November 2009: Eugène Sue - Die Geheimnisse von Paris

  • Ich lese auch noch - zumindest irgendwie.


    Derzeit komme ich nicht mal auf ein Kapitel pro Tag, weil mich andere Bücher vom Genuss dieses Werkes abhalten :breitgrins:


    Es ist zwar leicht zu lesen und sehr anspruchslos, aber dennoch ist die anfängliche Euphorie verflogen. Ich werde das Buch sicher zu Ende lesen, die Frage ist nur wann, wenn ich in meinem jetzigen Tempo weitermache, bin ich fertig wenn ich 50 bin :breitgrins:


    Katrin

  • Hallo,


    mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Ich bin nun bei der Racheoper. Gerade wurde Jacques Ferrand alttestamentarisch gestraft, nun ist Sarah dran und gleichzeitig erfährt Rudolf endlich, wer Marienblume ist.
    Ein weiterer humoristischer Zug ist schon vor einiger Zeit aufgetaucht, allerdings weniger gelungen als die Pipelets: Ferrands Kanzleischreiberteam beherbergt den Witzbold Chalamel, der alles mit Sprichwörtern, Versen und Redewendungen kommentiert. Das könnte lustig sein, wenn es nicht so aufdringlich wäre und ein nicht näher genannter Kanzleikamerad ständig seinen Kopf fordern würde.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ein weiterer humoristischer Zug ist schon vor einiger Zeit aufgetaucht, allerdings weniger gelungen als die Pipelets: [...]


    Das ist es vielleicht, was mir an Sue so missfällt: Es mangelt an Humor. Die Pipelets - ja. Aber die sind bei mir ja schon wieder aus der Erzählersicht verschwunden und wir Leser dürfen uns mit einem Rodolphe herumschlagen ... :sauer: :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Das ist es vielleicht, was mir an Sue so missfällt: Es mangelt an Humor. Die Pipelets - ja. Aber die sind bei mir ja schon wieder aus der Erzählersicht verschwunden und wir Leser dürfen uns mit einem Rodolphe herumschlagen ... :sauer: :breitgrins:


    Mir hat es geholfen, wenn ich mir die Schmachtszenen auf der Bühne vorgestellt habe.

  • Ich bin ja noch nicht mal auf solches gestossen ... :breitgrins:


    Der ganze Roman ist ein riesiger Opernzyklus. Man stelle sich nur ein Mal den Anfang als Eingangsszene vor. Lediglich Sues Vorliebe für schmächtige Frauen könnte zu Besetzungsproblemen führen. :zwinker:


    Sue und Wagner passen gut zusammen.


  • Der ganze Roman ist ein riesiger Opernzyklus.


    Sue und Wagner passen gut zusammen.


    Nein. Ich bin weder Sue- noch Wagner-Fan, aber die beiden in einen Topf zu werfen erscheint mir, entschuldige bitte, arg abenteuerlich und an den Haaren herbeigezogen.


    Es grüßt


    Tom

  • So ein Unsinn! :grmpf:


    Wagner ist ein Meister darin, ästhetische und strukturelle Bezüge herzustellen. Sue kann das überhaupt nicht. Deshalb produziert Sue im Gegensatz zu Wagner auch keine Kunstwerke.


    Abgesehen davon, dass Wagner sich bei seinen Stoffen nicht für Gegenwart und Realität interesssierte und nur mystischen Firlefanz auf die Bühne brachte, warum sollte er nicht die Geheiminsse in eine Oper umsetzen können. Dramaturgisch passt Sues Geschichte sehr gut zu Wagners Opernstil.


  • Abgesehen davon, dass Wagner [...] nur mystischen Firlefanz auf die Bühne brachte ...


    Einspruch (auch wenn das jetzt komplett OT ist)!


    Wagners Kunst ist philosophisch, literarisch, religiös und ästhetisch sorgfältig grundiert. In den „Tristan“ wirken neben Schopenhauer und Feuerbach vor allem die christliche Epik des Mittelalters und die romantische Todessehnsucht eines Novalis hinein. Im „Parsifal“ geht es um Versuchung (die ein schwül-erotisches Zauberreich auf einen aus der klirrenden Kälte der Gralswelt stammenden Ritter ausübt) und Erlösung vor dem Hintergrund einer Sinnkrise. Weitere Beispiele für das, was xenophanes „ästhetische und strukturelle Bezüge“ in Wagners Werk nennt, ließen sich mühelos anfügen.


    Was ist daran mystischer Firlefanz?


    Es grüßt


    Tom (der nie gedacht hätte, Wagner verteidigen zu müssen)

  • Nur noch 56 Seiten :klatschen:


    Das Ende ist wirklich schrecklich! So ein Courts-Mahler- Geschreibsel muss ich wirklich nicht haben! Und dann Rudolf, der gnädigste Herr, der über allem schwebt. Und als Sahnehäubchen obendrauf wird nun Marienblume doch noch zur Märtyrerin ihres Lebens. Oh Mann ...!


    Leider muss ich dieses Wochenende arbeiten. Deshalb vielleicht erst nächste Woche die Schlussstellungnahme!


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich wäre froh, wenn ich schon so weit wäre!


    Der 12. Teil, in dem ich mich gerade befinde, beschäftigt sich hauptsächlich mit den Zuständen in den Pariser Gefängnissen. Sue lässt sich die Gelegenheit nicht nehmen, an den Behörden Kritik zu üben und beschreibt auch die extreme Zwei-Klassen-Gesellschaft, die die Tagesordnung im Gefängnis beherrschte. Von Resozialisierung der Insassen ist hier keine Spur, statt dessen wird Wiederholungstätern als Abschreckung einfach eine unmenschliche Strafe selbst für kleinste Delikte in Aussicht gestellt.


    Das ist interessant zu lesen, auch wenn sich dabei die Haare sträuben, aber ich befürchte, dass Rudolf bald wieder eingreifen wird. Schließlich wurden im Gefängnis einige Kandidaten vorgestellt, die seiner Hilfe bedürfen.


    Grüße
    Doris

  • Hallo!


    Hier mein wortreiches Fazit:


    Die Mystères des Paris war einer der größten europäischen Romanerfolge des 19. Jahrhunderts. Zuerst in Fortsetzungen im Journal des Débats 1842 und 1843 publiziert, danach in diversen Buchausgaben. Er löste in Frankreich heftige Debatten aus. Der Inhalt war nämlich auf mehreren Ebenen “skandalös”. Sue begab sich thematisch in für die französische Literatur völlig neue Gefilde: Ins Milieu der Verbrecher, Prostituierten und der Armen. Üble Spelunken, Bordelle, Dachstuben, Gefängnisse, Irrenhäuser etc. sind bevorzugte Orte der Handlung. Grausige Verbrechen werden geschildert: Von Kindesmisshandlungen über Raubmorde hin zu Wirtschaftsverbrechen der “Bessergestellten”. Die Milieuschilderungen sind denn auch die besten Passagen des Buches.


    Der Held der 2000 Seiten ist die königliche Hoheit Rudolf aus einem deutschen Fürstentum, eine fragwürdige Mischung aus Robin Hood, Batman und Osama bin Laden. Er ist nicht nur unermesslich reich, sondern boxt auch den stärksten Bösewicht höchstselbst nieder. Er hilft den Armen und Verfolgten und bestraft die Bösewichter, ob reich oder arm. Versteht sich, dass unser deutscher Held hier fast ausschließlich zur Selbstjustiz greift.


    Die Intention Sues ist, bei aller Fragwürdigkeit im Detail, durchaus löblich. Er prangert berechtigt die sozialen Zustände seines Landes an und die Unfähigkeit des Staates, darauf zu reagieren. Er reiht sich damit in die Reihe der französischen Intellektuellen von Voltaire bis Sartre ein, die littérature engagée produzieren.


    Künstlerisch ist der Roman allerdings fulminant gescheitert. Die Handlung ist über weite Teile Kolportage. Die Figuren sind, bis auf einige Ausnahmen, klischeehaft und unglaubwürdig. Der strukturelle Zusammenhalt des Riesenwerks ist nicht gegeben. Zwar hat Sue die Handlung oberflächlich gut im Griff, speziell die Spannungsdramaturgie, aber es gibt keine darüber hinaus gehenden künstlerischen Klammern. Die vielen eingestreuten essayistischen Passagen mit seinen Weltverbesserungsvorschlägen schaden ästhetisch ungemein. Daran ist später selbst ein Tolstoi in Krieg und Frieden gescheitert. Erzählökonomie existiert nicht, so manches Kapitel wird unerträglich breit getreten.
    Die intellektuelle Reflexion der Hauptthemen (Verbrechen, Schuld etc.) ist ebenfalls erbarmungswürdig. Selbst wenn man nicht als Referenz an andere Klassiker des letzten Jahrhunderts denkt (Dostojewskij!).


    Wer also aus überwiegend literarischen Gründen liest, kann sich die Geheimnisse dieser Geheimnisse durchaus sparen. Aus literaturgeschichtlichen Gründen ist das Werk natürlich interessant. Eine Frage, die sich mir bei der Lektüre immer wieder aufdrängte, war: Warum scheitert Sue hier auf der ganzen Linie, während das bei Dickens trotz aller Ähnlichkeiten funktioniert, etwa im Oliver Twist? Dickens hält dem Leser keine Predigten und seine Figuren sind bei allen Gemeinsamkeiten “runder”. Das sind aber nur zwei Aspekte und sicher nicht hinreichend für eine Antwort.


    Was Sue sympathisch macht: Er sieht dieses künsterlische Scheitern nicht nur, er spricht es sogar aus:


    Wenn dieses Werk, das wir gern und ohne Bedenken in künstlerischer Hinsicht als ein schlechtes Buch gelten lassen können, das wir aber in moralischer Hinsicht durchaus für ein gutes Buch betrachten, wenn dieses Werk in seiner kurzlebigen Laufbahn den von uns beschriebenen und gewünschten Anklang findet, so würden wir uns geehrt fühlen. [VIII, 12]


    Aus ästhetischer Sicht zählt der Roman sicher zu den schlechtesten von mir je gelesenen Klassikern. Eine
    sozialpädagogische Literaturkatastrophe. Stellenweise aber unterhaltsam zu lesen.


    Quelle: http://koellerer.net/2009/12/06/eugen-sue/

  • Hallo,


    fertig!!


    xenophanes,
    deine profunde Stellungnahme erspart mir die meine!
    Ich möchte nur noch einmal den Finger auf eine Wunde des literarischen Scheiterns legen, auch wenn sandhofer sagt, dies sei der feuilletonistischen Veröffentlichung zu schulden.


    Es verärgert auch ungeübte Leser, wenn ihnen jede sprachliche Figur, jedes Gleichnis, jedes Symbol sofort erklärt wird: Das schadet dem Erzählfluss, hebt die Wirkung des Stilmittels komplett auf, ja verkehrt es fast in sein Gegenteil. Der Leser sollte niemals entmündigt werden, selbst in Nackenbeißern nicht!


    Aber ich bin dennoch froh, diesen Roman gelesen zu haben, weil er eben interessante sozialgeschichtliche Einblicke gibt und uns die Kunst der Sue umgebenden und nachfolgenden Autoren so richtig bewusst macht. Balzac und Zola widmen sich auch dem Abgründigen der Pariser Gesellschaft, aber auf welch anderem Niveau!


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)



  • Zu deiner Liste mystischer Elemente in Wagners Werk füge ich noch den "Ewigen Juden" hinzu, weil er auch ein Thema Sues war. Firlefanz ist lediglich die Kennzeichnung meiner abschätzigen Einstellung dazu.


    Da sich sowieso kein Opernkomponist an Sue getraut hat (so weit ich weiß), können wir das auch bei Seite lassen. Weil ich nur wenig Wagner gehört habe, das auch mit wenig Vergnügen und nur ein Buch über Wagner und seinen Antisemitismus kenne, mag es sein, dass ich im Kern falsch liege.

  • Ich habe mich übrigens dazu entschlossen, nach der Beendigung des ersten Bandes der Insel-Ausgabe, erstmal eine Sue-Pause einzulegen.

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)


  • Ich habe mich übrigens dazu entschlossen, nach der Beendigung des ersten Bandes der Insel-Ausgabe, erstmal eine Sue-Pause einzulegen.


    Ich hoffe, daß ich überhaupt soweit komme! :redface:


    Gruß
    josmar