint. (Und ich weiss, wovon ich spreche, weil ich mindesten 1x wöchentlich dort esse. Auch ohne Ironie. Denn erst die Mischung macht's. Deswegen rege ich mich über Hollywood-Verfilmungen auch nicht mehr auf. Ich führe sie mir aber auch nicht zu Gemüte. Ausser "Harry Potter" und "Herr der Ringe"...)


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus