Stimmungen bei der Klassikerlektüre

  • Seit einigen Tagen rätsel ich über die Wirkung von Klassikern auf mich und über Stimmungen, die in mir erzeugt werden, wenn ich sie lese. Es ist nicht diese Heile-Welt-Stimmung, oder doch nur teilweise, die ich dabei im Gedanken habe. Es ist einfach etwas besonderes, Klassiker zu lesen. Etwas, was mir auffiel, ist zum Beispiel die beruhigende Wirkung von Klassikern aus dem 19. Jahrhundert. Damit meine ich nicht die Romantik allein. Liegt es an der Erzählweise? Sind moderne Bücher, ähnlich wie ihre Zeit einfach hektischer und waren sie dementsprechend im 19. Jahrhundert weniger hektisch? Ich habe genau diesen Eindruck, zumindest, was die Klassiker des 19. Jahrhunderts betrifft. Aber es ist mehr. Auch die Naturverbundenheit kommt in den Klassikern des 19. Jahrhunderts viel mehr zum Audruck als in modernen Büchern und literarisch verankerte Naturverbundenheit macht auf mich beim Lesen einen eher beruhigenden Eindruck. Auch spielt die sich zunehmend schneller entwickelnde Sprache und deren Gebrauch meinen Empfindungen nach eine wichtige Rolle, sie macht die modernen Bücher zumindest stilistisch kurzlebiger oder für spätere Zeiten schwieriger zugänglich. Kann ich so etwas behaupten wie: eine sich gemächlicher entwickelnde Sprache baut gemütlichere Bücher in denen ich als Leser es mir wohlicher einrichten kann? Bedeutend finde ich darüber hinaus auch die größere Traditionsverbundenheit der Klassiker des 19. Jahrhunderts, die meine Stimmung angenehm beeinflusst. Wichtig scheint mir auch eine Art geschichtlicher Neugier zu sein, ähnlich der, die zur Zeit viele Leser(Inn)en zu historischen Romanen treibt (die aber genausogut, wenn nicht besser in Klassikern der entsprechenden Zeit zu finden sind). Wie sieht dies dann aber mit Klassikern z.B. des Altertums und des Mittelalters aus? Nicht ganz so, wie bei den darauf folgenden Klassikern z.B. des 17. und 18. Jahrhunderts, aber doch sind sie ruhiger, selbst wenn blutrünstiger, als moderne Bücher, so will es zumindest mein Eindruck. Zu diesen Aussagen musste ich verallgemeinern, sicher gibt es überall auch Ausnahmen. Aber das Gefühl, die Empfindung bleibt. Ist es nur ein Hirngespinst? Das könnt ihr wohl besser beurteilen... FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

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  • „Es rast die Zeit im Sauseschritt - und wir, - wir rasen alle mit
    (E. Kästner, aus dem (löchrigen) Gedächtnis )


    Die beschriebenen Empfindung und die Wirkung der Sprache auf die Stimmung kann ich gut nachvollziehen und neige dazu das auf die gesamte Kunst(sprache) zu übertragen, denn mir geht es besonders bei der Musik und bildenden Kunst ähnlich, wobei ich natürlich als Laie keinen kenntnisreichen Zugang habe, sondern mich mehr auf mein gefühlsmäßiges Interesse stütze. Ich meine auch, die Zeit, die F.A. anspricht, ist charakteristisch für einen Paradigmenwechsel in der Kunst und ich beziehe das nicht auf die individuelle Einstellung oder Wirkung sondern den dramatischen Wandel den menschliche Gesellschaften im 18. und 19. Jahrhundert erfahren haben. Hat nicht jede Zeit auch ihre Literatursprache ?
    Tabus, Konventionen hat es wohl schon immer gegeben, sie finden sich dann auch in der jeweiligen Kunst. Gleichzeitig suchen Künstler nach neuen Formen und sind bereit Vorgaben zu brechen, leider auch um damit neue Dogmen zu schaffen.. In der Kunstgeschichte finde ich es interessant, dass sich das Spiel zwischen Inhalt und Form nicht gleichmäßig entwickelt, sondern die Ausdrucksbreite (auch die Sprache in der Literatur) zeitweise eingeengter und dann wieder offener erscheint. So ist mein subjektiver Eindruck, dass sich in der Antike die europäische Kunst mit der Zeit öffnet, dann aber im Mittelalter und noch im Absolutismus wieder mehr, wenn auch in verschieden Formen, einschränkt. Heute, im Angesicht der universitären Kunstausbildung ist die Abstraktion in der Kunst so weit fortgeschritten, dass zumindest der geförderte Kunstausdruck stark formalisiert ist. Zum Glück ist die Demokratisierung der Gesellschaft und auch die Ökonomisierung so weit, dass die Abstraktion damit keine „Luftüberlegenheit“ erreicht (die Ökonomisierung empfinde ich anderen Bereichen allerdings als eine sehr bedenkliche Entwicklung).


    Warum ist gerade die Literatur des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts so fassbar?
    In der Zeit seit dem Ende des 18.Jahrhunderts (teilweise früher) hat sich die Kunst von der Aristokratie, und Religion und auch von den entsprechenden Protektionen gelöst. Es ist die Emanzipation des Bürgertums, des Erwachens demokratischer Bewegungen, der Durchbruch der Volksbildung (wenigstens in vielen Ländern Europas)und entsprechend der volksnahen „Massenkultur“. Die Künstler wurden nicht mehr an Höfen gehalten, ihr Leben war viel stärker an den Erfolg geknüpft. Nicht mehr die Stimmungslage des Adels ist „bestimmend“, jetzt kommt das Volk an die Oberfläche. Auch deshalb wurde das 19. Jahrhundert das Jahrhundert des Romans und auch heute noch, das behaupte ich jetzt entsprechend meiner Wahrnehmung, ist die Kunst, die am populärsten ist, der Kunst aus dieser Zeit ähnlich. Möglicherweise, weil die damaligen Ausdrucksformen für die Rezeption nicht erlernt werden mussten, sondern unseren natürlichen Anlagen nahe waren, die Romansprache ähnlich unserer mündlichen Ausdrucksweise, solange wir bemüht sind uns gepflegt auszudrücken, eben der Hoch- und Schulsprache und nicht dem gestelzten, höfischen Umgangston entsprechend. Außerdem war es die Zeit, in der Fortschritt berauschend populär war und die Mode ihn auf alle Gebiete ausdehnte.
    Wenn wir von Klassikern sprechen, dann geht das doch nur um eine kleine Auswahl aus der damaligen zeitgenössischen Literatur, deren Bedeutung überlebt hat und die zu ihrer Zeit, in vielen Fällen populäre Literatur, in manchen Fälle Avantgarde war. Bedenken wir, dass Fontane für die Gartenlaube schrieb und Romane wie „Irrungen, Wirrungen“ aus heutiger Sicht betrachtet in Groschenhefte gehören. Über eine Madame Bovary oder Effi Briest würde man heute lachen, Oliver Twist zur Sozialvorsorge schicken. Und trotzdem, jeder achte mal in einer größeren Buchhandlung welche Bücher mit den größten Stapeln angeboten werden und lese davon ein paar Seiten. Schmuß war immer en vogue und nicht nur in der Romantik.
    Im Vergleich zu unserer Zeit war die Welt im 18. und über lange Zeit des 19. Jahrhunderts leer und langsam. Die Menschen waren bedächtiger, vielleicht auch gelassener, das Leben elementarer und der Tod näher. Auch für die Wohlhabenden waren äußere Einflüsse unbedeutend im Vergleich zu unserer „Mediengesellschaft“, und die Künste waren noch nicht akademisiert sondern auch in ihren Formen verständlich und gefühlsmäßig fassbar. Wir sollten bedenken, dass es noch eine Zeit war, in der nahezu das gesamte Wissen über die Natur in einbändigen Werken vermittelt werden konnte, dass für die meisten Menschen die Welt durch einen göttlichen Plan geschaffen und gesteuert wurde, Reisen für die Wenigsten möglich waren. Das hat m.E. nichts mit der Romantik zu tun, die eine spezifisch deutsche Erfindung war, wie auch der starke Bezug zur Natur (wo sonst gibt es noch die deutsche Befindlichkeit was den Wald betrifft? ). Die Bedächtigkeit in der Kunst finden wird auch in den anderen entwickelten Ländern, und es ist doch erstaunlich, dass dies selbst in den revolutionären Perioden und in den Kriegen der napoleonischen Zeit, die uns heute so bedrückend erscheint, beibehalten wurde (wo kommt in den Romanen Austens der Krieg vor? Oder man lese den „Spaziergang nach Syrakus von Seume)
    Später sind die Künstler an die Universitäten gekommen und die Suche nach neuen Formen ist abstrakter geworden und immer stärker nur noch für Spezialisten nachvollziehbar. Die Literatur ist dabei noch am wenigsten betroffen, aber wer kann schon ein Stück von Webern oder Schönberg „verstehen“ ohne eine gründliche Kenntnis moderner musikalischer Strukturprinzipien, während Bach, der ebenfalls sehr strenge Regeln liebte, doch noch eine eingängige musikalische Sprache finden durfte. Wir haben jedoch auch ein Jahrhundert hinter uns, das in einer brutalen Weise die menschlichen Widersprüche aufgedeckt hat, und leben nun in einer dicht bevölkerten Welt. Was soll die Kunst machen? Sie muss in ihren Hauptströmungen folgen, anders kann sie sich nicht rechtfertigen. Sie muss die Impulse der Entwicklung aufgreifen und verarbeiten. Sie ist ein Spiegel ihrer Zeit, in kleinen Teilen der Zukunft und das was sich aus der Vergangenheit nicht löst endet in den Kellern der Bibliotheken und den Wohnzimmern der Mittelschicht. Wenn Umwälzungen permanent auftreten, kann die Kunst nicht beruhigen! Wenn wir alle 10 Jahre neue Möbel kaufen, warum soll die Sprache dann langfristiger die gleiche bleiben?
    Wir erleben „Kultur“ in vielen Fällen passiv (auch das Lesen ist passiv, im Vergleich zum mündlichen Erzählen), wir sind beschäftigt mit Zeitschriften, Radio, TV, Internet und ihren Ablegern, haben aber nur die gleiche Zeit, wie die Menschen vor 200 Jahren zur Verfügung. Wer kann in seinem mitteleuropäschen Umfeld noch Stille und natürliche Dunkelheit erleben, wer kommt noch damit zu Recht? Dabei trennen wir noch mehr unser Leben zwischen Arbeit und Freizeit, wie in der Vergangenheit und obwohl wir überwiegend kürzere Zeit arbeiten erschöpfen wir uns in dieser Zeit umso mehr (etwas pauschalisiert gebe ich zu) Das spiegelt sich natürlich auch in der Kunst. Wer kann schon die deutsche, aktuelle Literatur überschauen, ihre Qualität einschätzen, ohne dass er beruflich damit zu tun hat (noch nicht mal die „Berufenen“ können es). Man achte einmal auf die Rhetorik von Literaturkritiken und auf die Analyse zeitgenössischer Romane. Wer schreibt hier für wen ? Wer kann Ecos „Foucaultsches Pendel“ verstehen ohne eingehende Spezialkenntnisse über die Geschichte von Geheimbünden zu haben, wer braucht andererseits für das Verständnis von Dickens mehr als Allgemeinbildung? Mir hat sich Joyce (teilweise) erst erschlossen, nachdem ich eine Biographie über ihn gelesen habe, von den Brontes brauche ich nichts zu wissen, um ihre Romane zu verstehen.


    Wenn ich ein zentrales menschliches Entwicklungsstreben benennen soll, dann sehe ich es im Streben nach Komfort! Lange Zeit bezog sich das auf materielle Aspekte, aber nun. (für die Mehrheit in den begüterten Gesellschaften) immer mehr auf klassische Vorstellungen wie Ruhe, Geborgenheit, Sicherheit Bedächtigkeit, Behaglichkeit u.s.w. Enzensberger hat das einmal sinngemäß als den Wohlstand in der Zukunft beschrieben. Da einige dieser Begriffe in unserer Vorstellung mit der Vergangenheit verknüpft sind (die gute alte Zeit) kann sich das doch auch in unseren Ansprüchen an die Sprache, die Erzählweise und die Literaturform wieder finden. Wer kann sich schon unter dem Eindruck der Tagesschau entspannen? Und! ich unterstelle das; wer viel aus Neigung liest, neigt sowieso mehr zur Zurückgezogenheit und hat wohl auch im Leben ausreichend materielle Sicherheit, dass er sich mit einem gemütlichen Raabe-Roman besser von den Fernsehnachrichten erholt, als mit Kafkas Strafkolonie. Dabei sind wir Leseratten dem Käfer in der Verwandlung näher als dem „common men“ ;-)
    Nun ist die Literatur nicht nur zum Vergnügen da, sondern auch zur Anregung und für Examensprüfungen ;-) Das gleiche gilt für die Musik und die anderen Künste. Mir bereitet es auch Vergnügen, wenn es mir gelingt über meinen Schatten zu springen und ich merke wie mich Lektüre noch lange beschäftigt, bei der ich mir schwer getan habe.
    Auch aus unserer Zeit werden Romane überleben und in hundert Jahren noch gelesen, oder gehört werden, weil sich Menschen für unsere Zeit interessieren und zu unserer Sprache zurücksehnen werden. Diese Menschen haben nur noch die Bürde, dass sie sich nach mehr Vergangenheit sehnen werden und noch mehr lesen und hören wollen und es auch nicht schneller können als wir ;-) Klar Aldder ? ;-)

  • Wir hatten letztens erst im Deutschunterricht das Thema "Unterschiede zwischen klassischem Roman und modernen Roman" (Schwerpunkt auf der Sprache!) und ich fand es da schon sehr interessant, wie sich die Bücher weiterentwickelt haben.
    Ich nenn jetzt hier mal ein paar Beispiele, die mir noch im Gedächtnis geblieben sind.


    - Die Chronologie: Im modernen Roman gibt es sehr häufig Zeitsprünge und Rückblenden, was im klassischen Roman so gut wie nie vorgekommen ist. Einen Grund dafür haben wir leider nicht bekommen!
    - Montagetechnik: Bei der Montagetechnik werden Werbeslogans, Zeitungsartikel oder sogar mal ein Wetterbericht aus der beschriebenen Zeit in das Geschehen des Romans eingefügt. Das führt beim modernen Roman eben oft dazu, dass es sehr lange Exkurse gibt, die mit der eigentlichen Handlung nicht viel zu tun haben. Ich kann mir auch vorstellen, dass es deshalb oft anstrengender ist, einen modernen Roman zu lesen. Bestes Beispiel dafür: Berlin Alexanderplatz von Döblin!
    - Modewörter: Du hast ja in deinem Beiträg erwähnt, dass moderne Romane evtl. nicht so lange aktuell sind, wie die Klassiker. Es gibt wirklich sehr viele Modewörter in einem modernen Roman, was eben an der Fülle von Modewörtern in der wirklichen Welt liegt. Durch Internet oder andere Medien entstehen sehr schnell Neologismen, verschwinden aber oft genausoschnell wieder, wie sie gekommen sind. Daher ist die Sprache in einem modernen Roman nicht so lange "alltagstauglich" wie in einem Klassiker.


    So, das war leider alles, was mir jetzt noch eingefallen ist. Zur Stimmung beim Lesen kann ich eigentlich nur sagen, dass es schon immer etwas besonderes ist, wenn man weiß, dass es ein Buch gibt, dass vielleicht die ganze Literaturwelt verändert hat oder für seine Zeit schon sehr fortschrittlich und visionär war. Es gibt heutzutage bestimmt auch solche Bücher, aber ich denke, dass man sie (genau wie bei vielen Klassikern!) erst einige Jahre später richtig würdigen kann.


    LG
    Katja

  • - Die Chronologie: Im modernen Roman gibt es sehr häufig Zeitsprünge und Rückblenden, was im klassischen Roman so gut wie nie vorgekommen ist. Einen Grund dafür haben wir leider nicht bekommen!
    - Montagetechnik: Bei der Montagetechnik werden Werbeslogans, Zeitungsartikel oder sogar mal ein Wetterbericht aus der beschriebenen Zeit in das Geschehen des Romans eingefügt. Das führt beim modernen Roman eben oft dazu, dass es sehr lange Exkurse gibt, die mit der eigentlichen Handlung nicht viel zu tun haben. Ich kann mir auch vorstellen, dass es deshalb oft anstrengender ist, einen modernen Roman zu lesen. Bestes Beispiel dafür: Berlin Alexanderplatz von Döblin!


    - der grund dafür ist, dass sich das menschenbild in der moderne gewandelt hat. man begreift seither weder den einzelnen menschen, noch die geschichte als einheitlich. die sogenannten "metaerzählugen" (etwa die aufklärung, oder die sinnzusammenhänge der geschichte) liegen hinter uns und so liegt die grunderfahrung des modernen menschen in der zersplitterung. - und natürlich ist die kunst dafür ein sensibler sensor, weshalb sich das dort sehr radikal niederschlug.
    - "eigentliche handlung" - der roman ist kein erzählmedium. wer in "exkursen" abweichungen von der "erzählung" sieht, hat vom roman ungefähr so viel verstanden, wie einer, der in der modernen kunst nach realistischen naturdarstellungen sucht.

  • Und oft zeichnet sich der moderne Roman auch durch besondere Unverständlichkeit aus, und kein Mensch weiß, worum es überhaupt geht. Es wird höchstens viel analysiert und kritisiert und dann kennt sich erst recht niemand mehr aus.


  • Und oft zeichnet sich der moderne Roman auch durch besondere Unverständlichkeit aus, und kein Mensch weiß, worum es überhaupt geht. Es wird höchstens viel analysiert und kritisiert und dann kennt sich erst recht niemand mehr aus.


    Hast Du mal über »Finnegans Wake« hinaus ein Beispiel für einen modernen Roman, von dem kein Mensch weiß, worum es überhaupt geht?


    Dank im voraus!

  • Hallo,



    - Modewörter: Du hast ja in deinem Beiträg erwähnt, dass moderne Romane evtl. nicht so lange aktuell sind, wie die Klassiker. Es gibt wirklich sehr viele Modewörter in einem modernen Roman, was eben an der Fülle von Modewörtern in der wirklichen Welt liegt. Durch Internet oder andere Medien entstehen sehr schnell Neologismen, verschwinden aber oft genausoschnell wieder, wie sie gekommen sind. Daher ist die Sprache in einem modernen Roman nicht so lange "alltagstauglich" wie in einem Klassiker.


    Zu modernen Romanen, die mal zum Klassiker mutieren, wenn man sie in hundert Jahren noch liest, wird es auch mal Bücher geben mit Anmerkungen, in denen Modewörter o.a. erklärt werden, bzw. Kommentare. Ich möchte ja nicht wissen, was mir alles an Goethes Faust entgangen ist, weil ich nie einen Kommentar gelesen habe.


    Zeitgenössische Autoren, einige von denen werden Klassiker, die meisten nicht. Warten wir es doch ab. Es gibt aus dem 20. Jahrhundert einige Autoren, die für mich schon Klassiker sind, obwohl sie noch nicht 70 Jahre tot sind, z.B. Thomas Mann, der im "Doktor Faustus" und anderswo schon mit Montagetechnik arbeitete.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Hallo


    Es ist eine etwas provokative These, aber es könnte sein, dass die bisherige traditionelle Hochkultur langsam an ihr Ende kommt.


    Ich erlebe das besonders in der Musik.


    Wenn ich mir die Komponisten des 20. Jahrhunderts ansehe, Debussy am Anfang, das Ende ist noch nicht abzusehen, fällt mir auf, dass eine immer grössere Artifizenz und immer grössere Esoterik um sich greift. Mittlerweile jagen sich die Stile, Eklektizismus ist Ausdruck der Gegenwart, und die allgegenwärtige Dissonanz wird langsam aber sicher langweilig.


    Man kann ein Leben lang Bach, Beethoven oder Chopin hören, selbst bei Debussy ist dies möglich, aber bei Webern, dem einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, wird das schon schwierig. Genauer gesagt, irgendwann wird Webern langweilig, von anderen Komponisten ganz zu schweigen.


    Ein Experiment in der Musik läuft in der Gegenwart oft auf bestimmte Geräusche hinaus, die man einmal hört, die einen aber grösstenteils nicht näher berühren. In der Klaviermusik ist es ähnlich:


    Noch nie ist so viel Musik komponiert worden wie in den letzten Jahrzehnten, aber kaum etwas ist davon in den öffentlichen Bereich eingedrungen. Im Prinzip leben die Zuhörer bis 1930. Danach ist Wüste.


    Vielleicht ist unser Ohr und unser Empfinden auf Konsonanz angewiesen. Ich empfinde jedenfalls Dissonanzen als relativ eintönig im Verhältnis zu Konsonanzen.


    Und ähnlich geht es mir mit moderner Literatur.


    Rolf

  • Moin, Moin!


    Jeder Leser hat eine Menge Bücher, die er bestimmt noch lesen wird, sagt er sich, und eines ist immer darunter, das jedesmal, wenn er's in die Hand nimmt, den Fluch mit sich bringt, daß er's nach wenigen Seiten wieder weglegt; er geniert sich, er schämt sich, er sollte dieses Buch lesen, das Buch ist berühmt, anrührende schöne Sätze hat es, das weiß er schon - und doch legt es sich ihm wie ein böser Alp auf die Augen, sobald dieses Buch in sie einfällt, oder sie auf dieses Buch; seufzend legt er's wieder weg, irgendwann einmal wird er es lesen, sagt er sich, aber heimlich weiß er dann irgendwann einmal: er wird es nicht mehr lesen, und sollte es ihn den Himmel kosten. (Rolf Vollmann: Der Roman- Navigator, S. 350)

  • Hallo Rolf,



    Das sehe ich bei der modernen E-Musik ähnlich, besonders die in Bezug auf die Begründer und Anhänger des Zwölftons. Allerdings gibt es viele rühmliche Ausnahmen: Höre z.B. Schnittkes Faust-Kantate.
    Bezüglich der Literatut kann ich dir allerdings überhaupt nicht zustimmen. Hier gibt es so viel Spannendes zu entdecken!
    Und seitdem die Autoren - im Gegensatz zu vielen E-Komponisten - wieder entdeckt haben, dass ein Publikum nicht nur gebildet und zum Nachdenken angeregt, sondern auch unterhalten werden will, gibt es vieles, das ich mir nicht entgehen lassen will.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Na ja, Schnittke ist ähnlich wie Gubaidulina einer der überschätztesten Komponisten der Gegenwart.


    Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, seine Klaviersonate durchzuspielen. Ich habe selten so triviales Zeug gespielt. Seine Klaviersonatine, ad usum delphini geschrieben, ist dermassen schwach, dass ich mich schämen würde, solches Zeug zu veröffentlichen.


    Die Russen waren jahrzehntelang hinter dem eisernen Vorhang eingesperrt und schmorten im eigenen Saft. Im Prinzip sind sie über Prokoffjef und Skrjabin stilistisch nicht hinausgekommen, jedenfalls im Bereich der Klaviermusik. Ich kenne kein bedeutendes russisches Werk für Klavier, was in den letzten 30-40 Jahren herausgekommen ist.


    Gubaidulinas Klaviersonate ist zum Beispiel ekklektizistisch Bartok und Skrjabin zu gleichen Teilen.


    Auch das meinte ich mit meiner These. Im Prinzip ist tonal alles auskomponiert worden, und dissonanzmässig ebenfalls.


    Was jetzt noch kommen soll, wissen die Götter.


    Im Jazz ist es ähnlich. Der Free Jazz ist ja auch schon jahrzehnte alt, aber eine neue Richtung ist hier auch nicht erkennbar.


    Rolf

  • Hallo Rolf,


    was soll man dazu schon noch sagen?
    Dann nimmst du dir eben viel Spaß am Hören, wenn du alles schon von vorneherein als überholt, epigonal und überflüssig darstellst. Man kann auch in alten Fässern neuen Wein gären.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo Friedrich Arthur,



    Es ist einfach etwas besonderes, Klassiker zu lesen. Etwas, was mir auffiel, ist zum Beispiel die beruhigende Wirkung von Klassikern aus dem 19. Jahrhundert. Damit meine ich nicht die Romantik allein. Liegt es an der Erzählweise? Sind moderne Bücher, ähnlich wie ihre Zeit einfach hektischer und waren sie dementsprechend im 19. Jahrhundert weniger hektisch? Ich habe genau diesen Eindruck, zumindest, was die Klassiker des 19. Jahrhunderts betrifft. Aber es ist mehr. Auch die Naturverbundenheit kommt in den Klassikern des 19. Jahrhunderts viel mehr zum Audruck als in modernen Büchern und literarisch verankerte Naturverbundenheit macht auf mich beim Lesen einen eher beruhigenden Eindruck.


    na, Friedrich Arthur, so sicher bin ich da nicht.


    Genazinos Regenschirm für diesen Tag ist überhaupt nicht hektisch, das gilt auch für Per Petterson: Pferde stehlen, und als ich die ersten Seiten aus Henry Millers "Wendekreis des Krebses" gelesen hatte, kam ein Supergefühl auf, "etwas besonderes" in den Händen zu halten. Das gilt auch für Orhan Pamuk: "Das schwarze Buch".


    Was ich damit sagen will. Vielleicht liegt es an der eigenen Wahrnehmung, wenn man Thesen aufstellt wie die deine. Es hat ja schon Leute wie Brahms gegeben, die behauptet haben, nach Beethoven könne man keine Symphonie mehr schreiben (oder so ähnlich war's). Ich denke hier liegt doch ein wenig romantisches Gefühl inne, wenn man glaubt, früher, ja, war alles besser, weniger Hektik in der Literatur usw.
    Ich meine, bei der Ruhe in Stifters "Nachsommer" könnte ich fast schon eindösen. :zwinker:


    Solch eine Naturverbundenheit wie bei Per Petterson habe ich äußerst selten gelesen.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Eigentlich habe ich viel Spass beim Musikhören und noch mehr beim Spielen.


    Aber man wird mit zunehmender Kennerschaft kritischer und der Geschmack differenziert sich. Vor allem,wenn man sich in der E-Musik gut auskennt und schon den einen oder anderen "grossen Brocken" selbst gespielt hat, wird man zunehmend kritischer. Man hört dann auch Sachen, die "Laien" normalerweise nicht hören.


    Das ist halt der Preis, den man für Professionalität zahlt.


    Rolf

  • Hallo Rolf,


    Aber man wird mit zunehmender Kennerschaft kritischer und der Geschmack differenziert sich. Vor allem,wenn man sich in der E-Musik gut auskennt und schon den einen oder anderen "grossen Brocken" selbst gespielt hat, wird man zunehmend kritischer. Man hört dann auch Sachen, die "Laien" normalerweise nicht hören.


    Das ist halt der Preis, den man für Professionalität zahlt.


    Und was ist dann mit den vielen anderen "Professionellen", die sich um die deiner Meinung nach epigonalen Werke kümmern? Haben die alle einen schlechten Geschmack?


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Man kann sich gern um epigonale Werke kümmern. Das tue ich auch. Und man kann nicht immer nur im Hochgebirge verbringen, man muss auch zurück zur Ebene.


    Es geht hier wieder einmal um Qualität, oder auch um Zukunftsweisendes. Und da sehe ich zur Zeit nicht viel, jedenfalls nicht in der E-Musik.


    Leute, in der Literatur akzeptiert ihr auch strenge Maßstäbe. Ich tue das halt auch in der Musik.


    Rolf