November 2009: Eugène Sue - Die Geheimnisse von Paris

  • Nach einem langen Arbeitstag bin ich erst ein Kapitel weiter, nun bei Kapitel 5. Ich bin wieder einmal froh, dass ich auf Französisch lesen kann, "die Schallerin" würde ich wohl nicht lange aushalten. Auch der sogenannte "Tschurimann" (Chourineur) hört sich ganz anders an, nachdem in seiner Lebenserzählung das Verb chouriner x-mal vorkam und richtiggehend zu klingen begann.


    Ach - soooo viel besser ist's nun auf Französisch auch nicht. Ich bin in Kapitel 6. Ja, Sue versteht es, Spannung aufzubauen. Aber so wirklich hin und weg bin ich (noch?) nicht ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Vorsicht! Ich kenne nun die Dialoge bei Sue leider (noch) nicht, aber die Idee, dass man "im Millieu" besonders banal, simpel oder einfach spricht, ist definitiv falsch. Das ist mitunter extrem kompliziert und die Sprecher bemerken sofort einen falschen Tonfall. Da gibt es eine eigene Grammatik und eigene Semantik. Und die Sprachgemeinschaft kann das sehr genau unterscheiden. Simpel: ist das nicht, nur: anders. Also jedenfalls nicht unter grammatischen Gesichtspunkten 8-).


    Es mag schon sein, dass mit wenigen Worten viel gesagt wird und nicht Ausgesprochenes große Bedeutung hat. Ich möchte den Herrschaften auch keineswegs ihren besonderen Tonfall oder eigene Semantik absprechen. Mir ging es eher um die Thematik der Gespräche. Bis Seite 70 ist in dieser Hinsicht noch nicht so viel passiert, der rote Faden kommt erst langsam in Sicht. Davon abgesehen glaube ich aber trotzdem, dass zur damaligen Zeit die schwer arbeitende Bevölkerungsschicht abends nicht ins Wirtshaus gegangen ist, um hoch geistige Gespräche zu führen. Da ging es zum Großteil sicher um nichts anderes als Alltagsprobleme und -ärgernisse.


    Gruß
    Doris


  • Davon abgesehen glaube ich aber trotzdem, dass zur damaligen Zeit die schwer arbeitende Bevölkerungsschicht abends nicht ins Wirtshaus gegangen ist, um hoch geistige Gespräche zu führen. Da ging es zum Großteil sicher um nichts anderes als Alltagsprobleme und -ärgernisse.


    Das ist heute nicht anders. In meiner Stammkneipe rede ich jedenfalls fast nie über Literatur, sondern über Fußball, Pferderennen, ein wenig Politik und privaten Kram. Stammtischgespräche halt.


    Aber das hat mit Sue ja jetzt rein gar nichts zu tun, denke ich mal, und bin auch schon wieder ruhig 8-)

  • Unter Eugène Francois Vidocq, dem ehemals kriminellen (ersten) Detektiv, Begründer und Direktor der Sûreté Nationale, der Schriftsteller wie Hugo und Balzac inspirierte und auch als Vorbild für Sues Rodolphe de Gerolstein gilt, ist 1836 ein Dictionnaire d'Argot herausgekommen, das über die Vidocq-Wikipedia-Seite einsehbar ist! Man findet einige Sue'sche Argot-Ausdrücke (z.B. chouriner), aber viele auch nicht! Die seltsamen, aber echten Rotwelsch-Ausdrücke (danke Wolf!) der deutschen Übersetzung entsprechen wohl der etwas krampfhaft um Authentizität bemühten Verwendung von Argot im Original.
    Meine Mystères sind immer noch nicht angekommen. Ich schmökere derweil im E-Text.

  • Wenn es so viele Zweifel und Mühsal gibt, warum lassen wir die Runde nicht einfach platzen?


    Ich werde den Roman jedenfalls zu Ende lesen, solange keine Schicksalsschläge dazwischen kommen.


  • Aber so wirklich hin und weg bin ich (noch?) nicht ...



    Also wenn ich das so lese, frage ich mich, ob ich überhaupt anfangen soll ;-)



    Ich habe auch noch nicht angefangen, würde ab morgen dazu kommen, aber wenn ich die Kommentare hier so lese, bin ich noch am Zögern.


    Ja, was erwartet ihr denn? Die Geheimnisse sind ein Feuilleton-Fortsetzungsroman mit allen genretypischen Merkmalen. Ein Trivialroman reinsten Wassers, ein Schmachtfetzen mit melodramatischen, moritatenähnlichen Episoden, unglaublichsten Zufällen, edlen und abgrundtief bösen Menschen, ehrbaren Dirnen, diabolischen Advokaten, haarsträubenden Intrigen... Er beinhaltet naive Sozialanklage und zweifelhafte Lösungsvorschläge, lässt wohltätige entsagende Damen, dem Wahnsinn verfallene Familienväter usw. auftreten.
    All das hat man schon geahnt und es bestätigt sich beim Lesen schon der ersten Kapitel.
    Mit seinem exorbitanten Erfolg und seiner enormen Wirkungsgeschichte gehört der Roman zum kulturellen Fundus Frankreichs, ist Allgemeingut, fast Folklore, aber auch ein Phänomen der Weltliteratur und aus all diesen Gründen für mich interessant und lesenswert.
    Ich hoffe, in der Runde noch einiges über den Einfluss dieses Romans auf Hugo, Balzac, Dickens, Dostojewski, May , den Kriminalroman und so fort zu erfahren.
    :winken:

  • Na also, da habe ich gerade die ersten, vllt. 30 Seiten gelesen und schon soll es vorbei sein.
    Wäre aus meiner Sicht schade.


    Die Frage nach der Erwartungshaltung ist in der Tat berechtigt.
    Mir scheint, als ob "die" "Klassikleser" immer die Erwartung der tiefgründigen (?) Literatur haben? :zwinker:


    Gruß
    josmar

  • Na also, da habe ich gerade die ersten, vllt. 30 Seiten gelesen und schon soll es vorbei sein.


    Wie kommst Du denn auf diese Idee? Da ist gar nix vorbei. Ich werde dieses Buch zu Ende lesen und auch weiter in dieser Leserunde meine Eindrücke schreiben.


    Es ist aber halt so, dass - so ungefähr bis und mit Kapitel 4 - Sue m.M.n. einen Fehlstart hinlegt. Ich bin jetzt bei Kapitel 9, und so langsam scheint er in die Gänge zu kommen.


    Die Frage nach der Erwartungshaltung ist in der Tat berechtigt.
    Mir scheint, als ob "die" "Klassikleser" immer die Erwartung der tiefgründigen (?) Literatur haben? :zwinker:


    Nein. Ich jedenfalls nicht. Nicht, wenn ich Sue lese. Wie Gontscharow sagt:


    Ja, was erwartet ihr denn? Die Geheimnisse sind ein Feuilleton-Fortsetzungsroman mit allen genretypischen Merkmalen.


    Und auch dem Folgenden stimme ich völlig zu. Nur, was ich sagen wollte: Sue gelingt es in den ersten vier Kapiteln eben gerade nicht, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Anstelle einer Einleitung, die schon Geheimnisvolles ahnen lässt, bringt er eine Schlägerei mit anschliessendem Umtrunk und völlig spannungsloser und unmotivierter Plauderei. Wenn man dagegen Hugos Les Misérables setzt, wo gleich zu Beginn ein geheimnisvoller Unbekannter auftaucht - das ist ganz anders. Auch Hugo strapaziert den lieben Onkel Zufall bis zum Geht-nicht-mehr, seien wir ehrlich. Nur dieser Beginn und einige seiner Digressionen reissen Les Misérables heraus. Sue beginnt ab Kapitel 5, ganz langsam, eine Spannung und Charakterisierung der Figuren aufzubauen. (Der Chourineur hätte mich, auch ohne das Vorwort, an Hugos Jean Valjean erinnert, dies zum Thema "Einflüsse".)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Im Laufe des ersten Bands verlagert Sue das Zentrum seiner Erzählung aufs Land. Ein, aus uns bekannten Figuren bestehendes Trio Infernale lässt uns besorgt sein, was die meisten rechtschaffenen Leute und unsere Marienblume betrifft. Der Wolf stellt Rotkäppchen nach, und uns gefriert das Blut in den Adern. „Die Sonne sank am Horizont. Die Ebene war still und öde.“ Böses geschieht, und die Nacht wird lang und voll Grauen sein. Wird die Sonne wieder aufgehen? Seit Popper wissen wir: es lässt sich nur vermuten.


    Dem zeitungslesenden Publikum wird genügend Stoff geboten das Einschlafen zu erschweren, und ich kann mir denken, dass die einzelnen Folgen damals wirkten, wie bei uns ein Straßenfeger im TV. Er schafft es sogar uns Szenen vorzuführen, die an die antiken Tragödie erinnern.


    Nebenbei entwickelt er Ansätze wie man den Willigen aus dem Lumpenproletariat helfen könnte, die mich etwas an die Vorstellungen von Saint-Simon erinnern. Aufgefallen ist mir ebenfalls, wie er bemüht ist Neger (in dem Beispiel Davids, des Arztes) als vollwertige Menschen vorzustellen. Das dürfte zu dieser Zeit eine recht ungewöhnliche Haltung gewesen sein. Außerdem zieht er, für mich nicht ganz verständlich, die religiöse Karte. Mit einer Ausnahme kommen die Pfaffen bei ihm gut weg, wenigstens so weit ich nun gelesen habe und zur Läuterung gehören immer katholische Unterweisungen. Unser Dandy scheint also den Klerikalen den Vorzug zu geben.


    Noch ein Zitat: „Die ersten Regungen ungebildeter Naturen sind immer ungestüm...im Guten wie im Bösen...“



    Auf wenn können wir in der Leserunde noch zählen?

  • Auf wenn können wir in der Leserunde noch zählen?


    Auf mich auf jeden Fall. Zwar passiert für meinen Geschmack zu vieles zu schnell, aber nachdem ich mich auf den Stil eingestellt habe, werde ich langsam mit der Geschichte warm. Mich interessiert das soziale Umfeld dieser Zeit, auch wenn ich nie sicher weiß, was der Wirklichkeit entspricht und was erdichtet ist. Den Tschurimann scheint ein vielschichtiger Bursche zu sein; dass unter seiner harten Schale ein halbwegs weicher Kern steckt, klang schon in den ersten Kapiteln an. Ich bin gespannt zu entdecken, was noch in ihm steckt. Auch Rudolf ist sehr mysteriös. Seine Beweggründe, der Schallerin zu helfen, müssen noch aufgedeckt werden und da er die zentrale Gestalt der Erzählung ist, gibt es sicher noch mehr zu enthüllen.


    Grüße
    Doris


  • Auf wenn können wir in der Leserunde noch zählen?


    Ich wollte ja auch mitlesen und täte ich dies, so mit der offenbar gekürzten Ausgabe "mit zeitgenössischen Abbildungen von DAUMIER und anderen" aus dem Verlag Ralph Suchier, Wiesbaden, Copyright (c) ohne Jahresangabe, beginnend auf Seite 5, endend mit dem Wort "ENDE" auf Seite 743, eingeteilt in römisch durchnummerierten CXLVIII Kapiteln, von denen das "erste" keine Nummer trägt und das "zweite" ab Seite 15 die Nummer III - also mit irgendeiner anonymen Ramschausgabe in Hardcover ohne Vor- und Nachwort, von einem ungenannt bleibenden Übersetzer. Gekürzt ist nicht nur die Ausgabe, sondern auch das Rotwelsch: bei mir heißt der Tschurimann einfach nur Schurimann, was phonetisch vielleicht sogar richtiger ist.


    Jedoch, euer Lesetempo ist (wie immer) viel zu hoch für mich, mit Kapitel III kann ich erst am Wochenende wieder weitermachen - wenn ich nicht erst noch die letzten paar Seiten vom Gutzkow lese, mit dem ich mir so viel Zeit gelassen habe wie notgedrungen die damaligen Original-Leser :-)


    Gibt es irgendwo einen Stadtplan von Paris aus der Zeit, auf dem man das Geschehen verfolgen, bietet die Cité touristische Rundgänge, auf denen man den Geheimnissen von Paris auf die Spur kommen kann?

  • Gibt es irgendwo einen Stadtplan von Paris aus der Zeit, auf dem man das Geschehen verfolgen, bietet die Cité touristische Rundgänge, auf denen man den Geheimnissen von Paris auf die Spur kommen kann?


    In der kommentierten französischen Ausgabe ist eine zeitgenössischer Plan abgedruckt. Allerdings verkleinert. Wo und wie das Original abzuholen wäre, weiss ich nicht.


    Ich bin jetzt in Kapitel 11. Und werde auch nicht sehr schnell vorankommen.


    xenophanes: "Einer der besten Romane des 19. Jahrhunderts"? Hmmm ... wer kommt denn auf diese Idee?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Ich lese auch noch, nur bin ich im Moment froh, wenn die Zeit schon mal zum Lesen reicht, geschweige denn zum Nachdenken und Schreiben!
    Ich werde auch auf alle Fälle weiterlesen, denn

    Zitat von "gontscharow"

    Mit seinem exorbitanten Erfolg und seiner enormen Wirkungsgeschichte gehört der Roman zum kulturellen Fundus Frankreichs, ist Allgemeingut, fast Folklore, aber auch ein Phänomen der Weltliteratur und aus all diesen Gründen für mich interessant und lesenswert.
    Ich hoffe, in der Runde noch einiges über den Einfluss dieses Romans auf Hugo, Balzac, Dickens, Dostojewski, May , den Kriminalroman und so fort zu erfahren.

    Dem schliesse ich mich ganz und gar an, Danke Gontscharow, Du hast das schneller und besser formuliert als ich es gekonnt hätte.
    Mich interessieren auch die Einflüsse, es muss ja nach dem Roman eine echt Misterimanie gegeben haben. Der Erfolg war wohl ähnlich wie heute Harry Potter, wobei ich die Gründe bei Sue wesentlich besser nachvollziehen kann.


    Zitat von "sandhofer"

    Es ist aber halt so, dass - so ungefähr bis und mit Kapitel 4 - Sue m.M.n. einen Fehlstart hinlegt. Ich bin jetzt bei Kapitel 9, und so langsam scheint er in die Gänge zu kommen.

    Möglicherweise war Sues Absicht, mit den beiden langen und persönlichen Lebensbeschreibung die Figur den Lesern als Identifikationsfiguren nahezubringen. Idealerweise eine männliche und eine weibliche. Und die Schlägerei hatte vielleicht eine ähnliche Wirkung wie heute die, wie nennt man das, "Vorspanne?", bei Filmen und TV-Serien.


    xenophanes: "Einer der besten Romane des 19. Jahrhunderts"? Hmmm ... wer kommt denn auf diese Idee?


    Ganz einfach: Erfolgreich = gut :zwinker:

  • Nein. :breitgrins:
    [hr]
    Übrigens hat dieser Roman nach noch nicht mal einer Woche bereits mehr Beiträge erzielt als die Leserunde zu Goethe oder die zu Musils Mann ohne Eigenschaften ... :clown:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus