Wernher der Gärtner

  • WERBUNG FÜR EINE LESERUNDE IM LITERATURCAFE (gleichlautender Text)


    In Dieter Kühns “Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg” las ich folgende schöne Sätze:

    Zitat

    …der Umgang mit Texten jener Zeit setzt frei. Die heute gezogenen Grenzlinien zwischen Fakten und Fiktionen können überspielt werden. Die sogenannte Wirklichkeit darstellen “wie es ist” – hat es das jemals gegeben ohne ein starkes Ferment des Fiktiven? Im Mittelalter war das schon garnicht möglich: entweder wirkten religiöse Wunder ein in die Welt der Gläubigen oder fabulöse Phänomene drangen ein in Romane wie in Chroniken. Es würde dem “Geist der Zeit” des dreizehnten Jahrhunderts kaum entsprechen, nur rational erfaßbare, wissenschaftlich verifizierbare Realität zu beschreiben…

    Und dieses Freisetzten macht wohl den Reiz dieser mittelalterlichen Texte aus. Da spielen Geheimnis, Mythos, Geschichte, andere Moralvorstellungen und Sitten, Traditionen und Bräuche hinein. Unseren Zeitgeist auf den mittelalterlichen prallen lassen und sehen, welche Energien freigesetzt werden. Zwei gedankliche Welten aufeinander zuführen und zusehen und fühlen, was geschehen wird. Das erwarte ich mir von der Lektüre. Das wollte Dieter Kühn wohl auch mit “freisetzen” aussagen. Wäre dann Dieter Kühns “Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg” nicht vorerst genug? Vielleicht ja, aber dennoch möchte ich ein weiteres Buch vorstellen und euch fragen, ob ihr für ein gemeinsames Lesen zu haben seit. Ich möchte dabei ein Buch vorstellen, dass sowohl den mittelhochdeutschen Urtext, wie auch die neuhochdeutsche Übertragung enthält. Ich erinnere mich an einen Beitrag von Tennessee, der gerade den Urtext dieses Buches in seiner Musikalität lobte. Das Buch gilt als eines der künstlerisch bedeutendsten, eines der meisterhaftesten und großartigsten Dichtungen des gesamten deutschen Mittelalters. Ist dies nicht verlockend? Somit frage ich euch, wer ist für ein gemeinsames Lesen von:


    Wernher der Gärtner
    Helmbrecht
    Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch
    Reclam
    ISBN 3-15-009498-4
    5,60 Euronen


    zu begeistern? Das Buch könnte auch unter gewissen Aspekten, wie Familienbeziehung, Vater-Sohn-Konflikt, bestimmte Moral- und Sittenvorstellungen gelesen werden…


    Ich kann mir ein Leserundenbeginn für Mitte August gut vorstellen, aber Ende August soll mir auch recht sein.


    In spannender Erwartung,


    FA


    (PS: ich lasse diesen Ordner hier bestehen, vielleicht ergibt sie hier ja eine schöne Diskussion über das Buch, vorerst habe ich es aber noch nicht gelesen)

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Hallo Friedrich-Arthur!


    Das Mittelalter - oder genauer: mittelhochdeutsche oder -englische Dichtung liegt im Moment ausserhalb meiner Reichweite. In Wernher der Gartenære: Meier Helmbrecht [Das puech ist von dem Mayr Helmprechte] habe ich vor Jahren mal geschnuppert -

    Einer seit waz er gesiht,
    der ander seit waz im geschiht,
    der dritte von minne,
    der vierde von gewinne,
    der fünfte von grôzem guote,
    der sehste von hôhem muote:
    hie wil ich sagen waz mir geschach,
    daz ich mit mînen ougen sach.
    ich sach, deist sicherlîchen wâr,[...]

    ihn allerdings verglichen mit den Grossen der mittelhochdeutschen Literatur ehrlich gesagt eher mager gefunden. Aber vielleicht würde ich heute anders denken. Ich kann mein Urteil auch nicht mehr begründen - zu lange ist die Lektüre her ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Sandhofer,


    ist der "Meier Helmbrecht" identisch mit dem "Helmbrecht"? Reclam gibt beide heraus, sowohl den "Meier Helmbrecht", wie auch den "Helmbrecht". Ich werde euch auf jeden Fall auf dem Laufenden halten. Vorerst muss ich mich aber erst in Gottfried von Straßburgs "Tristan und Isolde" einlesen. Das bedarf erst einmal einer Abstandnahme von unseren gewohnten Denkweisen. Auf jeden Fall sehr interessant das ganze Mittelalter!


    Später mehr und Grüße, FA

    Daß man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! daß man sie nicht hinterdrein im Stiche läßt! - Der Gewissensbiß ist unanständig. - Friedrich Nietzsche - Götzen-Dämmerung, Spruch 10

  • Nun hole ich diesen alten Ordner mal aus der Versenkung.


    Im Rahmen unseres Klassikerwettbewerbs habe ich nun diesen schönen kleinen Text, den "Meier Helmbrecht", gelesen, der aus der zweiten Häfte des 13. Jahrhunderts stammt, als die klassischen Rittertugenden sich so langsam in einer Welt der Auflösung und zunehmenden Rechtlosigkeit verabschiedeten.
    Meine Ausgabe ist eine, aber ziemlich textnahe, Nachdichtung von Johannes Ninck aus der Mitte des letzten Jahrhunderts.
    Friedrich-Arthur hat hier früher die Frage aufgeworfen, ob es zwei Texte gibt, den "Helmbrecht" und den "Meier Helmbrecht" - nach meinen Recherchen sind beide das Gleiche.
    Der Sohn steht im Mittelpunkt und der ist kein Meier, also Bauer mit Milchwirtschaft, mehr, sondern lässt sich mit einer Truppe Raubritter ein, die auf Beutezügen durchs Land streift und die sämtliche Gebote der Menschlichkeit und des hohen Rittertums des klassischen Mittelalters auf den Kopf stellen und einzig ihren Gelüsten und Machtspielchen leben, in denen sie ihre Opfer nicht nur berauben, sondern misshandeln, schänden und in jeder Weise demütigen.
    Insofern müsste der Text eigentlich nur "Helmbrecht" heißen.
    Aber ein großer Teil der Verserzählung wird bestimmt von den Dialogen zwischen dem Meier, dem Vater, der die alten Werte vertritt und den Sohn von seiner hedonistischen Lebensweise abhalten möchte, auch das aufrechte Bauerntum selbstbewusst repräsentiert und eben diesem Sohn, der sich nicht abrackern will in ehrlicher, karger Arbeit, sondern den scheinbaren Glanz des Hofes vorzieht, der sich dann aber als Diebesunterschlupf einer Raubritterbande entpuppt.
    Stolz berichtet er dem Vater von den "Kampfnamen" seiner Raubkumpane, die alle die Gewalt verherrlichen, mit der sie rücksichtslos über das Land ziehen.
    In dreifacher Spiegelung werden die unterschiedlichen Sichten dargestellt: Der Vater schildert die alten Werte sowohl der Bauern als auch der Ritter, der Sohn verkehrt das Ganze ist das Gegenteil und erhebt sich arrogant über den Stand seiner Eltern, muss aber am Ende, nachdem er gefasst, geblendet und von jeweils einer Hand und einem Fuß "befreit" wurde, erleben, wie das Ganze wieder gegen ihn zurückpendelt, indem ihn der Vater jetzt verhöhnt, weil sich seine Lebensweise als falscher Weg erwiesen hat. Und so hat der Titel "Meier Helmbrecht" doch seine Berechtigung, weil es der Vater ist, dessen Ansichten sich am Ende durchsetzen.


    Natürlich ist der "Meier Helmbrecht" und sein Autor nicht vergleichbar mit Werken von Hartmann von Aue, dem Nibelungenlieddichter, Wolfram von Eschenbach oder Gottfried von Straßburg.
    Aber mir gefällt die Frische und Ungekünsteltheit dieser Erzählung, die erstaunliche Unabhängigkeit von der Religion, die hier kaum herangezogen wird, um das Verhalten des Sohnes zu verurteilen und nicht zuletzt die tolle Eingangssequenz, in der die reich bestickte Haube des Sohnes als Symbol für seinen falschen Weg der Selbstüberhebung dargestellt wird. Diese Haube wird am Ende von den Opfern des selbst ernannten Raubritters in den Staub getreten und nur noch Fetzen von ihr flattern über die Erde - schönes Motiv, vor allem zu jener Zeit.


    Der Text hat mich auf unterhaltsame und ansprechende Weise nach längerer Zeit mal wieder in die spannende Epoche des Mittelalters geführt, das ja mit seinen ganzen Gesellschaftsschichten, Entwicklungen, Widersprüchen und Erkenntnissen eine ganz reiche Welt war, die wir heute kaum mehr wahrnehmen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Als ich mir heute morgen etwas in der Pfanne brutzelte und das Fett so richtig zischte, stiegen aus den Tiefen meiner Erinnerung folgende Verse in mir auf:


    so schriet mir min pfanne
    so ist gelesen mir der win

    Das sind die Gedanken der törichten Gotelind, die sich Wohlleben und Luxus von einer Heirat mit „Lemberslint“ Helmbrecht verspricht... Vor mehr als dreißig Jahren gelesen, ist mir dieses kulinarische, realistische Detail in Erinnerung geblieben, seltsam. Die Geschichte mit der Haube hatte ich längst vergessen. Die Zeilen habe ich mal bei google eingegeben und siehe da, Wernher schöpft durchaus aus dem Fundus der mhd. Literatur; die "scheiende", "singende"," brausende" Pfanne ist ein Topos für gutes Leben und Überfluss, bei Walther z.B.:

    So ist min win gelesen, unde suset wol min pfanne...

    Schön, dass du die Erinnerung an dieses kleine interessante Werk wieder aufgefrischt hast.


  • Als ich mir heute morgen etwas in der Pfanne brutzelte und das Fett so richtig zischte, stiegen aus den Tiefen meiner Erinnerung folgende Verse in mir auf:


    so schriet mir min pfanne
    so ist gelesen mir der win


    Das sind die Gedanken der törichten Gotelind, die sich Wohlleben und Luxus von einer Heirat mit „Lemberslint“ Helmbrecht verspricht... Vor mehr als dreißig Jahren gelesen, ist mir dieses kulinarische, realistische Detail in Erinnerung geblieben, seltsam.


    Das ist ja eine echt proustsche Reminiszenz, wenn auch nicht auf das reale Leben, dann doch auf das Lektüreerleben, das ja für uns passionierte Leser fast ähnlich wichtig ist :smile:. Ich habe übrigens die Erfahrung gemacht -und hier auch schon mal irgendwo geschrieben, als Entschuldigung für die mögliche Wiederholung beim Lesen - dass man sich an im frühen Leserleben erlesene Werke viel besser und zum Teil wörtlich erinnert im Gegensatz zu späteren, selbst wenn man - z.B. im Rahmen einer Leserunde recht gründlich gelesen hat.


    Das muss wohl daran liegen, dass der Speicher inzwischen schon deutlich voller ist und das Neue nicht ordentlich abgelegt, sondern einfach nur oben reingestopft wird und sich dann in irgendwelchen Ecken verkrümelt.


    Und nun zum Wernher noch -nach einigen Theorien war der ja vielleicht tatsächlich ein Spielmann und kein Ministerialer wie zum Beispiel Hartmann von Aue. Ich frage mich, wie seine Werke überliefert wurden. Hat er sie bei sich getragen und abgelesen, irgendweinem Mäzen vielleicht übergeben? Oder haben Bewunderer seiner Kunst die Verse aus dem Gedächtnis aufgezeichnet?


    Auch wenn wir nur einen Bruchteil dessen, was vor der Erfindung des Buchdrucks verfasst wurde, erhalten haben mögen, wundert und freut es mich immer wieder, wie alle diese großartigen Werke doch noch auf uns gekommen sind und so einen frischen Ton behalten haben.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)