Schöpferisches Leiden

  • Entschuldigt meine niveaulose Frage, vor allem im Vergleich mit der "[url=http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,2770.msg34203.html#msg34203]nebenan[/url]" stattfindenden Diskussion über den "Mann ohne Eigenschaften" muss dieser Ordner etwas einfältig erscheinen. Und ich erinnere mich an Melanchthons Klage darüber, dass dumme Theologie-Studenten nur ein Gespür für pietätlose Probleme haben.


    Aber beim Lesen von Thomas Manns "Doktor Faustus" machte mich eine Tatsache nachdenklich, nämlich die, dass sich der fiktive Komponist Adrian Leverkühn ganz bewusst eine Krankheit zuzieht und sie dann auch aufrecht erhält, weil ihm dieses Leiden schöpferisch erscheint. Es erinnerte mich an einen hiesigen Beitrag von Roquairol, worin er sagte, dass Rilke 1911 von einer Psychotherapie Abstand nahm, weil dieser meinte, seine Neurosen mache ihn literarisch kreativ.


    Auch erinnerte mich dieser Gedanke an Nietzsche, von dem ich gelesen habe, dass er eine strenge Diät gelebt habte, um so besser philosophieren zu können...


    Meine Frage lautet kurz: Welche anderen Beispiele und näheren Umstände gibt es zu diesem bewussten "schöpferischen Leiden"?


    Gruß


  • Welche anderen Beispiele und näheren Umstände gibt es zu diesem bewussten "schöpferischen Leiden"?


    Lieber Knabe,


    spontan fällt mir ein weiteres Stück von Thomas Mann ein: "Tristan". Schöpfung durch Leiden scheint mir ein ausgesprochenes Décadence-Motiv zu sein, was aber nichts daran ändert, dass es medizinisch unhaltbar sein dürfte, von einer "Genialisierung durch Krankheit" zu sprechen.


    LG


    Tom

  • Nietzsche schrieb: "Der Leidendste verlangt am tiefsten nach Schönheit - er e r z e u g t sie." (Nachlass, Band 12, S. 115)
    Nur aus Schmerz wird Schönheit, davon bin ich auch überzeugt. Deshalb denke ich sogar, ist die zeitgenössische deutsche Literatur so seicht, sie leiden nicht wirklich, folglich können sie nichts Bedeutendes schaffen.

  • Das Leiden als Kategorie der Edlen findet man, wo sonst, am reinsten bei Th. Mann. Siehe nur die gepflegte Hypochondrie des Hans Castorp im Zauberberg.


    Nur, scardanelli, Deine Anmerkung scheint mir doch etwas weit zu gehen. Woran, wenn nicht unter gekränkten Eitelkeiten, litt der geheime Rat von Goethe? Wieland und Lessing hatten ihr geregeltes Auskommen, Tieck litt in der Obhut seines Mäzens keine Not und ansonsten nur am Zipperlein; Schillers Schwindsucht dürfte ihm eher hinderlich als nützlich gewesen sein. Swift war wohlbestallter anglikanischer Geistlicher, Fielding erfolgreicher Bühnenautor und nebenher Advokat (oder umgekehrt). Melville wurde in der wachsenden materiellen Not nicht produktiv, sondern stumm.


    In der Musik? Schubert einerseits, Bach andererseits...


    Den mittellosen Huster als Prototyp des schöpferischen Menschen halte ich für eine romantische Verklärung. Oder anders ausgedrückt: die Künstlersozialversicherung verhindert keine Genies.


    Grüße,


    Gronauer

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()

  • Leiden ist immer subjektiv. Weißt du, wie sehr Goethe unter seinen mehr oder weniger marginalen Einschränkungen litt, wie sehr vielleicht nicht? Wer kann das bewerten außer der Leidende selbst? Gustave Flaubert schrieb einmal: Ich glaube, dass die Menschheit nur ein Ziel hat: leiden.
    Insofern hätte zumindest jede/r die Chance, Großes zu leisten (die meisten nutzen sie nur nicht). :zwinker:

  • Mir fiele als Ur-Vieh des Leidens der Hl. Antonius ein, der sich freiwillig in die Wüste zurückzog, um dort den Herrn zu finden. Und damit das Leiden. Von ihm ausgehend die Säulenheiligen und alles, was in diese Richtung geht. Eigentlich müsste man bei den Leidensfreudigen noch weiter zurückgehen auf die Märtyrer, tja und im Grunde auf Jesus daselbst, der seine Kreuzigung mehr oder weniger freiwillig auf sich nahm.


    Ein anderer berühmte Leidender war Peregrinus, über dessen Scheinheiligkeit es eine berühmte Geschichte von Lukian gibt.


    Würde man Wittgenstein dazu zählen wollen, der sein gesamtes Erbe verschenkt und sich als Klostergärtner verdingt hat?


    Andere Leidende findet man bei den Geißlern; Mystiker wie Heinrich Seuse haben sich bis zur Selbstauslöschung freiwillig Leiden unterzogen, wohl in Nachahmung der alten Märtyrer und Wüstenväter.


    Und wenn ich dann ein bisschen frivol werden darf: Der Marquis de Sade hat sich ins Gefängnis sog. Godmichets bringen lassen von einem Umfang, die ihm kaum Lust, sondern nur noch Leid zugefügt haben. Auch wird berichtet, dass die Mauern seiner Gefängniszelle rot von Blut waren. Was mich natürlich sofort zu Leopold v. Sacher-Masoch führt...

  • Hrm, eine gute Auflistung von (freiwillig) Leidenden, aber sind das auch Beispiele für (künstlerisch) schöpferische Leiden? Ich weiß nicht, ob Wittgenstein mit der Ablehnung seines Erbteils beabsichtigt hat, dadurch kreativer zu werden. Und litt er überhaupt darunter?



    Mir fiele als Ur-Vieh des Leidens der Hl. Antonius ein, der sich freiwillig in die Wüste zurückzog, um dort den Herrn zu finden. Und damit das Leiden. Von ihm ausgehend die Säulenheiligen und alles, was in diese Richtung geht. Eigentlich müsste man bei den Leidensfreudigen noch weiter zurückgehen auf die Märtyrer, tja und im Grunde auf Jesus daselbst, der seine Kreuzigung mehr oder weniger freiwillig auf sich nahm.


    Georg Büchner soll auf dem Sterbelager diese Worte gesprochen haben:


    "Wir haben der Schmerzen nicht zuviel, wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir zu Gott ein."



    Scardanelli -
    Gerade diese These machte mich zuerst sehr nachdenklich. Es scheint beim Lesen der Expressionisten und der Moderne (wir Sir Thomas erwähnte) augenscheinlich, dass diese Dichter viel Schmerz verspürten. Sogar Morgensterns Tagebücher ("Stufen") sind tieftraurig. Ich nehme an, dass das meiste Leid von den politischen Umständen herrühren, mit dem langsamen Untergang der Monarchie, mit der mehr oder weniger spürbaren Verachtung des Individuums usw., doch sollte man wohl zur genauen Analyse gute Geschichtskenntnisse besitzen. Wenn ich aber weiter gehe, so frage ich mich doch: Entstanden "Wilhelm Meister Lehrjahre", um bei Goethe zu bleiben, aus Schmerz? Oder die Gessner'schen Idyllen? Gessner selbst hatte ein so idyllisches Leben! Freilich haben bestimmt viele Idylliker wie Voß ihre paradiesischen Zustände als bewussten Kontrast zur miserablen Wirklichkeit dargestellt; aber wie muss das bei Gessner gewesen sein? Er scheint nicht sehr gelitten zu haben.


    Da fällt mir was sehr Gutes ein. Ich meine mich zu erinnern, dass Schiller die literarische Arbeit psychologisch analysiert hat, nämlich in Über naive und sentimentalische Dichtung. Auch das sollte ich irgendwann lesen. Setzt sich Schiller darin mit diesem Thema auch genauer auseinander?


    Und ... verzeiht meine unerträglichen Assoziationen, aber noch etwas fällt mir von Clemens Brentano ein, der ein wenig betrübt darüber war, dass seine Bekannte Karoline von Günderrode Gedichte schrieb:


    "Traurig werde ich oft, wenn ich einen neuen Schriftsteller auftreten sehe, denn es ist ein Beweis, daß die Menschen keine Freunde mehr haben, und jeder sich an das Publikum wenden muß."


    Gruß


  • (künstlerisch) schöpferische Leiden?


    Gefragt war nach schöpferischem Leiden; das "künstlerisch" habe ich wohl überlesen. Und da sehe ich die Wüstenheiligen schon in dieser Richtung: sie wollten ja ihr Heil erreichen, also gewissermaßen sich selbst erschaffen. Und sie wurden mit der Errichtung des Mönchtums auch schöperfisch tätig. Ich sehe es noch stärker bei Leuten wie Seuse, die ihr selbstzugefügtes Leid als Durchgang betrachteten und daraus ihre mystische Lehre bezogen.


    Bei Wittgenstein ist es etwas schwieriger. Als Lehrer in Oberösterreich hat er sich halb bewusst selbst-kasteit, was die Schüler durch eigenes Leid auch spüren durften. Inwieweit er das für sich als schöpferische Phase gesehen hat? (Für die Kinder wohl schon, denn er wollte ihnen Kultur beibringen.) Wohl eher nicht, sondern als Abwehr seines Leidens, stand er doch in dieser Zeit kurz vor dem Selbstmord, wie er in einem Brief schreibt. Ähnlich sehe ich Nietzsche. Der wollte seinem Leid entfliehen nach Italien, weg von seinem Ekel an der Kultur, hin zu den schönen Jungs und in die Einsamkeit. Ich glaube nicht, dass N. leiden wollte, vielmehr hat er sich immer wieder über seine Kopfschmerzen usw. beklagt.


    Was Sade betrifft: da sehe ich eine klare künstlerische Orientierung, die sich aus seiner sexuellen Orientierung zwanglos ergibt.


    Die anderen "Leidenden" wie Goethe, Mann usw... hmm. Sicher hat Leiden einen subjektiven Faktor, wie scardanelli schreibt. Aber darf man wirklich einen Hypochonder mit einem Menschen auf der Folterbank vergleichen?


    Eine Roman-Leidende fällt mir ein, die ihr Leiden für ihre Kunst für notwendig hält: Jene Mrs. Price aus Maughams On Human Bondage.

  • Zum Leiden passt vielleicht ganz gut dieses Gedicht aus Robert Burton, Anatomie der Melancholie:


  • Wie immer muss man sicher differenzieren; nicht jedes Leiden führt automatisch zu kreativen Prozessen und nicht jedes kreative Ergebnis setzt unbedingt einen wie auch immer gearteten Leidensprozess voraus. Aber das Merkmal unserer Species ist es doch, oft aus leidvollen Erfahrungen erstaunlich produktive Werke zaubern zu können.

  • Ohne mich darin auszukennen, denke ich, die meisten Künstler, die Kriegserlebnisse hatten, haben das in ihren Werken ausgedrückt, wenn auch einige den Schrecken verklärt haben.
    Blicke ich über den Tellerrand der Literatur hinweg, auf Malerei und Musik, findet sich da nicht auch vieles was Ausdruck von persönlichem Leid ist ? Zum Beispiel Selbstportaits von va Gogh, die Musik Beethovens und Schostakowitsch.
    Und noch etwas, aus einem Bereich der hier wenig Beachtung findet: Heisenberg hat seine Idee für die Unschärferelation auf Helgoland entwickelt, wohin er wegen einer Pollenallergie floh, und die erste Idee für eine Strukturhelix hatte Linus Pauling, während er mit einer Erkältung im Bett lag.
    Und ich erst.. :zwinker:


    Und schlimm, dass ich vergessen habe auf die Künstler hinzuweisen die KZs überlebt haben. (edit)


  • Ohne mich darin auszukennen, denke ich, die meisten Künstler, die Kriegserlebnisse hatten, haben das in ihren Werken ausgedrückt, wenn auch einige den Schrecken verklärt haben.


    Da ist sicher etwas dran, etwa bei Ernst Jünger. Aber auch jemand wie Jean Genet wäre ohne seine Erlebnisse bei Militär und Gefängnis ein anderer gewesen und hätte anders geschrieben, oder Beaudelaire. Aber das waren im großen und ganzen keine auf Kunst ausgerichteten Lebensentwürfe, sondern einfach Schicksale.

  • denke nicht, dass die verarbeitung von persönlichem leiden automatisch einen kreativen prozess erfordert oder nach sich zieht, denke eher, dass dies im falle kreativer künstler eine geniale weise ist aus scheiße gold zu machen. kein künstler thematisiert allein sein subjektives leiden, er abstrahiert es gewissermaßen und macht es dadurch zu etwas individuell fassbarem und universellem, weil leiden an sich universell ist (tod, angst, etc). vielleicht hätte munch wunderbare landschaftsporträts gemalt wäre er nicht manisch depressiv gewesen, vielleicht wäre kafka ohne problematischen familienhintergrund ein genialer autor geistreicher, satirischer komödien geworden, dei ebenfalls die machtlosigkeit des modernen menschen ausdrücken, aber vielleicht auf eine weniger klaustrophobische, selbstreflexive art und weise. die biographie eines menschen ist eh zu verflochten um sie auf einen leidensprozess zu beschränken. sehe im leiden also mehr eine verpackung als den inhalt selbst. schmerz kann man auch prima ironisieren ( gaehn ) hängt wahrscheinlich auch von der art des leidens ab (materiell, psychisch, physisch, spirituell, politisch,...). abgesehen davon sollte man nicht aus den augen verlieren, dass in den letzten jahrzehnten in unserer gesellschaft das leiden im wesentlichen aus dem betrachtungsspektrum verdrängt wurde (med. fortschritt, friedenspolitik etc), kann schon dazu verleiten es als eine abweichung von der norm zu betrachten, denke aber eher, dass wir es sind die uns im ausnahmezustand befinden.
    oh, würde ich meinem leid entfliehen wollen wäre italien auch meine erste wahl...weniger wegen der einsamkeit als wegen der schönen jungs. :breitgrins:

    "Von den meisten Büchern bleiben nur Zitate übrig. Warum nicht gleich nur Zitate schreiben?" Stanislaw Jerzy Lec

  • Hallo miteinander, zwei Anmerkungen meinerseits zu dem Thema: 1. Das Ausschlaggebende für künstlerisch bedeutsame Kreativität ist der Zugang zum kollektiven Unbewussten (und das notwendige Gestaltungstalent). Das kann, muss aber nicht durch persönliches Leiden erfolgen. 2. Mir scheint das eigentlich Brisante am "Doktor Faustus" und seiner expliziten Thematik, dass der Künstler andere leiden lässt (oder lassen muss) - sprich opfert - um seiner Berufung willen. Der Teufel stellt dabei ein mittelalterliches Symbol für die furchtbare Große Mutter und deren Ambivalenz dar, sie schenkt das Leben und nimmt es im Tod wieder in sich auf. Thomas Mann ist in seinem tagebuchartigen Roma über die Abfassung der "Dr. F." erstaunlicherweise noch über das dort geschilderte hinaus gegangen, indem er aussagt, dass Leverkühn den Mord vor der Karriere zu begehen hatte. Was aber gar nicht drinsteht. Mit den Thema "Thomas Mann und die Schuld" befasst sich seit einigen Jahren der bekannte Literaturkritiker Michael Maar. ("Das Blaubartzimmer" und der Artikel über Thomas Mann in "Leoparden im Tempel")
    Grüße vom HERMENEUTIKER

  • Hallo zusammen


    Ich denke, ein Schriftsteller, der nie gelitten hat, kann kaum die Tiefen der menschlichen Psyche vollends ausloten. Aber schreiben tut er dies alles oft erst viel später, wenn es ihm besser geht. Es braucht beides: Leid und die Möglichkeit, darüber zu schreiben. Wer immer nur um seine Existenz ringen muss, wird wohl kaum Zeit haben, das Ganze verarbeitend aufzuschreiben.

  • Wer hat noch nie gelitten? Indes - Es gibt für alles Beispiele: man findet junge Genies (Mozart) und alte Narren, psychotische Maler (Van Gogh) und erfolgreiche, bestens situierte "Klassiker" (Thomas Mann). Manche schreiben sich gesund (Goethe: "Werther"), manche als Todkranke, die verdrängen. (Theodor Storm: "Schimmelreiter") ... Wer will da eine Regel aufstellen?

  • Goethe riet, älterwerdend, sein Eigenes nicht zu beschneiden, sondern es noch zu steigern. Nietzsche, wie sein Freund Overbeck bezeugt, ist mit seiner seelischen und geistigen Gesundheit nicht behutsam umgegangen, sondern er hat seine 'Wahnsinns-Vorräte' sorgsam gehütet und sogar noch Zweiglein aufs Feuer gelegt. :rollen:

    Eine Folge konsequenter Augenblicke ist immer eine Art von Ewigkeit selbst.