Juli 2009 - Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

  • Gontscharow: ich habe die Radiosendung leider auch verpasst. Dafür habe ich mir aus der Bibliothek einen Band "Der Inselgarten" zukommen lassen, in dem die verschiedenen, während der Exilzeit auf Mallorca ansässigen Autoren vorgestellt werden, u.a. natürlich Thelen und Kessler, aber auch Franz Blei, Karl Otten und sogar Klaus Mann, der allerdings nur zwei Wochen dort weilte. Ich hatte leider noch nicht die Gelegenheit einen vertieften Blick hinein zu werfen. Was sich jedoch anscheinend feststellen lässt, ist der Umstand, dass der Kontakt der Autoren untereinander sehr oberflächlich, d.h. kaum vorhanden war. Z.T. wusste man wohl gar nicht von der jeweiligen Anwesenheit. Kessler und Thelen dürften da ein Ausnahme darstellen.
    Gerade Autoren wie Blei oder Otten waren mir bis anhin höchstens dem Namen nach (Blei) oder gar nicht (Otten) bekannt. Solche Bände bieten auch immer die Chance, neue Autoren zu "erschliessen".


    Ich habe nun auch mit den Briefen an Pascoaes begonnen: der Inhalt dreht sich hauptsächlich um Thelens Verehrung für den "Dichter Gottes" und seine endlosen Bemühungen, Verleger für dessen Werke zu finden, von denen er vier ins Deutsche übersetzt hat. Der Effort Thelens ist schon beeindruckend.


    sandhofer: warum eigentlich schreibst Du "Pescoaes" statt "Pascoaes"? Ist das eine zulässige, gar korrektere Variante des Namens? Warum aber ist sonst stets von Pascoaes mit a die Rede?


    Imrahil

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Weil ich meist aus dem Kopf zitiere, da ich das Buch nur selten zur Hand habe, wenn ich gerade schreibe ... :zwinker:


    Ja, nichts für ungut. Pascoaes selbst ist ja ein Pseudonym. Ich haben die Briefe nun zu Ende gelesen. Es gibt durchaus ein paar interessante Stellen zu Thelens 'bescheidenen' Lebensbedingungen, sein Kampf mit Verlegern und Behörden, ganz am Schluss kurz zur Insel und seine Kommentare zu Pascoaes' Werk. Gesamthaft sind die Briefe aber etwas eintönig, weil es halt primär um Übersetzungsarbeit und Verlegersuche geht. Da verspreche ich mir von der kommenden Briefausgabe mehr. Allerdings haben die Briefe mein Interesse für Pascoaes geweckt. Es wäre schön, wenn Du zu gegebener Zeit über Deine Lektüreeindrücke zu "Napoleon" berichten könntest, Sandhofer.

    "Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst..., das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen. - Thomas Bernhard, Gehen

  • Und gerade, weil ich Thelens Begeisterung für einen angeblichen Mystiker auch recht merkwürdig finde, habe ich mir gestern Pescaoes Napoleon in Thelens Übersetzung bestellt.


    Das Buch ist da - wann soll ich diese 400+ Seiten noch lesen ...?!?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Vielleicht bekommen wir mal noch ne Leserunde zustande, allerdings wohl nicht mehr dieses Jahr bei mir :zwinker: Doch nächstes Jahr wäre ich bei Thelen, in erster Linie bei "Der schwarze Herr Bahßetup", aber auch bei Pascoaes dabei!


    Imrahil

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  • Vielleicht bekommen wir mal noch ne Leserunde zustande, allerdings wohl nicht mehr dieses Jahr bei mir :zwinker:


    Nein, dieses Jahr wird's sicher nichts mehr bei mir. Ob nächstes Jahr? Mal schauen, ich muss mir erst wieder mal einen Überblick über meine diversen Verpflichtungen schaffen ... :winken: Allerdings werde ich wohl den Pascaoes noch dieses Jahr lesen, wenn es sich irgend ausgeht.

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  • Das Buch ist da - wann soll ich diese 400+ Seiten noch lesen ...?!?


    Gelesen habe ich es immer noch nicht. Dafür die paar Seiten Gedichte + ein "Interview", die Fernando Pessoa sein Heteronym Alberto Caeiro schreiben bzw. geben liess. Im Interview zieht Caeiro ziemlich hämisch über die Bewegung der Mystiker her, unter expliziter Nennung von Pescaoes. Könnte indirekt Richters Reaktion auf Thelen (mit)erklären ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Interessant. Allerdings ist mir nicht ganz klar wie Du den Schlenker von Pessoas zu Richter machst? Meinst Du Thelen wurde in den 50ern vor allem als Pascoaes-Übersetzer wahrgenommen und ebenfalls in die "Mystiker-Ecke" gestellt? Richters abschätzige Aussage bezog sich ja explizit auf Thelens Emigrantenstatus bzw. sein "Emigrantendeutsch". Werde demnächst für 2010, wenn es sein muss für 2011, eine Bahßetup-Leserunde anregen...


    Imrahil

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  • Meinst Du Thelen wurde in den 50ern vor allem als Pascoaes-Übersetzer wahrgenommen und ebenfalls in die "Mystiker-Ecke" gestellt?


    Als Übersetzer: vermutlich ja. Als Pascoaes-Übersetzer: unter Umständen, vermutlich, vielleicht. Das könnte über 27 Ecken und dann völlig unerwartet zu einem Kurzschluss in der Emigrantenecke geführt haben. Den nachzuweisen mir wahrscheinlich nie gelingen würde. Du siehst: Ich fische ziemlich im Trüben ... :breitgrins:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • So, eben habe ich das Buch aus dem Weidle Verlag Die Literatur in der Fremde, herausgegeben und aus dem Niederländischen übersetzt von Erhard Louven, beendet. Es vereint die von Thelen in den Jahren 1934 - 1940 unter dem Pseudonym Leopold Fabrizius verfassten Rezensionen deutscher Exilliteratur für die niederländische Zeitung Het Vaderland.


    Ich bin begeistert von dem Buch - in mindestens dreierlei Hinsicht:


    Es ist ein faszinierendes Kompendium der Exilliteratur jener Jahre zeitgleich gesehen durch die Augen des angehenden Romanciers Thelen in seinem Exil auf Mallorca und anderswo. In 40 Artikeln bespricht Thelen immerhin 143 Bücher von so renommierten Schrifstellern wie J. Roth, Horvath, Heinrich und Klaus Mann, Feuchtwanger, Werfel, Arnold und Stefan Zweig, Keun, O.M. Graf, Seghers, Kesten, Döblin, um nur die bekanntesten zu nennen! Erstaunlich, was in diesen sechs Jahren an Bedeutendem entstanden ist! Thelen schreibt hier unprätentiös, aufs Wesentliche konzentriert, gut lesbar, moderat, dabei aber nicht unkritisch, und ab und an blitzt auch die vertraute Thelen'sche Ironie auf. So z. B. wenn er über Klaus Manns Vulkan, den groß angelegten Roman der Emigration schreibt: Auf 700 Seiten bringt uns Mann unter die Emigranten ...... und man vermisst eigentlich nur noch ein Requisit, das in Kürze ganz bestimmt nicht fehlen wird: die Emigrantenratsche, mit der sich diese Verdammten dem Publikum zu erkennen geben wie im Mittelalter die Leprösen.


    Meine ursprüngliche Motivation für die Lektüre war, O-Ton Thelen aus den Jahren zu hören, über die er mit einem Abstand von fast zwei Jahrzehnten in der Insel schreibt. Im letzten Teil stellt sich Thelen/Vigoleis ja als erklärten hellsichtigen Anti-Faschisten dar, der alles durchschaut und voraussieht, sogar besser als andere Betroffene und Hilfesuchende, und jegliche Angebote von Nazi-Größen auf der Insel ausschlägt. Da kamen manchmal Gedanken wie: Na ja, nun, da alles klar und es opportun ist, ist leicht zu sagen: Ich war immer dagegen, ich hab's gleich gewusst und was der rückwärtsgewandten Prophetie mehr ist. In Thelens Rezensionen vor der Folie der Zeitgeschichte wird nun eindrucksvoll die Unbeirrbarkeit seines politischen Urteils deutlich. Ja, er hat von Anfang an gewusst, was da lief, was sich anbahnte und er prangert es an!
    Thelen schrieb die Artikel auf Deutsch, Meno ter Braak übersetzte sie ins Niederländische und Erhard Louven, übrigens ein Verwandter Thelens, der auch das kluge Vorwort geschrieben hat, rückübersetzte sie ins Deutsche. Da ist natürlich einiges "lost in translation". Zudem strich Menno ter Braak politisch allzu anstößige Stellen. ( Thelen erwähnt das auch in der Insel und vermutet, dass die Niederländer um ihren Gemüseabsatz in Deutschland fürchten :breitgrins:) Egal, was von Thelens ursprünglichen Artikeln übrigbleibt, spricht eine klare Sprache. Das hat mich irgendwie sehr gefreut und mir meinen Kompatrioten Thelen noch sympathischer gemacht.


    Gefreut an dem Buch hat mich auch, dass Thelens Freund und Mentor, der konsequente Antifaschist Meno ter Braak, (der sich übrigens @ sandhofer in Thelens Kosmos als Antipode Pascoaes' sah) hier noch einmal gewürdigt wird! Thelens letzter Artikel erschien am 28.04.1940.
    Am 14. Mai 1940 setzte Meno ter Braak seinem Leben ein Ende, wenige Tage nachdem deutsche Truppen in die Niederlande einmarschiert waren.


    @ bigben: Dein Buch müsste mittlerweile auch angekommen sein. Hast Du mal reingeschaut?


  • @ bigben: Dein Buch müsste mittlerweile auch angekommen sein. Hast Du mal reingeschaut?


    Reingeschaut schon. Aber zu mehr hatte ich bisher keine [das Passende bitte hier einsetzen]. :redface:

    "Es ist die Pflicht eines jeden, es auch auszusprechen, wenn er etwas als falsch erkennt." --- Stefan Heym (2001)

  • Gelesen habe ich es immer noch nicht. Dafür die paar Seiten Gedichte + ein "Interview", die Fernando Pessoa sein Heteronym Alberto Caeiro schreiben bzw. geben liess. Im Interview zieht Caeiro ziemlich hämisch über die Bewegung der Mystiker her, unter expliziter Nennung von Pescaoes. Könnte indirekt Richters Reaktion auf Thelen (mit)erklären ...


    Hab's nun heute - um mich von Sue zu erholen - angefangen. Es liest sich, wie wenn Dostojewskij oder Nietzsche sich unterfangen hätten, eine Napoleon-Biografie zu schreiben. Schon ein bisschen viel mystisches Geschwurbel für meinen Geschmack, aber die Sprache: impecable. Ob das auf die Kappe des Portugiesen oder seines Übersetzers geht, kann ich nicht beurteilen. Warum allerdings Thelen für diesen Autor so schwärmen kann, hat sich mir (noch?) nicht erschlossen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus