Juni 2007 - Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche

  • Liebe Forenbenutzer,


    hiermit eröffne ich die Leserunde zu Bertolt Brechts "Flüchtlingsgesprächen":[kaufen='3518396293'][/kaufen]


    Der Prosadialog wurde von Brecht 1940/41 im finnischen und 1944 im US-amerikanischen Exil geschrieben und erschien erst 1961 als fragemntarische Veröffentlichung aus dem Nachlass.


    In diesem Dialog diskutieren die arbeits- und mittellosen Flüchtlinge, der Physiker Ziffel und der Metallarbeiter Kalle zunähcst im finnnischen Bahnhof, dann bei immer neuen Treffen über die unterschiedlichsten Themen, die aber auch in den sonstigen Werken Brechts behandelt werden. Dabei stehen Alltagsprobleme der Flüchtlinge neben politischen und philosophischen Inhalten ... (Informationen nach Kindlers Literatur Lexikon)


    Für die Leserunde angemeldet haben sich:


    Donna
    Mrs. Dalloway
    Zola
    finsbury.


    Ich lese die Version in der Taschenbuchwerkausgabe des Suhrkamp- Verlags.


    Viel Spaß beim Lesen


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Hallo zusammen,


    ich freue mich, dass diese Leserunde zustandegekommen ist. Brecht ist einer der Autoren, die ich sehr schätze aber aus eigenem Antrieb kaum lese, obwohl sie bei mir im Regal stehen.


    Ich habe jetzt die ersten acht Kapitel gelesen. Zu Beginn gleich der vielzitierte Satz "Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen", der (nicht nur) für die Flüchtlinge von heute noch uneingeschränkte Gültigkeit hat.
    Ziffel und Kalle diskutieren über die unterschiedlichste Themen. Anfangs über Dinge, die noch wenig speziell mit ihrer Zeit zu tun haben, sondern auch heute noch aktuell sind (z.B. wie man in der Schule für das Leben lernt oder was Pornographie ausmacht), dann geht es verstärkt um Ziffels Memoiren und damit um die damalige Situation in Deutschland und speziell um den Nationalsozialismus.
    Über die Probleme des Flüchtlingsdaseins sprechen die beiden kaum. Sie werden eher aus der Distanz behandelt (wie beispielsweise im Gespräch über den Pass), aber nicht wie von zwei selbst Betroffenen.
    Ziffel ist Physiker, wirkt auf mich aber eher wie ein Literat. Der Metallarbeiter Kalle ist eigentlich zu intellektuell für einen Arbeiter. Meist wirkt er schon einfach, proletarierhaft, aber eher als jemand, der diese Rolle spielt. Er hinterfragt zu intelligent und seine eigenen Aussagen sind zu tiefgründig.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo,


    die letzten Tage waren noch ziemlich belegt, aber ab morgen, la dolce vita!


    Habe daher erst die vier ersten Kapitel gelesen, bin aber sehr angetan. Brecht bringt viele Dinge immer sehr gut auf den Punkt: Seine aphoristischen Fähigkeiten sind fast mit Lichtenberg vergleichbar.


    Ich habe noch nicht so weit gelesen wie du, Zola, bin erst mit Kap. IV fertig. Bisher ist die intellektuelle Rollenverteilung noch "sozial" stimmig (furchtbar!!): Kalle ist bisher nur der Spiegler, bringt wenig Eigenes, sondern für Ziffel meist nur Anlässe, etwas auszuführen.


    Wie du richtig bemerkst, ist bisher, abgesehen von Ziffels Zigarrenthema und dem Passproblem, wenig vom Flüchtlingsleben spürbar.


    Der Text ist ein wenig wie politisches Kabarett: Man könnte meinen, einer "Scheibenwischer"-Sendung der 40er Jahre zu lauschen!


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Zur laufenden Leserunde hier noch der Materialien-Thread :zwinker: :breitgrins: :


    Ausgangspunkt einer Internetrecherche zu Brecht allgemein könnte - neben der unterdessen allgegenwärtigen Wikipedia - diese Webseite der Bibliothek der FU Berlin sein.


    Die Flüchtlingsgespräche gibt's, wie den gesamten Brecht, natürlich in verschiedenen Suhrkamp-Ausgaben, z.B. dieser hier: [kaufen='3518396293'][/kaufen] .


    Weitere spezifische Sekundärliteratur müsste ergänzt werden; ich bin weder Brecht-Kenner noch -Liebhaber :zwinker: :breitgrins:


    Grüsse


    sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen, besonders Zola (wir lesen wohl wieder mal allein :zwinker:),


    na, das läuft aber ziemlich schnarchbackig mit unserem kleinen Werkchen! Dabei gefällt mir der Text wirklich gut. Heute Morgen habe ich ihn beendet.
    Wie schon geschrieben, das Ganze kommt mir vor wie ein Manuskript für politisches Kabarett, sehr pointiert und scharfzüngig.
    Die materialistische Weltsicht wird natürlich überall deutlich und zeigt auch viele sehr erhellende Einsichten über die damalige Zeit und darüber hinaus. Ziffel ist nur der Schein-Liberale, eigentlich neigt er Kalles Ansichten zu, deren Darlegung, wie du richtig bemerkst, Zola, nicht recht zu einem Metallarbeiter passen, wenn Brecht auch ein wenig süddeutsche Färbung darüber legt.
    Sehr gut hat mir im XIV. Kapitel der kurze Abriss über die Weimarer Republik gefallen: Da wurden noch einmal viele Dinge auf den Punkt gebracht, die in der Tat in den Nationalsozialismus führten.
    Sehr gut übertragbar auf heutige Kriege, z.B. die beiden Golfkriege, sind die Ausführungen im XV. Kapitel zu den scheinbar edlen Motiven für schmutzige Kriege:

    Zitat von "Brecht schreibt"

    Edle Motive für moderne Kriege werden schon daher gern geglaubt, weil die eventuellen wirklichen, die man sich vorstellen könnt, zu schweinisch sind.


    Bedenkenswert finde ich auch, was Ziffel im XVI. Kapitel über den Rassismus sagt:

    Zitat von "Brecht schreibt"

    Die Idee von der Rasse ist der Versuch von einem Kleinbürger, ein Adeliger zu werden. Er kriegt mit einem Schlag Vorfahren und kann auf was zurück- und auf was herabsehen.


    Das bringt's doch ziemlich auf den Punkt!
    Eine Wortschöpfung hat mir noch gut gefallen - aus dem VIII. Kapitel:

    Zitat von "Brecht schreibt"

    Der Prolet soll wieder der Gehherda sein.


    Neben vielen anderen Anspielungen, die ich sicher überlesen habe, habe ich eine überhaupt nicht verstanden: Im XVII. Kapitel spricht Ziffel von den technischen Errungenschaften der Menschheit und erwähnt ein Pyramidon :rollen:.


    Gesamturteil: Ich habe mir unter dem Text etwas Anderes vorgestellt, das besser in unsere kleine Reihe erzählende Emigrationsliteratur gepasst hätte, aber ich bin positiv enttäuscht und wieder mehr motiviert, öfter mal den Brecht zur Hand zu nehmen: Ein scharfer Blick, ein treffsicherer Ausdruck und als Beigabe sogar oft noch lustig, wenn auch einem das Lachen im Halse stecken bleibt... .
    Wie hat's dir gefallen, Zola?


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo sandhofer und alle,


    herzlichen Dank, dass du dich mal wieder im Sinne aller Forenbenutzer anstelle fauler Threadeinrichter schon daran gemacht hast, Links zu unserer Lektüre zu ergoogeln. :klatschen:


    Hier noch zwei Beifügungen von meiner Seite:


    - Schüler-Referat über Brecht im Exil mit „coolen“ Fotos



    - [url=http://www.herbstfluten.de/index.php/topic,182.msg1591.html]Der mögliche buddhistische Gehalt des Werks[/url]


    Um weitere Links wird gebeten, wenn auch die Mini- Leserunde fast zu Ende ist.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,
    Hallo Finsbury,


    ich habe den Prosa-Text mittlerweile auch zu Ende gelesen. Insgesamt hat er mir sehr gut gefallen. Die Dialoge waren meist sehr ironisch und gut pointiert. Wie du schreibst, könnte man aus dem Text eine gute Aphorismen-Sammlung erstellen und den von Dir gezogenen Vergleich zum "Scheibenwischer" fand ich auch sehr treffend.
    Unter dem Titel Flüchtlingsgespräche hätte ich vielleicht insgesamt eine andere Gesprächsthematik erwartet, aber bei Brecht war das ja fast zu erwarten :breitgrins:


    Was ich nicht so richtig verstanden habe, war die Zeichensprache im 14. Kapitel. Fast als Abschluss des Textes fand ich sie etwas merkwürdig und worauf Brecht damit hinauswill ist mir auch nicht ganz klar (wobei manche Kreationen natürlich sehr treffend waren, z.B. herrschen als "mit dem Hintern auf einem Kopf sitzen" dargestellt oder der Arbeiter als mit abgetrenntem Arm symbolisiert).




    Neben vielen anderen Anspielungen, die ich sicher überlesen habe, habe ich eine überhaupt nicht verstanden: Im XVII. Kapitel spricht Ziffel von den technischen Errungenschaften der Menschheit und erwähnt ein Pyramidon :rollen:.


    Ich habe erst jetzt bemerkt, dass einige Kapitelzahlen (12-14) doppelt sind.
    Ich kann mir nur vorstellen, dass mit dem Hinweis auf das Pyramidon die ganze Auflistung technischer Errungenschaften etwas ins Lächerliche gezogen werden soll. Nicht alles was zur Bequemlichkeit des Menschen beiträgt oder ihn erfreut ist auch sinnvoll.




    Gesamturteil: Ich habe mir unter dem Text etwas Anderes vorgestellt, das besser in unsere kleine Reihe erzählende Emigrationsliteratur gepasst hätte, aber ich bin positiv enttäuscht und wieder mehr motiviert, öfter mal den Brecht zur Hand zu nehmen: Ein scharfer Blick, ein treffsicherer Ausdruck und als Beigabe sogar oft noch lustig, wenn auch einem das Lachen im Halse stecken bleibt... .


    Dem kann ich nur uneingeschränkt zustimmen :zwinker:. In meiner Ausgabe folgen auf die Flüchtlingsgespräche die Kalendergeschichten und ich glaube die werde ich demnächst auch noch lesen.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Hallo zusammen, besonders Zola (wir lesen wohl wieder mal allein :zwinker:),


    Scheint so. donna hat sich kurzfristig verabschiedet und Mrs.Dalloway ist wohl der typische Fall eines Menschen, der nach absolviertem Abi so vieles vergisst und verdrängt, das ihm vorher noch wichtig war ... :sauer: :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Zola,


    nun denn danke für diese Mini-Leserunde. Auf dass wir uns bald mal wieder in einer treffen und vorerst viel Spaß mit den "Kalendergeschichten". Ich werde mich jetzt über meine liegen gebliebenen Reste hermachen (Hölderlin: Bruchstücke und Herodot) und parallel dazu im Schwesterforum eine literarische Weltreise beginnen.


    Bis bald!
    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,
    ja, ich weiß, dass ich mich verspätet hab und ich geb auch zu, dass ich noch nicht sehr weit gelesen hab, gedenke aber dies noch zu tun.
    Auf jeden Fall kann ich eine Sache zu eurer Diskussion noch hinzusteuern:
    Pyramidon ist ein Schmerzmittel!
    Könnte mir gut vorstellen, dass Brecht nicht zufällig ein Schmerzmittel als Beispiel für technische Errungenschaften gewählt hat. Für mich klingt das sehr stimmig in anbetracht der Umstände und es wirkt auch leicht ironisch auf mich.
    Liebe Grüße
    Mrs. Dalloway

  • Hallo Mrs. Dalloway,


    schön, dass du noch zu uns stößt. Ich hoffe, mit dem Abi ist alles wunschgemäß vonstatten gegangen. Jedenfalls schon mal herzlichen Glückwunsch!
    Danke für den Hinweis mit dem Pyramidon. Jetzt, zusammen mit der Info, fällt mir auch wieder ein, davon schon mal gehört/gelesen zu haben. Auch die innere Betonung des Wortes höre ich jetzt und dass es wie ein Medikament klingt. Witzig, als ich es in den "Flüchtlingsgesprächen" las, habe ich es innerlich mit einem hellen "o" gelesen, was natürlich falsch
    ist, da nur ein Vokal folgt...
    Poste doch weiter deine Leseeindrücke, auch wenn Zola und ich schon fertig sind, interessiert doch deine Meinung.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo Mrs. Dalloway,


    von mir auch herzlichen Glückwunsch zum Abi!
    Es würde mich ebenfalls freuen, wenn Du Deine Eindrücke zu den Flüchtlingsgesprächen hier schilderst. Ich denke, dass es noch einiges über den Text zu diskutieren gibt.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Erstmal dankeschön für die Glückwünsche :klatschen:


    Also, die erste Stelle bei den "Flüchtlingsgesprächen", die mir so richtig ins Auge gestochen ist, ist folgende:


    Niemand wird es mit Überraschung aufnehmen, wenn er hört, dass ein unbedeutender Mensch die Absicht hat, der Mitwelt einen Bericht über seine Erlebnisse, Meinungen und Ziele abzustatten. Aber ich hab diese Absicht und bin ein unbedeutender Mensch. [...] Sie meinen mit einem schlagartigen Überfall aus dem Hinterhalt an einem Punkt, wo der Feind, der Leser, träumerisch dahintrottet und es versäumt hat, sich rechtzeitig in Verteidigungszustand zu setzen?


    Letztes Jahr haben wir in der Schule die "Mutter Courage" gelesen und schon da fand ich es wirklich beeindruckend und spannend, wie Brecht es schafft, das ganze so zu verfremden, dass der "aufmerksame Leser" gegen Ende eine regelrechte Abneigung gegenüber der Protagonistin entwickelt. Bei den Flüchtlingsgesprächen bringt Brecht, meiner Meinung nach, seine gesamte Intention und die Theorie des V-Effekts in diese drei sätze mit ein. Genau an diesem Punkt (Kapitel 2) hab ich wirklich angefangen, mir Gedanken zu machen, ob ich alles gutheißen kann, was die Flüchtling so sagen.
    Sehr viel weiter bin ich noch gar nicht gekommen, aber ich sehe diesen Abschnitt des Buches als eine Warnung Brechts, die Gedanken und Thesen der Flüchtlinge nicht einfach so zu akzeptieren und hinzunehmen, sondern auch mal zu hinterfragen und ihnen evtl. auch zu widersprechen.
    Interessant finde ich auch, dass Ziffel den Leser als "Feind" bezeichnet. Auch Brecht hatte ja Angst davor, dass der Leser sich zu sehr in die Situationen seiner Protagonisten hineinversetzt und dadurch, aufgrund des Mitleids und der Anteilnahme, nicht mehr neutral über sie und ihre Handlungen richten kann.


    Ich bemühe mich jetzt, das Buch möglichst schnell zu Ende zu lesen :redface: und werde euch dann meinen Gesamteindruck mitteilen.
    LG
    Mrs. Dalloway


  • Auf jeden Fall kann ich eine Sache zu eurer Diskussion noch hinzusteuern:
    Pyramidon ist ein Schmerzmittel!
    Könnte mir gut vorstellen, dass Brecht nicht zufällig ein Schmerzmittel als Beispiel für technische Errungenschaften gewählt hat. Für mich klingt das sehr stimmig in anbetracht der Umstände und es wirkt auch leicht ironisch auf mich.


    Danke für den Hinweis. Ich denke bei Pyramidon immer an einen Gartenbrunnen (Luxus den man eigentlich niemand braucht). Ein Schmerzmittel ist auf jeden Fall eine (wenn auch nicht technische) Errungenschaft, die dem Menschen das Leben erleichtert. Insofern finde ich, dass das Pyramidon doch zu der Auflistung passt, auch wenn es sachlich falsch ist. Ironie sehe ich her eigentlich keine mehr.


    Viele Grüße,
    Zola

  • Für mich liegt die Ironie eigentlich darin, dass Brecht es eben "technische Errungenschaft" nennt. Das bewirkt doch, dass der Leser erst einmal stutzig wird und sich vielleicht mehr gedanken darüber macht. Der Begriff technische Errungenschaft würde doch noch eher (natürlich nicht nur, aber trotzdem) zu Waffen oder sonstigen Kriegsgegenständen passen, aber er wendet ihn auf das genaue Gegenteil an, etwas das die Schmerzen nicht verursacht, sondern wieder lindert.