Goethes naturwissenschaftliches Denken: Leo - Goethe - Steiner ??

  • Angeregt durch Per Leos Buch 'Flut und Boden' befinde ich mich gerade auf einer kleinen Lesespur.


    Per Leo vertritt in diesem Buch eine These, die er noch weitaus gründlicher in seiner Dissertation (Der Wille zum Wesen, Matthes und Seitz Verlag) ausführt: Es gab in der Weltanschauungskultur in Deutschland vor 1930 ein weitverbreitetes Denken, das es den sog. 'gebildeten' Kreisen recht einfach machte, sich mit der Rasseideologie der Nazis zu arrangieren. Dieses Denken verortet er in der Charakterologie, vertreten u.a. durch Ludwig Klages. Die Linie reicht aber weiter zurück ins 19. Jahrhundert. Vor allen anderen nennt Per Leo hier Goethe und dessen naturwissenschaftliche Schriften. Goethes Morphologie und seine Erkenntnistheorie hätten - so Leo - nach ihrer 'Wiederentdeckung' durch Rudolf Steiner am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts eine unglaubliche Breitenwirkung gehabt und die Weltanschauung mehr als einer Generation stark beeinflusst. Uns, die wir heute gänzlich anders geprägt sind (weitaus stärker von den empirischen Naturwissenschaften her denkend) ist dieses Denken nicht nur fremd, sondern auch mehr oder weniger unbekannt.


    Per Leos Bücher haben mich hier auf eine Spur gesetzt. Die Diss habe ich nur in Teilen gelesen - sie ist sehr datailliert, aber ebenso glänzend geschrieben wie der Roman. Nun würde ich gerne weiterlesen. Ich dachte eigentlich, mit Steiner sei ich durch, habe mir aber jetzt seine Schrift zu Goethes Erkenntnistheorgie besorgt. Auch Gottfried Benn.


    Hat jemand noch einen Tipp zu Goethes Naturverständnis / Erkenntnistheorie / Weltanschauung?

  • An Älterem:


    Karl Viëtor - Goethe: Dichtung, Wissenschaft, Weltbild. Bern: Francke, 1949.
    Ferdindand Weinhandl - Die Metaphysik Goethes. Berlin: Junker & Dünnhaupt, 1932.


    Weinhandl hat später mit dem Nationalsozialismus sympathisiert, sich noch später wieder distanziert. Die Schrift von 1932 ist aber, iirc, noch nicht direkt infiziert.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • An Älterem:


    Karl Viëtor - Goethe: Dichtung, Wissenschaft, Weltbild. Bern: Francke, 1949.
    Ferdindand Weinhandl - Die Metaphysik Goethes. Berlin: Junker & Dünnhaupt, 1932.


    Weinhandl hat später mit dem Nationalsozialismus sympathisiert, sich noch später wieder distanziert. Die Schrift von 1932 ist aber, iirc, noch nicht direkt infiziert.


    Danke, sandhofer!


    Ich werde mal sehen, ob ich die Bücher hier in der Bib bekomme oder über Fernleihe bestellen kann.


    Mit Steiner geht es mir übrigens ähnlich wie Dir mit Weinhandl. Von seiner Anthroposophie halte ich nicht viel, aber seine Schriften zu Goethes Naturwissenschaft sind ja doch aus einer wesentlich früheren Phase und hoffentlich verlässlicher bzw. weniger kontaminiert... :zwinker:

  • Darf es noch a bissl älter sein?


    - Wilhelm Hertz: Goethes Naturphilosophie in Faust, 1913


    Etwas "jüngeren" Datums:


    - Otto J. Hartmann: Erde und Kosmos, 1938


    Auf beide stieß ich im Rahmen von "Lotte in Weimar". Thomas Mann hat sie als Quelle für Goethes Naturphilosophie genutzt. Ich kenne allerdings keines der beiden Bücher.


    Benn bleibt diesbezüglich erste Wahl. Aber auch T. Mann hat bekanntlich einige Goethe-Essays produziert, wobei ich mich nicht erinnern kann, ob er Deine Thematik aufgreift.


    PS: Soeben fällt mir noch Bielschowsky ein, der eine zweibändige Goethe-Biografie (Bd. 1: 1896, Bd. 2: 1904) verfasst hat. Ich erinnere mich dunkel an einige Kapitel, die Dich interessieren dürften. Das Werk kann man online lesen bzw. als pdf downloaden.

  • Benn bleibt diesbezüglich erste Wahl. Aber auch T. Mann hat bekanntlich einige Goethe-Essays produziert, wobei ich mich nicht erinnern kann, ob er Deine Thematik aufgreift.


    Danke, Sir Thomas!


    Mit Benn habe ich jetzt begonnen und seinen Essay zum Aufbau der Persönlichkeit gelesen. Da reibt man sich schon etwas verwundert die Augen, welche Sicht der Mediziner Benn seinerzeit vertreten hat. Der Humus, auf dem auch die Nazis dann mit ihrer Rasseideologie blühen und gedeihen konnten, ist sehr klar erkennbar.


    Jetzt kommt der Goethe-Essay an die Reihe.


    LG
    JHN


  • Mit Benn habe ich jetzt begonnen und seinen Essay zum Aufbau der Persönlichkeit gelesen. Da reibt man sich schon etwas verwundert die Augen, welche Sicht der Mediziner Benn seinerzeit vertreten hat.


    Der o.g. Aufsatz aus dem Jahr 1930 ist noch harmlos. Ab 1933 schwelgt Benn in Züchtungsphantasien - Nietzsches "Übermensch" hatte ihm ziemlich mächtig zugesetzt ...


    Und wenn der Mensch züchterisch nicht auf Trab gebracht werden kann, dann helfen Drogen. Im Vorwort seines 1948 erschienenen Essaybands "Ausdruckswelt" faselt Benn von einem anthropologischen Gesetz, das uns bestimmte, eine antinaturalistische Natur zur Geltung zu bringen, eine Wirklichkeit aus Hirnrinde zu erschaffen, ein provoziertes Leben aus Traum und Reiz und Stoff … zu erleben. An anderer Stelle dann: Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch, sondern durch Alkaloide. Es gibt keine Zweifel: Der Mann war reif für das Methadon-Programm.

  • Der o.g. Aufsatz aus dem Jahr 1930 ist noch harmlos. Ab 1933 schwelgt Benn in Züchtungsphantasien - Nietzsches "Übermensch" hatte ihm ziemlich mächtig zugesetzt ...


    Und wenn der Mensch züchterisch nicht auf Trab gebracht werden kann, dann helfen Drogen. Im Vorwort seines 1948 erschienenen Essaybands "Ausdruckswelt" faselt Benn von einem anthropologischen Gesetz, das uns bestimmte, eine antinaturalistische Natur zur Geltung zu bringen, eine Wirklichkeit aus Hirnrinde zu erschaffen, ein provoziertes Leben aus Traum und Reiz und Stoff … zu erleben. An anderer Stelle dann: Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch, sondern durch Alkaloide. Es gibt keine Zweifel: Der Mann war reif für das Methadon-Programm.


    Auch ein Berührungspunkt zu Ernst Jünger, nicht wahr?


  • Der o.g. Aufsatz aus dem Jahr 1930 ist noch harmlos. Ab 1933 schwelgt Benn in Züchtungsphantasien - Nietzsches "Übermensch" hatte ihm ziemlich mächtig zugesetzt ...


    In meinem Sammelband sind auch zwei kürzere Texte zum Thema 'Züchtung' abgedruckt. Äußerst befremdlich, in der Tat.


    Jetzt bin ich mit Rudolf Steiner und seinen 'Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung' zugange. Das finde ich durchaus intelligent und hilfreich zu lesen. Bielschowsky hatten sie in der Bibliothek, das liegt auch bereit.


    Weinhandl, Vietor und Hartmann sind per Fernleihe bestellt.

  • Etwas "jüngeren" Datums:


    - Otto J. Hartmann: Erde und Kosmos, 1938


    Auf beide stieß ich im Rahmen von "Lotte in Weimar". Thomas Mann hat sie als Quelle für Goethes Naturphilosophie genutzt. Ich kenne allerdings keines der beiden Bücher.


    Hartmann habe ich jetzt bekommen. Er ist Naturwissenschaftler und Steiner-Schüler. Im vorliegenden Buch entwickelt er eine kosmologische Weltsicht in der Traditionslinie von Böhme, Goethe, Novalis und dann vor allem Steiner. Da ist zwar noch einiges an Goethe erkennbar, im Ganzen aber ist es doch eine Weiterentwicklung Steiners und des steinerschen Ansatzes auf das naturwissenschaftliche Denken. Not quite my cup of tea. Wobei es mir bei ihm geht wie auch bei Steiner: Einige der Fragen sind gut und richtig gestellt. Allein die Antworten überfordern mich dann doch... :zwinker:


    Vietor hat die Bibliothek leider falsch geliefert.


    Weinhandl allerdings sieht vielversprechend aus.

  • Ich hab' gute Erinnerungen an ihn... :winken:


    Ich habe gestern mit Weinhandl begonnen und finde ihn ausgezeichnet. Auch im Hinblick auf die anstehende Wilhelm Meister-Lektüre ein sehr erhellendes Buch.


    EDIT: Ich habe mich jetzt über die Biografie Weinhandls etwas informiert und bin überrascht, eine solch enge Verstrickung mit den Nazis zu finden. Für einen Goetheaner doch recht ungewöhnlich, oder? Per Leo wies in einem Interview sehr treffend darauf hin, dass die Geisteswelt Goethes mit der der Nazis doch recht wenig kompatibel war. Er war im tiefsten für sie ein unmöglicher Klassiker.

  • EDIT: Ich habe mich jetzt über die Biografie Weinhandls etwas informiert und bin überrascht, eine solch enge Verstrickung mit den Nazis zu finden. Für einen Goetheaner doch recht ungewöhnlich, oder? Per Leo wies in einem Interview sehr treffend darauf hin, dass die Geisteswelt Goethes mit der der Nazis doch recht wenig kompatibel war. Er war im tiefsten für sie ein unmöglicher Klassiker.


    Durchaus, ja. Aber es scheint irgendwo im menschlichen Hirn einen Schalter oder eine Schranke zu geben, die machen, dass einer zwei im Grunde genommen einander widersprechenden Thesen gleichzeitig folgen kann...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus