Februar 2011: Franz Kafka: Erzählungen

  • Ich habe jetzt mit der „Verwandlung“ begonnen. Im Gegensatz zur „Strafkolonie“ und dem „Urteil“, die ich noch nicht kannte, habe ich die „Verwandlung“ auch schon einmal gelesen, aber auch schon lange her.


    Während die Protagonisten in Kafkas Romanen alle durch das „K“ („Karl“, „Josef K“ oder einfach nur „K“) imo auf einen autobiografischen Zusammenhang mit „Kafka“ hinweisen, habe ich mich schon beim Urteil über „Georg“ gewundert, und jetzt: „Gregor“. Möglicherweise habe ich den Grund für diese Namensgebung gefunden. Was haltet ihr von folgendem Ansatz:


    Das „Bild mit der Dame im Pelz“ schon zu Beginn der Erzählung ist ja möglicherweise eine Anspielung auf Sacher-Masochs Novelle „Venus im Pelz“ (auf die übrigens der Begriff Masochismus zurück geht), und so habe ich da mal quergelesen (zu Lesen lohnt sich das wahrscheinlich nicht),


    http://www.zeno.org/Literatur/…3%A4hlungen/Venus+im+Pelz


    und bin auf folgende Stelle gestoßen:


    »Ich verbitte mir jede Vertraulichkeit«, sagte sie, mir scharf das Wort abschneidend, »ebenso, daß Sie, ohne daß ich rufe oder klingle, bei mir eintreten und zu mir sprechen, ohne von mir angeredet zu sein. Sie heißen von nun an nicht mehr Severin, sondern Gregor.«,


    sagt die schöne Witwe Wanda zu dem jungen Severin, nachdem sie diesen in ihren Skaven verwandelt hat


  • Das „Bild mit der Dame im Pelz“ schon zu Beginn der Erzählung ist ja möglicherweise eine Anspielung auf Sacher-Masochs Novelle „Venus im Pelz“ (auf die übrigens der Begriff Masochismus zurück geht), und so habe ich da mal quergelesen (zu Lesen lohnt sich das wahrscheinlich nicht)


    Eine wunderbare Entdeckung, Hubert ! Die "Dame im Pelz" ist für mich auf jeden Fall eine erotische Anspielung. Sie steht auch dafür, dass Gregor keinerlei Beziehungen, weder gesellschaftlich noch sexuell, außerhalb der Familie hat. Seine Pflichterfüllung, die ja bis zur Selbstaufgabe geht, hat das verhindert. Und diese Pflichterfüllung hat ja tatsächlich auch etwas masochistisches.


    Interessant ist bei der "Verwandlung" ja auch, wer sich eigentlich verwandelt. Gregor wacht als Ungeziefer auf (der Käfer, mit dem er so gerne überall dargestellt wird, taucht namentlich nur einmal, und zwar ausgesprochen von der Hausdienerin, auf), aber ist er tatsächlich verwandelt, nur weil er sich von seiner Selbstaufgabe befreit ? Ich finde die Verwandlung speziell von Vater und Schwester noch viel gravierender.



    Ja, Steffi, und deshalb denke ich inzwischen, man darf Kafka nicht biografisch interpretieren oder religiös oder psychoanalytisch oder …, oder… - sondern man muss diese Ansätze alle zusammen betrachten, also Kafkas persönliche Verhältnisse, seine Auseinandersetzung mit der jüdischen Kabbala, seine Kenntnisse der Psychoanalyse und, und ……


    Da stimme ich dir zu ! Ich glaube auch, dass das die Faszination von Kafka für mich ausmacht, eben dass er nicht auf einen Interpretationsansatz festgelegt werden kann.


  • Wenn Georg sagt, „mein Vater ist noch immer ein Riese“ meint er nicht ein Hüne von den Fußspitzen bis zum Scheitel, sondern er sagt das, nachdem sich der Schlafrock des Vaters im Gehen geöffnet hatte, also wieder mal eine von Kafkas Schlüpfrigkeiten. :redface:


    :ohnmacht: ... Ich weiß zwar noch, dass ich an der Stelle mit dem Schlafrock ein bisschen hängen geblieben bin, weil ich bei Kafka ja immer das Gefühl habe, da steht kein unnötiger halber Satz - aber so weit habe ich nicht kombiniert! :breitgrins:



    Ja Räume sind bei Kafka immer sehr wichtig, ich erinnere mich noch, dass ich beim „Prozess“, mir die Lage der erwähnten Räume aufgezeichnet habe und diese Zeichnung sehr nützlich war.


    Ich habe sogar einmal die Abschlussarbeit einer Architekturstudentin gesehen, die fürs Diplom das Modell einer Raumanordnung aus einem Buch nachgebaut hat. Es war zwar nicht Kafka, aber von der Atmosphäre her hätte ich es eigentlich dafür gehalten!


    Inzwischen habe ich auch ca. die erste Hälfte der "Verwandlung" gelesen, und da spielt das Raumthema ja schon wieder eine wichtige Rolle. Recht amüsant (und auch bezeichnend für Gregors Situation) fand ich die Stelle, wo sich die Eltern und der Prokurist auf der einen Seite durch zwei geschlossene Türen hindurch mit der Schwester auf der anderen Seite unterhalten, und Gregor sitzt in dem Raum dazwischen und kann sich nicht verständlich machen.


    Die Verbindung zu Sacher-Masoch ist ja herrlich – wunderbar, dass dir das aufgefallen ist, Hubert! Damit kommt tatsächlich eine ganz neue Logik hinein.



    Interessant ist bei der "Verwandlung" ja auch, wer sich eigentlich verwandelt. Gregor wacht als Ungeziefer auf (der Käfer, mit dem er so gerne überall dargestellt wird, taucht namentlich nur einmal, und zwar ausgesprochen von der Hausdienerin, auf), aber ist er tatsächlich verwandelt, nur weil er sich von seiner Selbstaufgabe befreit ? Ich finde die Verwandlung speziell von Vater und Schwester noch viel gravierender.


    Um die Vater/Tochter-Verwandlung beurteilen zu können, habe ich noch nicht weit genug gelesen, aber über die Ungeziefer/Käfer-Frage habe ich früher schon etwas gelesen. Da diskutieren tatsächlich Leute darüber, was genau er nun eigentlich ist! Aber jetzt, da ich die Geschichte kenne, frage ich mich ehrlich gesagt, inwiefern das relevant sein soll!? :confused: Die Beschreibung mit dem harten Rückenpanzer, den vielen Beinchen und den Fühlern lässt doch nicht großartig viele andere Interpretationsmöglichkeiten offen, oder? Und die Tatsache, dass Gregor sich aufrichten und gegen die Tür lehnen kann, aber von der Breite her nicht gut durch den einzelnen geöffneten Flügel passt, gibt Aufschluss über seine Form (also dass er vom Verhältnis Länge zu Breite z.B. kein Tausendfüßler sein kann). Ok, ich bin keine Zoologin und weiß nicht, ob z.B. Kakerlaken streng taxonomisch zu den Käfern gehören – aber dass er „irgendsowas“ sein muss, das umgangssprachlich in diese Kategorie fällt, ist für mich klar – und ich sehe ehrlich gesagt nicht den Unterschied, den es für die Geschichte machen würde, ob er nun tatsächlich ein Käfer oder nur so etwas Ähnliches ist!?


    Etwas wollte ich noch zu der Bezeichnung „Reisender“ sagen: der Ausdruck kommt ja in der Strafkolonie auch schon vor, und ich habe ihn dort eher in Richtung Urlaub interpretiert, oder zumindest relativ neutral. In der Verwandlung taucht das Wort aber plötzlich ganz eindeutig als Berufsbezeichnung auf, so wie wir heute wahrscheinlich von einem „Außendienstmitarbeiter“ sprechen würden. Das finde ich ziemlich ungewohnt (auch wenn z.B. eine „Geschäftsreise“ natürlich auch bei uns ein gängiger Begriff ist)!

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Soeben in der :baden: Teil II von III beendet - und diesmal sind die Schlüpfrigkeiten sogar mir ins Auge gestochen!
    Nicht nur, dass sich Gregor gegen das Bildnis der Dame im Pelz drückt, was "seinem heißen Bauch wohltut" - nein, seine Mutter verliert beim Zulaufen auf den Vater auch noch einen Rock nach dem anderen und umfängt ihn schließlich in "gänzlicher Vereinigung"! Na hallo.


    Durch die Aktion mit dem Bild, das er sich unter keinen Umständen wegnehmen lassen will, wird auch noch einmal das deutlich, was Steffi schon über Gregors Leben gesagt hat: nämlich, dass er keine Beziehungen außerhalb der eigenen vier Wände bzw. außer der Familie hat.


    Übrigens mag ich Gregor sehr, ich finde ihn herzig. Natürlich tut er mir Leid und ich würde mir (bzw. ihm) wünschen, dass er nicht soo viel Rücksicht auf die Menschen in seiner Umgebung nimmt - aber andererseits macht ihn doch auch gerade das wieder sympathisch. Sehr süß beschrieben finde ich auch die Szenen, wo sein tierischer Instinkt überhand nimmt, wo er z.B. zum ersten Mal auf all seinen Beinen steht und daraufhin vor lauter Laufdrang schaukelt, obwohl er ruhig stehen bleiben möchte, oder wo er einmal aus Tatendrang wild drauflos läuft und dann aus Unschlüssigkeit viermal die Richtung wechselt ... wenn ich mir sowas bildlich vorstelle, muss ich einfach grinsen. :breitgrins:


    Mittlerweile weiß ich auch, was ihr mit der Verwandlung des Vaters gemeint habt. Das ist ja wirklich sehr verdächtig - mir scheint, er hat seine Gebrechlichkeit früher nur vorgespielt, um Gregor auszunutzen! :hm:

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."


  • Da diskutieren tatsächlich Leute darüber, was genau er nun eigentlich ist! Aber jetzt, da ich die Geschichte kenne, frage ich mich ehrlich gesagt, inwiefern das relevant sein soll!? :confused:


    Naja, meist wird Gegror ja mit seinem Namen angesprochen und auch dass er selbst keineswegs verwundert über seine neue Gestalt ist, könnte darauf zurückzuführen sein, dass nur die Außenstehenden ihn als Ungeziefer sehen. Er kommt seinen Pflichten nicht mehr nach und wird daher zum Störenfried, zur Kakerlake. Ich sehe das als Spiel mit dem Leser, denn welche Position kriegen wir denn vorgesetzt, Gregors und eines inneren Erzählers, einen auktorialen Erzähler oder einen aus der Sicht der Familie ? Ein bißchen verwischt sich das an manchen Stellen, weil auch die Familienbeziehungen dynamisch sind, sich laufend verändern und verwandeln. Keiner ist und bleibt zuverlässig einschätzbar, so wie z.B. die Putzfrau. Alle spielen und spielten eine Rolle. Ich finde, dass diese Gruppendynamik sehr gut dargestellt wird.



    Soeben in der :baden: Teil II von III beendet - und diesmal sind die Schlüpfrigkeiten sogar mir ins Auge gestochen!
    Nicht nur, dass sich Gregor gegen das Bildnis der Dame im Pelz drückt, was "seinem heißen Bauch wohltut" - nein, seine Mutter verliert beim Zulaufen auf den Vater auch noch einen Rock nach dem anderen und umfängt ihn schließlich in "gänzlicher Vereinigung"! Na hallo.


    :breitgrins: Dieser Interpretationsansatz wird wohl bei der Schullektüre unter den Tisch fallen !

  • Ich glaube, wir haben ein bisschen aneinander vorbeigeredet, Steffi :breitgrins: ... ist aber nicht so schlimm.



    Naja, meist wird Gegror ja mit seinem Namen angesprochen und auch dass er selbst keineswegs verwundert über seine neue Gestalt ist, könnte darauf zurückzuführen sein, dass nur die Außenstehenden ihn als Ungeziefer sehen. Er kommt seinen Pflichten nicht mehr nach und wird daher zum Störenfried, zur Kakerlake.


    Zum zweiten Satz: ja, das ist natürlich eine sehr plausible Schlussfolgerung, sehe ich auch so. Mir gefällt aber ganz gut, dass Kafka hier meiner Meinung nach eigentlich nicht die Option offen lässt, das Ungeziefer nur metaphorisch zu interpretieren, sondern es ist (finde ich) schon recht klar, dass sich Gregor "tatsächlich" verwandelt hat.
    Daher meine Frage zu deinem ersten Satz: Wie genau meinst du das? Ist das Ungeziefer für dich doch "nur" symbolisch? Ist jetzt etwas schwierig zu erklären, wie ich das meine ... also unter "nur symbolisch" würde ich verstehen, wenn man die Geschichte quasi genauso lesen könnte in der Annahme, Gregor hat sich körperlich gar nicht verändert. Das geht für mich aber nicht auf, sondern die Verwandlung ist in meinen Augen etwas, das tatsächlich stattgefunden hat, also eher die Manifestation davon, dass er eben seinen Pflichten nicht mehr nachkommt (oder welche andere Interpretation man der Geschichte auch immer zu Grunde legen möchte - sie könnte ja z.B. auch ganz ähnlich funktionieren, wenn man etwa unterstellen würde, dass sich Gregor bei seiner Familie als schwul geoutet hat ... versteht ihr, was ich meine?).



    welche Position kriegen wir denn vorgesetzt, Gregors und eines inneren Erzählers, einen auktorialen Erzähler oder einen aus der Sicht der Familie ? Ein bißchen verwischt sich das an manchen Stellen


    Ja, das ist mir auch aufgefallen (besonders deutlich wird es dann ja, nachdem Gregor gestorben ist).



    weil auch die Familienbeziehungen dynamisch sind, sich laufend verändern und verwandeln. Keiner ist und bleibt zuverlässig einschätzbar, so wie z.B. die Putzfrau. Alle spielen und spielten eine Rolle. Ich finde, dass diese Gruppendynamik sehr gut dargestellt wird.


    Dynamik ist hier wirklich ein sehr treffendes Wort!

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Zum zweiten Satz: ja, das ist natürlich eine sehr plausible Schlussfolgerung, sehe ich auch so. Mir gefällt aber ganz gut, dass Kafka hier meiner Meinung nach eigentlich nicht die Option offen lässt, das Ungeziefer nur metaphorisch zu interpretieren, sondern es ist (finde ich) schon recht klar, dass sich Gregor "tatsächlich" verwandelt hat.
    Daher meine Frage zu deinem ersten Satz: Wie genau meinst du das? Ist das Ungeziefer für dich doch "nur" symbolisch?


    Ja, ich bin nicht sicher, ob man die ganze Geschichte unter dem Gesichtspunkt verstehen könnte, dass Gregor sich körperlich gar nicht verwandelt hat, mir würde aber so eine Interpretation gefallen :zwinker: Würde alles logisch zusammenpassen, dann wäre es für mich tatsächlich so, dass eben nur die Sichtweise der anderen sich verändert (verwandelt) hat. Dafür müsste man aber gerade unter diesen Vorrausetzungen die Erzählung nochmal lesen, dafür habe ich aber im Moment keine Zeit und Lust.


  • Ja, ich bin nicht sicher, ob man die ganze Geschichte unter dem Gesichtspunkt verstehen könnte, dass Gregor sich körperlich gar nicht verwandelt hat, mir würde aber so eine Interpretation gefallen :zwinker: Würde alles logisch zusammenpassen, dann wäre es für mich tatsächlich so, dass eben nur die Sichtweise der anderen sich verändert (verwandelt) hat. Dafür müsste man aber gerade unter diesen Vorrausetzungen die Erzählung nochmal lesen, dafür habe ich aber im Moment keine Zeit und Lust.


    Ist vielleicht gar nicht notwendig - wenn ich mich richtig erinnere, war in einem der Links, die Hubert in den Materialienthread gestellt hat, so eine Art Pro & Contra-Liste, was dafür bzw. dagegen spricht, dass Gregor sich wirklich verwandelt hat. Ich kopiere sie mal hier herein:


    Was spricht pro/contra für sein Käferdasein?


    pro:



    [li]Hin- und Hergerissen zwischen Akzeptanz und Ablehnung seines allfälligen Käferdaseins[/li]
    [li]seine Sprach ist nach der Verwandlung unverständlich[/li]
    [li]seine Selbstbeschreibung[/li]
    [li]die Sekrete und andere Körpersäfte[/li]
    [li]die Reaktion seiner Umgebung:[/li]


    - Vater verscheucht sich mit dem Stock
    - Mutter fällt in Ohmacht
    - Prokurist: „Das ist eine Tierstimme.


    contra:



    [li]seine Denkvorgänge/Gedankenzüge entsprechen denen eines Menschen:[/li]


    - in Bezug auf seine Arbeit
    - bezüglich der Reaktion seiner Mitmenschen

    [li]Sprache zu Beginn der allfälligen Verwandlung noch für seine Mitmenschen verständlich[/li]
    [li]seine Körpergrösse[/li]
    [li]die Reaktion seiner Umgebung:[/li]


    - Es wird nicht so reagiert, als wäre es nicht Gregor
    - Er wird nicht explizit als Käfer bezeichnet

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."


  • Interessant ist bei der "Verwandlung" ja auch, wer sich eigentlich verwandelt. Gregor wacht als Ungeziefer auf (der Käfer, mit dem er so gerne überall dargestellt wird, taucht namentlich nur einmal, und zwar ausgesprochen von der Hausdienerin, auf), aber ist er tatsächlich verwandelt, nur weil er sich von seiner Selbstaufgabe befreit ? Ich finde die Verwandlung speziell von Vater und Schwester noch viel gravierender.


    Hallo Steffi,
    hallo zusammen,


    Ja und nicht nur die beiden – soweit ich bis jetzt gelesen habe, gibt es ja keine Figur, die sich nicht verwandelt. Sorry, übrigens, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber ich habe zwischendurch, den „Brief an den Vater“ eingeschoben, imo sehr erhellend, besonders im Bezug zur „Verwandlung“. Kafkas Vater hat den Brief ja nie erhalten, ich bin mir nicht sicher, ob das von Kafka überhaupt geplant war. Wie denkt ihr darüber?


    LG


    Hubert


  • Inzwischen habe ich auch ca. die erste Hälfte der "Verwandlung" gelesen, und da spielt das Raumthema ja schon wieder eine wichtige Rolle.


    Hallo Bluebell,
    hallo zusammen,


    Ja, eine sehr wichtige, z.B. haben ja alle anderen Zimmer eine Verbindung zu Gregors Zimmer, aber keine untereinander, also wenn sich die anderen Familienmitglieder besuchen wollen, müssen sie durch Gregors Zimmer.


    LG


    Hubert


  • Etwas wollte ich noch zu der Bezeichnung „Reisender“ sagen: der Ausdruck kommt ja in der Strafkolonie auch schon vor, und ich habe ihn dort eher in Richtung Urlaub interpretiert, oder zumindest relativ neutral. In der Verwandlung taucht das Wort aber plötzlich ganz eindeutig als Berufsbezeichnung auf, so wie wir heute wahrscheinlich von einem „Außendienstmitarbeiter“ sprechen würden. Das finde ich ziemlich ungewohnt


    So ungewohnt ist das nicht, auch Arthur Millers „Death of a Salesman“ wird ja mit „Tod eines Handlungsreisenden“ übersetzt.


  • Die Verbindung zu Sacher-Masoch ist ja herrlich – wunderbar, dass dir das aufgefallen ist, Hubert!


    Es kann sein, dass auch Gregors Nachname eine Verbindung zu Sacher-Masoch ist, oder geht da meine Phantasie mit mir durch?
    Samsa ist ja aus den ersten zwei Buchstaben des 1. Namens und aus den drei ersten Buchstaben des 2. Namens gebildet: Sa....-Mas..., wobei am Ende dann das a und das s vertauscht wird, damit der Name auch einen Bezug zu Kafka bekommt. Beide Namen (Kafka und Samsa) sind wie folgt aufgebaut: ein Konsonant, der Vokal a, zwei Konsonanten wobei der zweite mit dem Konsonant am Namensanfang identisch ist, der Vokal a!


  • Soeben in der :baden: Teil II von III beendet - und diesmal sind die Schlüpfrigkeiten sogar mir ins Auge gestochen!
    Nicht nur, dass sich Gregor gegen das Bildnis der Dame im Pelz drückt, was "seinem heißen Bauch wohltut" - nein, seine Mutter verliert beim Zulaufen auf den Vater auch noch einen Rock nach dem anderen und umfängt ihn schließlich in "gänzlicher Vereinigung"! Na hallo.


    Ja, wenn man erst mal für diesen kafkaesken „Humor“ sensibilisiert ist, fallen einem viele solcher Stellen in seinem Werk auf.



    Sehr süß beschrieben finde ich auch die Szenen, wo sein tierischer Instinkt überhand nimmt, wo er z.B. zum ersten Mal auf all seinen Beinen steht und daraufhin vor lauter Laufdrang schaukelt, obwohl er ruhig stehen bleiben möchte, oder wo er einmal aus Tatendrang wild drauflos läuft und dann aus Unschlüssigkeit viermal die Richtung wechselt ... wenn ich mir sowas bildlich vorstelle, muss ich einfach grinsen. :breitgrins:


    Kafka selbst hat ja, so erzählte es zumindest Max Brod, bei Lesungen seiner Werke im Freundeskreis oft so lachen müssen, dass er weilchenweise nicht weiterlesen konnte.


  • Ja, ich bin nicht sicher, ob man die ganze Geschichte unter dem Gesichtspunkt verstehen könnte, dass Gregor sich körperlich gar nicht verwandelt hat, mir würde aber so eine Interpretation gefallen :zwinker: Würde alles logisch zusammenpassen, dann wäre es für mich tatsächlich so, dass eben nur die Sichtweise der anderen sich verändert (verwandelt) hat. Dafür müsste man aber gerade unter diesen Vorrausetzungen die Erzählung nochmal lesen,


    Würde mir eigentlich auch besser gefallen, aber wie Bluebells „pro/conta-Liste“ zeigt, gibt es für beide Meinungen gute Argumente, ich denke auch wenn man die Erzählung noch zehn mal liest – Kafka hat das so geschickt gemacht, dass es keine endgültige Entscheidung gibt. Ein Argument für die contra-Seite, allerdings außerhalb der Erzählung, ist imo noch, dass Kafka sich dagegen mit Erfolg gewehrt hat, dass in der Erstveröffentlichung ein Bild von Gregor nach der Verwandlung veröffentlicht wird. Wenn die Verwandlung tatsächlich stattgefunden hätte, wäre es imo egal, ob das jetzt ein Mistkäfer oder eine Kakerlake ist. Wie findet ihr in diesem Zusammenhang übrigens, dass es inzwischen auch eine Comic-Version von der „Verwandlung“ gibt (siehe Links im Materialordner)? Darf man das?


  • ich habe zwischendurch, den „Brief an den Vater“ eingeschoben, imo sehr erhellend


    Fand ich auch!



    Kafkas Vater hat den Brief ja nie erhalten, ich bin mir nicht sicher, ob das von Kafka überhaupt geplant war. Wie denkt ihr darüber?


    Ich denke, dass er ihn durchaus mit dem Vorsatz zu schreiben begonnen hat, ihn tatsächlich abzuschicken, aber dass im Grunde das pure "Von-der-Seele-schreiben" die Hauptsache war. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich danach zwar den nötigen Mut gewünscht und auch eine Zeitlang mit sich gerungen hat, tief im Inneren aber eigentlich wusste, dass er es nicht fertigbringen würde. Nach allem, was ich bis jetzt über Kafka erfahren habe, würde es mich auch nicht wundern, wenn er sich dafür noch Selbstvorwürfe gemacht hätte.



    Es kann sein, dass auch Gregors Nachname eine Verbindung zu Sacher-Masoch ist, oder geht da meine Phantasie mit mir durch?
    Samsa ist ja aus den ersten zwei Buchstaben des 1. Namens und aus den drei ersten Buchstaben des 2. Namens gebildet: Sa....-Mas..., wobei am Ende dann das a und das s vertauscht wird, damit der Name auch einen Bezug zu Kafka bekommt. Beide Namen (Kafka und Samsa) sind wie folgt aufgebaut: ein Konsonant, der Vokal a, zwei Konsonanten wobei der zweite mit dem Konsonant am Namensanfang identisch ist, der Vokal a!


    :pling: Hubert, du bist ein Genie.



    Kafka selbst hat ja, so erzählte es zumindest Max Brod, bei Lesungen seiner Werke im Freundeskreis oft so lachen müssen, dass er weilchenweise nicht weiterlesen konnte.


    :breitgrins: Klingt sympathisch, finde ich.



    Wie findet ihr in diesem Zusammenhang übrigens, dass es inzwischen auch eine Comic-Version von der „Verwandlung“ gibt (siehe Links im Materialordner)? Darf man das?


    Ganz klares JA, man darf! Das mit der Erstveröffentlichung muss(te) selbstverständlich respektiert werden, darüber gibt es gar keine Diskussion, und es spricht auch ein bisschen für die Contra-Version (oder zumindest dafür, dass Kafka die Interpretation diesebezüglich wirklich völlig offen halten wollte). Aber das mit dem Comic ist für mich ein völlig anderes Paar Schuhe und ich begrüße es sehr, wenn sich moderne Künstler klassischer Stoffe annehmen. Natürlich nur, wenn sie das nicht mit dem Anspruch tun, dass ihre Version absolute Gültigkeit besitzt oder "die einzig Wahre" ist. Das geschieht meiner Einschätzung nach aber ziemlich selten (wenn das Publikum es so interpretiert, kann der Künstler ja nix dafür). Also in meinen Augen hat der Comic definitiv seine Legitimation! :smile:

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."


  • Würde mir eigentlich auch besser gefallen, aber wie Bluebells „pro/conta-Liste“ zeigt, gibt es für beide Meinungen gute Argumente, ich denke auch wenn man die Erzählung noch zehn mal liest – Kafka hat das so geschickt gemacht, dass es keine endgültige Entscheidung gibt. Ein Argument für die contra-Seite, allerdings außerhalb der Erzählung, ist imo noch, dass Kafka sich dagegen mit Erfolg gewehrt hat, dass in der Erstveröffentlichung ein Bild von Gregor nach der Verwandlung veröffentlicht wird.


    Die Pro/Contra-Liste, danke Bluebell fürs posten, ist sehr interessant und bietet sehr viel Stoff zum Nachdenken. Für mich wird die Vorstellung, dass Gregor eben nur aus der Sicht verschiedener Personen und seiner eigenen zum Ungeziefer wird, immer reizvoller :breitgrins: Auf jeden Fall bin ich nach wie vor begeistert, dass man "Die Verwandlung" unter so vielen Gesichtspunkten lesen kann.



    Wie findet ihr in diesem Zusammenhang übrigens, dass es inzwischen auch eine Comic-Version von der „Verwandlung“ gibt (siehe Links im Materialordner)? Darf man das?


    Grundsätzlich finde ich es immer gut, wenn es zu Klassikern auch Comic-Versionen gibt. Bei der "Verwandlung" allerdings, die ja in sehr hohem Masse von der eigenen Vorstellungskraft und den vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten lebt, finde ich das doch eine sehr große Einschränkung. Die Geschichte wird ja nun schon gefiltert und das finde ich gerade bei Kafka schade. Denn weit mehr als Atmosphäre und Handlung macht Kafka für mich aus, es entgeht dem Leser die eigentliche Genialität Kafkas, nämlich seine Vorstellungen direkt fühlbar zu machen.


  • Ok, ich bin keine Zoologin und weiß nicht, ob z.B. Kakerlaken streng taxonomisch zu den Käfern gehören –


    Nein, liebe Bluebell, Kakerlaken sind keine Käfer, beide gehören aber zur Klasse der Insekten, die wiederum zum Stamm der Gliederfüßer gehören. Während aber Käfer mit über 350.000 Arten die weltweit größte Ordnung aus der Klasse der Insekten bilden, sind Kakerlaken eine Art innerhalb der Ordnung der Schaben von denen es weltweit nur ca. 4.560 Arten gibt von denen wiederum nur ca. 15 Arten auch in Mitteleuropa leben u.a. die Kakerlake.


    Als Ungeziefer, in das sich Gregor verwandelt fand, bezeichnet man z.B. krankheitsübertragende Kleintiere wie Flöhe (auch eine Ordnung aus der Klasse der Insekten), aber auch Schaben und bestimmte Käfer, die als Schädlinge auftreten, wie z.B. der Kartoffelkäfer. Mistkäfer, eine Familie der Käfer mit allein ca. 500 Arten gehören imo nicht zum Ungeziefer.


    In der Familie Kafka wurde die Bezeichnung „Ungeziefer“ aber auch auf unerwünschte Personen angewendet wie z.B. die folgenden zwei Stellen aus dem „Brief an den Vater“ belegen:



    „Das bezog sich auf Gedanken so gut wie auf Menschen. Es genügte, dass ich an einem Menschen ein wenig Interesse hatte - es geschah ja infolge meines Wesens nicht sehr oft -, dass Du schon ohne jede Rücksicht auf mein Gefühl und ohne Achtung vor meinem Urteil mit Beschimpfung, Verleumdung, Entwürdigung dreinfuhrst. Unschuldige, kindliche Menschen wie zum Beispiel der jiddische Schauspieler Löwy mussten das büßen. Ohne ihn zu kennen, verglichst Du ihn in einer schrecklichen Weise, die ich schon vergessen habe, mit Ungeziefer, und wie so oft für Leute, die mir lieb waren, hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der Hand.“


    „Du könntest, wenn Du meine Begründung der Furcht, die ich vor Dir habe, überblickst, antworten: »Du behauptest, ich mache es mir leicht, …. Du hast es Dir nämlich in den Kopf gesetzt, ganz und gar von mir leben zu wollen. Ich gebe zu, dass wir miteinander kämpfen, aber es gibt zweierlei Kampf. Den ritterlichen Kampf, wo sich die Kräfte selbständiger Gegner messen, jeder bleibt für sich, verliert für sich, siegt für sich. Und den Kampf des Ungeziefers, welches nicht nur sticht, sondern gleich auch zu seiner Lebenserhaltung das Blut saugt. Das ist ja der eigentliche Berufssoldat und das bist Du.“


    Hat sich also Gregor, bisher Mittelpunkt der Familie (siehe Raumanordnung) über Nacht in eine unerwünschte Person verwandelt?