Das Thema dieses Romans ist die New Yorker High Society der 1870er Jahre. Noch sind die "alten" Familien - z.T. noch holländischen Ursprungs und mit dem englischen Adel verwandt! - unter sich. Ein strenger Verhaltens- und Sittenkodex vereint diese Familien. Die ersten Risse sind zwar schon zu sehen, doch Newland Archer, die Hauptperson, durch deren Brille der Leser die Geschichte wahrnimmt, ist im Grunde genommen noch ganz ein Kind der alten Verhältnisse, auch wenn er - beinahe! - dagegen rebelliert, beinahe mit einer verheirateten Cousine durchgebrannt wäre, obwohl er selber durchaus standesgemäss verheiratet ist. Wie in vielen grossen Romanen des ausgehenden 19. Jahrhunderts geschieht nicht viel. Ein Mann verliebt sich und rebelliert beinahe, nur, um es dann doch bleiben zu lassen und sich den Sitten und Konventionen seiner Zeit und seiner Schicht zu unterwerfen.
Vielleicht zeigt schon dieser kurze Abriss, dass Wharton - wenn man das so salopp formulieren darf - eine Schülerin von Henry James ist. Ähnlich wie er stammt sie selber aus dieser Schicht, die sie beschreibt. Ihr zweiter Lehrmeister ist Sigmund Freud, genauer: dessen "Totem und Tabu", das ihr das theoretische Werkzeug gibt, die Sitten und Gebräuche dieser 1870er High Society zu beschreiben.
Whartons Hauptfigur reflektiert seine und der anderen Handlungen immer sehr distanziert. Die immer durchschimmernde Ironie scheint manchmal seine eigene zu sein, manchmal die der Autorin. "Unschuld" soll jenen Zustand beschreiben einer über ihre Befindlichkeit nicht nachdenkenden Schicht und Zeit. Es ist nicht die Unschuld eines Kindes, denn Archers Frau weiss genau, mit welchen Schachzügen sie ihren Mann von dessen Geliebten für immer trennen kann. Schachzüge, die natürlich nur deshalb gelingen können, weil letzen Endes alle Akteure Teil derselben Gesellschaft (Wharton spricht von "tribe") sind und denselben Totems und Tabus anhängen.
Eine durchaus empfehlenswerte Lektüre, auch wenn festzuhalten ist, dass Wharton die Umrisse ihrer Figuren ein bisschen zu genau skizziert, wo der Meister James vager und deshalb noch interessanter bleibt.