Lyrikleser

  • Paul Celan hat einmal geschrieben Gedichte verändern wohl nicht die Welt, aber das In-der-Welt-Sein. In diesem Sinne gehören Gedichte für mich zum fast täglichen Lebenselixier. In keiner Textform kann man auf so engem Raum existentielle Aussagen treffen wie im Gedicht. Zudem ist das assoziative, bildhafte Denken, aus dem heraus ein Gedicht entsteht, mir näher als das logisch-kausale-diskursive.


    Angefangen, Gedichte zu lesen, habe ich vor vielen Jahren bei Georg Trakl. Erst hat mich das geheimnisvolle dieser Sprache fasziniert, später kamen andere Erkenntnisse und Dichtwerke hinzu.


    Immer wieder gerne lese ich daher schon seit Jahrzehnten: Friedrich Hölderlin, Novalis, Nikolaus Lenau, Heinrich Heine, Georg Trakl, Rainer Maria Rilke, Paul Celan, Ernst Meister, Ingeborg Bachmann, aber auch viele zeitgenössische, d.h. noch lebende Dichter.

  • Lyrik ist bisher für mich das Geheimnisvollste in der Literatur, oft habe ich empfunden, "das ist poetisch", und fragte mich, was das eigentlich heißt. Meine Antwort, die ich schon einmal erwähnte, war: Mit Bildern dieser Welt weltfremd zu werden. Bei Dauthendey wurde es mir klar als er malte, dass die untergehende Sonne auf dem Haupt einer Frau als Krone schmilzt.


    Mein Lieblingsgedicht ist wohl Georg Heyms "An Hildegard K.", vor allem die Strophe: "Komm, gib mir die Hand / Wir wollen einander verwachsen / Einem Wind Beute / Einsamer Vögel Flug" - doch mein' ich, müsste man's von Anfang an lesen.


    Ein Dritter: Rilke; und ein Vierter: Stefan George.


    Bei diesen vier Dichtern empfinde ich sehr viel aber begreifen tu ich nichts.

    Zitat

    Zudem ist das assoziative, bildhafte Denken, aus dem heraus ein Gedicht entsteht, mir näher als das logisch-kausale-diskursive.


    Die meiste Zeit sind mir die vernünftigeren Texte lieber, aber Lyrik in der passenden Stimmung ist viel ergreifender. Die Worte von Georg Heym zum Beispiel kriechen nur so in mein Gemüt hinein, gleichsam ohne mein Zutun, während ich bei Doderer oder Thomas Mann doch viel selber nachdenken muss.



    Ich bin aber zu selten in der poetischen Stimmung und lese sehr selten Gedichte.


    Auch schön ist Peter Handkes "Lied vom Kindsein".



    Hast du konkrete Gedichtempfehlungen?


    Gruß

  • Wirklich empfehlen kann man auf dem Gebiet der Lyrik nicht, da diese Gattung einfach zu persönlich ist; das muss wohl jede/r selbst herausfinden.


    Wohl aber habe ich einen Fundus an Gedichten (auch solchen, die ich auswendig kann), die mich ständig begleiten.


    Dazu zählen Rilkes "Panter" und "Herbsttag" genauso wie Trakls "Winterabend" oder "Rondel", Gottfried Benns "Reisen", Heinz Pionteks "Bootsfahrt", aber auch "Im Park" von Joachim Ringelnatz...


    Das Heym-Gedicht, das du erwähnst, gehört sicher auch zu den beeindruckenden (noch besser gefällt mir sein "Alle Landschaften haben / sich mit Blau gefüllt..."

  • Ja, scardanelli, das ist gut. Danke für die Antwort. Ich fand online: Benns "Reisen" und Trakls "Rondel" und es sind beide sehr schön. Einige andere ergreifen mich aber nicht so sehr. Den "Herbsttag" liebe ich auch, und ich glaube, es lieben ihn viele.



    Es ist schwierig über Lyrik zu sprechen, zumindest für mich. Manchmal, in Alltagsgesprächen, da kommt's vor, dass ich minutenlang über Adalbert Stifter oder Thomas Bernhard oder Jean Paul sprechen kann, dabei auch oft recht pathetisch werde. Aber wie soll man über Gedichte reden?



    Ich hoffe, dieser Ordner wird, wegen dieses Misch-Masches, nicht als uferlos abgetan. Je uferloser, desto reicher...!


    Gruß

  • Ich hoffe mal, wenn ein gewisses Niveau erhalten bleibt, wird der Thread nicht als "uferlos" abgetan oder gelöscht.


    Da ich seit über dreißig Jahren mich mit Lyrik produktiv und reproduktiv auseinandersetze, weiß ich nicht, wo das Problem liegt, über Gedichte zu sprechen. Gedichte sind auch Sprache - halt etwas anders gestaltet als ein Prosawerk. Kindern erkläre ich immer, Gedichte sind Bilder, die mit Worten gemacht werden. Das ist ganz augenfällig bei der sog. Visuellen oder Konkreten Poesie, aber auch andere Gedichte, die noch den Sinn einer Metapher kennen, "bebildern" ja einen gemeinten Sinn mit Worten (mit deren Bedeutung, deren Klang, sogar dem Schriftbild, den ausgelösten Assoziationen u.ä.).


    Mir kann ein gutes Gedicht jedenfalls stundenlange Romanlektüre ersetzen, wenn es etwas in mir auslöst und zum Weiterdenken anreizt. Und das Tolle - ein wirklich gutes Gedicht ist nie "ausgelesen"; es entfaltet zu anderer Zeit einen neuen Reiz.

  • Ich bin unfähig, mehr über Gedichte (und Musik) zu sagen als: "Es gefällt mir" oder eben nicht; freilich in vielen Variationen. Es liegt wohl daran, dass hier vor allem die Empfindungen ganz vorne stehen. Zumindest bei poetischen Texten. Bei Balladen oder Lehrgedichten ist es wieder anders. Von Lenau fällt mir zum Beispiel ein Gedicht ein, das man doch öfters anführen kann, nämlich "die drei Zigeuner", die so bewundernswert müßig sind, deren Leben letztendlich aber doch nur verraucht, vergeigt und verschlafen wird. - - Ich finde das Gedicht gut, aber nicht poetisch. Mehr von Lenau kenn' ich bisher nicht.


    Gerade las ich Trakls "Menschheit". Und es ergreift mich wieder sehr.


    Vor einiger Zeit spielte ich mit dem Gedanken herum, die wenigen Gedichte, die ich kenne und die mich ergreifen, in eine Art "Poesialbum" handschriftlich hineinzuschreiben, und vielleicht auch etwas dazuzuzeichnen - - um es vielleicht, irgendwann, einer guten Freundin mit ähnlichem Geschmack zu verschenken. :redface: :zwinker:


    Naja! Die Lyrik gilt es für mich noch zu entdecken, aber es sind noch viele andere unbekannte Felder da draußen, dass ich nicht weiß, wie rasch es vonstatten gehen wird!


    Gruß

  • Über Lyrik kann man genauso sprechen wie über andere Texte, denn "Gedichte werden aus Worten gemacht, nicht aus Gefühlen", wie Mallarmé mit Recht feststellte. Dass ein Leser bei Gedichten Gefühle assoziiert, ist erst einmal eine sekundäre Sache.


    Gedichte, die einem gefallen, aufzuschreiben, ist sicher auch eine Möglichkeit; meinen kleinen Ordner (ca. dreißig Gedichte) habe ich im Kopf.


    Im übrigen ist die Lyrik in der Tat ein weites Feld... :zwinker:

  • Hallo miteinander,


    Lyrik ist in der Tat sehr privatim und hat nicht unbedingt mit der sonstigen Welteinstellung zu tun.
    So liebe ich, obwohl ansonsten durchaus fortschrittlich eingestellt :breitgrins:, besonders - neben dem einzigen Goethe - Eichendorff und Benn, weil das für mich - auf die Breite ihres Schaffens bezogen, die drei großen Magier des Sprachklangs unseres Idioms sind. Viele andere Dichter - Rilke, Celan, und und und ...erreichen in vielen Gedichten auch diese Magie, aber bei diesen dreien kann man fast hingreifen, wo man will.


    HG


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • suum cuique - ich mag weder diese sendung noch den gedruckten conrady (zu subjektiv seine auswahl, zu unkritisch oft sein material zu gewissen zeiten); zudem wirft dies die grundsätzliche frage auf, gedichte laut lesen oder nicht?
    ich bevorzuge gedichte, die im stillen raum zwischen text und leser bleiben (zumal ich das druckbild sehen will); laute stören mich da eher...

  • Zitat von scardanelli


    suum cuique - ich mag weder diese sendung noch den gedruckten conrady (zu subjektiv seine auswahl, zu unkritisch oft sein material zu gewissen zeiten);


    Mir dagegen gefällt die gedruckte Conrady-Gedichtanthologie sehr gut, sie bietet einen guten Überblick über die deutsche Lyrik von den althochdeutschen Anfängen bis zur Gegenwart, gerade auch für Lyrik-Einsteiger halte ich den Conrady deshalb für sehr empfehlenswert. Den Vorwurf der Subjektivität kann man natürlich immer machen, nur: wie soll denn eine objektive Auswahl aussehen? Welche Anthologie macht das besser als der Conrady? Mir fiele da noch die von Walther Killy hrsg. Sammlung Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart ein, erschienen in zehn Bänden bei dtv. Die ist natürlich auch sehr interessant.


    Klar, jeder wird im Conrady das ein oder andere Gedicht vermissen (bei zeitgenössischen Gedichten hat das manchmal auch ganz einfach nur urheberrechtliche Gründe), dafür wird er im Conrady aber auch vieles ihm Unbekannte antreffen.


    Die gesprochene Conrady-Anthologie habe ich als Hörbuch, da höre ich gerne immer wieder mal hinein, das einzige, was mich stört, ist, daß die Namen der Dichter nicht angesagt werden. Wenn man wissen will, wen man da eigentlich gerade hört, muß man ins Beiheft schauen, das hätte man besser machen können.


    Zitat von scardanelli


    zudem wirft dies die grundsätzliche frage auf, gedichte laut lesen oder nicht?


    Das eine schließt das andere ja nicht aus. Zum Hör-Conrady gibt es übrigens auch eigens eine dazu passende gedruckte Ausgabe, in der man alle vorgetragenen Gedichte nachlesen kann.


    Ansonsten sind die meisten Gedichte ja zum Lautlesen gedacht, es ist natürlich richtig: aus einem bloß gehörten Gedicht kann man normalerweise nicht das Druckbild rekonstruieren, das bei Gedichten aber wichtig ist, denn Gedichte bestehen aus Versen, und die Verseinteilung kann man in vielen Fällen nicht "erhören", man muß sie sehen. Der optische Eindruck eines Gedichtes ist sehr wichtig, es handelt sich nicht um Prosa, die mehr oder weniger beliebig umformatiert werden kann. Aber wie gesagt: Der Hör-Conrady soll einen ja nicht vom Gedichtelesen abhalten, ganz im Gegenteil.


    Manche Gedichte erschließen sich auch erst richtig beim Hören, ich denke da an die Dialektgedichte von H. C. Artmann oder auch an Gedichte von Oskar Pastior, wie etwa seine "Ballade vom defekten Kabel". Die meisten Dichter haben ihre Gedichte auch vorgelesen - oder auch Gedichte, die sie übersetzt haben. Von Paul Celan gibt es beispielsweise das schöne Hörbuch: Paul Celan liest Gedichte von Ossip Mandelstam und Sergej Jessenin.


    Schöne Grüße,
    Wolf


  • ...
    Mir dagegen gefällt die gedruckte Conrady-Gedichtanthologie sehr gut, sie bietet einen guten Überblick über die deutsche Lyrik von den althochdeutschen Anfängen bis zur Gegenwart, gerade auch für Lyrik-Einsteiger halte ich den Conrady deshalb für sehr empfehlenswert. Den Vorwurf der Subjektivität kann man natürlich immer machen, nur: wie soll denn eine objektive Auswahl aussehen? Welche Anthologie macht das besser als der Conrady? ...
    ...
    Ansonsten sind die meisten Gedichte ja zum Lautlesen gedacht...


    Der Conrady ist wie alle Anthologien von Übel; da mischt sich immer (sehr selten) Großartiges mit viel Mittelmaß und einigem an Minderwertigem. Zudem ist C. zu tolerant gegenüber Nazis; eine Agnes Miegel oder gar ein Heinrich Anacker gehören einfach nicht erinnert (zumal dies anderen, besseren den Platz wegnimmt); das ist diese typisch sozialdemokratische Toleranz, die keine Grenze kennt und damit zur Beliebigkeit verkommt.


    Die Behauptung, Gedichte seien zum Laut-Lesen gedacht, ist eine immer wieder vorkommende, die durch die Wiederholung nicht wahrer wird. Wie gesagt, mir ist das Schriftbild viel wichtiger und ich kann mir auch beim Leise-Lesen die Klanggestalt vorstellen.

  • Zitat von scardanelli

    Der Conrady ist wie alle Anthologien von Übel;


    Ich habe von Anthologien noch kein Übel erfahren, auch beim Conrady drohen keine unheilvollen Auswirkungen - außer vielleicht, wenn er einem aus Versehen auf den Fuß fällt: bei einem solchen Fall wäre ein dünner Gedichtband natürlich das geringere Übel.


    Eine gute Anthologie ist von großem Nutzen: man bekommt einen schnellen Überblick über ein bestimmtes Gebiet. Bei mir im Regal stehen u. a. Anthologien mit den Titeln <i>Portugiesische Lyrik</i>, <i>Japanische Lyrik</i>, <i>Moderne chinesische Lyrik</i>, <i>Moderne arabische Dichtung</i> (= "Die Farbe der Ferne", hrsg. von Stefan Weidner, gefiel mir sehr gut), <i>Gedichte aus Europa</i> (= "Schönes Babylon", hrsg. von Gregor Laschen, sehr schön, jeweils mit Originaltext und mindestens einer Übersetzung, manchmal sogar mit zwei verschiedenen deutschen Übersetzungen).


    Natürlich kann in solchen Anthologien etwas Wichtiges fehlen oder etwas Unwichtiges enthalten sein, aber was wäre denn die Alternative? Soll ich mir blind irgendwelche Einzelbände kaufen oder ausleihen? Das wäre doch unsinnig. Ich könnte in Literaturlexika nachschlagen und mir eine Liste mit lesenswerten Gedichtbänden erstellen. Eine Anthologie finde ich da aber viel praktischer, sie ist nicht nur eine bloße Liste, sondern ich habe auch gleich die Texte vor Augen; und wenn ich der einen Anthologie nicht recht traue, dann besorge ich mir eben noch eine zweite zum selben Thema. Wenn mir in einer Anthologie der ein oder andere Dichter auffällt, dann beschaffe ich mir den entsprechenden Einzelband. Beispielsweise wäre ich nie darauf gekommen, mir den Gedichtband <i>Trommel aus Stein</i> des guatemaltekischen Dichters Humberto Ak'abal zu kaufen, wenn ich nicht ein geniales Gedicht von ihm in der Anthologie <i>Minima Poetica</i>, hrsg. von Joachim Sartorius, gelesen hätte. Auch auf Oswald Egger wurde ich durch diese Anthologie aufmerksam und habe mir dann seinen Gedichtband <i>Nichts, das ist</i> gekauft. Dieser Band hat mir großen Spaß gemacht, ein Muß für Freunde der hermetischen Dichtung. :-)


    Es gibt auch thematische Anthologien, ich habe u. a. Sammlungen mit Gedichten übers Essen, die schönsten Rosengedichte, blaue Gedichte (Gedichte, in denen die Farbe Blau vorkommt, gibt's auch für andere Farben), deutsche Naturlyrik, Liebesgedichte von Frauen (das Gegenstück "Liebesgedichte von Männern" gibt es ebenfalls), komische deutschsprachige Gedichte des 20. Jahrhunderts (darin ist übrigens auch Paul Celan vertreten).


    Diese und die anderen Anthologien in meinem Bücherregal sollen von Übel sein? Und nicht nur die, sondern sogar "alle" Anthologien? Ich glaub's nicht. ;-)


    Noch ein Beispiel für den Nutzen von Anthologien: In Deinem threaderöffnenden Eingangsposting nanntest Du eine Reihe von Dichtern von Trakl bis Bachmann, die mir bis auf eine Ausnahme alle bekannt waren und die ich größtenteils sehr schätze, weshalb ich von ihnen auch Einzelausgaben besitze, von Lenau zugegebenermaßen nur eine ererbte Ausgabe, in der ich aber früher viel herumgelesen habe. Ich kannte also wie gesagt alle, nur diesen einen nicht: Ernst Meister. Von ihm hatte ich deshalb natürlich auch keinen Gedichtband, aber ich griff zur nächstgelegenen mir geeignet erscheinenden Anthologie, das war nicht der Conrady, der etwas entfernter in einem Nebenzimmer stand, sondern: <i>Jahrhundertgedächtnis: Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert</i>, hrsg. von Harald Hartung. Darin war Ernst Meister glücklicherweise vertreten, und ich konnte gleich einige seiner Gedichte lesen. Na, bitte. :-)


    Zitat von scardanelli

    [...] da mischt sich immer (sehr selten) Großartiges mit viel Mittelmaß und einigem an Minderwertigem.



    Es gibt sogar eine Anthologie, die den kuriosen Untertitel trägt: "Poesie deutscher Minderdichter vom 16. bis zum 20. Jahrhundert". Da hat sich der Herausgeber bemüht, nur zweit- und drittklassiges zu versammeln. ;-)


    Von Borges gibt es übrigens das Gedicht "An einem minderen Dichter der Anthologie".


    Zitat von scardanelli


    Zudem ist C. zu tolerant gegenüber Nazis; eine Agnes Miegel oder gar ein Heinrich Anacker gehören einfach nicht erinnert (zumal dies anderen, besseren den Platz wegnimmt); das ist diese typisch sozialdemokratische Toleranz, die keine Grenze kennt und damit zur Beliebigkeit verkommt.


    Weshalb die Toleranz gegenüber Nazis nun ausgerechnet eine typisch sozialdemokratische Toleranz sein sollte, kann ich nicht nachvollziehen.


    Zu den "Nazi-Gedichten" hat sich Conrady ja schon öfter geäußert, in einem Interview, das man im Netz nachlesen kann, sagte er:


    Zitat


    »Ich wollte eine Dokumentation der unterschiedlichen Spielarten von Lyrik in deutscher Sprache, keinen Kanon der Meisterwerke deutscher Lyrik. Die sind zwar hoffentlich dabei, aber eben auch Gedichte, die man nur kritisch lesen kann. Ich habe auch einige Beispiele der Lyrik aus der Zeit des Dritten Reiches aufgenommen – natürlich abgesichert durch eine Fußnote und durch Erläuterungen im Vorwort. Denn solche Gedichte waren ein markanter Teil der NS-Selbstdarstellung.«


    Deinen Vorwurf, daß ein solches Vorgehen "anderen, besseren den Platz wegnimmt", halte ich für aus der Luft gegriffen. Welche besseren Dichter sind denn deswegen tatsächlich aus Platzgründen weggefallen?


    Zitat von scardanelli


    Die Behauptung, Gedichte seien zum Laut-Lesen gedacht, ist eine immer wieder vorkommende, die durch die Wiederholung nicht wahrer wird.


    Die Nähe der Gedichte zum Lied ist doch unübersehbar, was man nicht nur an der Etymologie von Wörtern wie "Lyrik", "Ballade", "Elegie", "Sonett" erkennen kann. Der Reim und auch das Versmaß betreffen doch in erster Linie die Lautung, nicht die Schreibung. Beim traditionellen Auswendiglernen von Gedichten geht es um die Wiedergabe der Lautform, nicht um die schriftliche Wiedergabe; dazu müßte man sich ja die genauen Satzzeichen merken, das ist doch völlig unüblich.


    Für Dichter wie Ernst Jandl, Robert Gernhardt oder Oskar Pastior war das Vorlesen ihrer Gedichte nicht irgend etwas Zweitklassiges oder Unwichtiges, nein, dadurch wurde das Gedicht erst richtig erschlossen und sein Potential ausgeschöpft, was durch die Schriftform allein nicht möglich gewesen wäre. Thomas Kling hat Gedichtbände mit beigelegten CDs veröffentlicht, beispielsweise den Band "Fernhandel", den ich im Regal stehen habe. Auf den CDs spricht er seine Gedichte, es war ihm wichtig, daß man das nicht nur liest, sondern auch hört.


    Zitat von scardanelli


    Wie gesagt, mir ist das Schriftbild viel wichtiger und ich kann mir auch beim Leise-Lesen die Klanggestalt vorstellen.


    Natürlich kann man sich das vorstellen; es gibt sogar Menschen, die sich vorstellen können, wie eine Sinfonie klingt, wenn sie nur das Notenblatt vor sich liegen haben. Aber dazu muß man vorher schon viel gehört haben, sonst funktioniert das nicht. Und selbst wenn man sich das wirklich genau vorstellen könnte, macht es trotzdem Spaß, sich eine bestimmte Interpretation anzuhören, wenn das Stück von jemandem vorgetragen wird, der Ahnung von der Sache hat.


    Das Hören ist eine Erweiterung und Bereicherung, auf die ich nicht verzichten wollte. Paul Celan lese ich nicht nur gerne, sondern ich habe auch Hörbücher von ihm: <i>Ich hörte sagen</i>, wo er selber vorliest und die CD <i>Gedichte von Paul Celan</i>, wo Christian Brückner Celan-Gedichte vorträgt.


    Als vor einiger Zeit das Hörbuch <i>Das Schmetterlingstal</i> von Inger Christensen herauskam, habe ich mir das sofort gekauft und voller Freude angehört. Gelesen hatte ich den Sonettenkranz <i>Das Schmetterlingstal</i> schon mehrmals, er wird als Meisterwerk der europäischen Poesie bezeichnet, nicht zu Unrecht, ein wunderbares und beeindruckendes Werk. Im Hörbuch trägt Hanna Schygulla die deutsche Übersetzung vor, die Dichterin Inger Christensen liest das dänische Original <i>Sommerfugledalen</i>. Ich bin sehr froh, daß ich das nicht nur lesen, sondern auch hören konnte.


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Du deutest die Alternative zu den meist überflüssigen Anthologien ja selbst an: Einzelwerke, also Originale lesen und sich nicht auf die Auswahl eines mehr oder weniger (meist eher weniger) dafür qualifizierten Herausgebers zu verlassen.


    Ich denke, man hat sehr bald ein Gespür dafür, welche Art Lyrik man bevorzugt - und dann wird man auch schnell die Dichter finden, die diese Art Lyrik schreiben - und kann diese dann lesen (ich habe vergleichsweise viele Gesamtausgaben im Bücherschrank), bei lebenden Zeitgenossen, die mir zusagen, oft alle Einzelbände.


    Und was die Nähe zum Lied angeblich angeht - naja, große Teile bedeutender Lyrik haben unregelmäßige Rhythmen (schon bei Hölderlin zu finden) - die ganze "klassische Moderne" sowieso - die Nähe zum Lied sehe ich da nicht, sondern eher den Versuch, einen ganz eigenen Rhythmus zu finden, einen eigenen Ton (den man aber nicht aus der Stille herausholen muss).


    Und noch eine letzte Bemerkung zum Conrady: Da ich ein paar Jahre selbst verlegt habe (und nur deshalb habe ich diesen "Schinken" als Belegexemplar im Schrank), kenne ich Dutzende bessere Dichter als die, die er ausgewählt hat...

  • Vielleicht denkt Wolf - zum Thema Liednähe - an die Antike (Homer schrieb in einer gebundenen Sprache, seine Hexameter wurden musikalisch vorgetragen), oder an das Mittelalter (Walther von der Vogelweide oder Oswald von Wolkenstein, von dem sogar Noten überliefert sind), und möglicherweise auch ein wenig an Schubert oder Mahler, die nicht wenige Gedichte vertont haben.


    Es scheint von Gedicht zu Gedicht oder von Gattung zu Gattung oder von Epoche zu Epoche anders zu sein.


    Gruß

  • Zitat von scardanelli


    Du deutest die Alternative zu den meist überflüssigen Anthologien ja selbst an: Einzelwerke, also Originale lesen und sich nicht auf die Auswahl eines mehr oder weniger (meist eher weniger) dafür qualifizierten Herausgebers zu verlassen.


    Vermutlich gibt es mehr unqualifizierte Lyriker als unqualifizierte Herausgeber. ;-) Außerdem führen die Anthologien nicht von den Einzelbänden weg, sondern zu ihnen hin.


    Zitat von scardanelli


    Und was die Nähe zum Lied angeblich angeht - naja, große Teile bedeutender Lyrik haben unregelmäßige Rhythmen (schon bei Hölderlin zu finden) -


    Auch Gedichte in freien Rhythmen haben Komponisten zu Vertonungen angeregt, was bei Prosastücken weit weniger der Fall war. ;-) Die Versdichtung hat nun einmal von Haus aus eine größere Nähe zur Lautung als die Prosa. Und was die zeitgenössische Dichtung angeht: ich hatte ja schon einige bekannte Dichter erwähnt, die ihre Gedichte sehr gerne vorgetragen haben. Wer auf das Hören verzichtet, der verpaßt da ganz einfach etwas.


    Ich bin sehr froh, daß es eine Website wie <a href="http://lyrikline.org/">lyrikline.org</a> gibt, nicht nur eine einfache Anthologie, sondern eine Anthologie mit Vertonung - keineswegs ein doppeltes Übel, sondern ein doppeltes Glück. :-) Als Beispiel das Gedicht <a href="http://lyrikline.org/index.php?id=163&L=0&author=lm00&poemId=53&cHash=dd23008b9e">Fledermaus-Ultraschall</a> des berühmten australischen Lyrikers Les Murray, das im Gedichtband <i>Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen</i> abgedruckt ist (erschienen bei Hanser, übersetzt von Margitt Lehbert). Die Originalfassung <a href="http://lyrikline.org/index.php?id=162&L=0&author=lm00&show=Poems&poemId=331&cHash=0569a93af6">Bats' Ultrasound</a> findet sich dort ebenfalls, und man kann sie sich dort auch anhören, was sich besonders für die abschließenden Verse sehr lohnt.


    Wie in fast jeder Anthologie gibt es natürlich auch in lyrikline.org Mängel, so ist etwa dieser <a href="http://lyrikline.org/index.php?id=162&L=0&author=ks00&show=Poems&poemId=507&cHash=c4e9182e1d">japanische Originaltext</a> von Kazuko Shiraishi nicht nur verdreht, sondern auch noch spiegelverkehrt abgebildet.


    Zitat von scardanelli


    Und noch eine letzte Bemerkung zum Conrady: Da ich ein paar Jahre selbst verlegt habe (und nur deshalb habe ich diesen "Schinken" als Belegexemplar im Schrank), kenne ich Dutzende bessere Dichter als die, die er ausgewählt hat...


    Erstens wollte Conrady ja die ganze Bandbreite der deutschen Lyrik zeigen, er wollte keinen Kanon der Meisterwerke, von denen aber trotzdem genügend in seiner Anthologie enthalten sind; und zweitens ist es ja sehr schön für Dich, daß Du diese besseren Dichter kennst, dann laß doch mal hören, wen Conrady Deiner Meinung nach zu Unrecht in seiner Anthologie übergangen hat. Betrifft Deine Kritik nur die Zeit des Dritten Reiches oder beispielsweise auch das 19. Jh. oder die Dichtung des Barock im Conrady? Ist ihm die Darstellung der mittelhochdeutschen Dichtung gelungen?


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Außerdem führen die Anthologien nicht von den Einzelbänden weg, sondern zu ihnen hin.


    Warum dann den Umweg über Anthologien gehen und nicht gleich die originale Einzelbände lesen? Das werde ich nie verstehen.


    Im übrigen habe ich keine Lust, über den unsäglichen Conrady zu diskutieren, weil das ihm ein Gewicht verleihen würde, das er nicht besitzt.


    Ich lese keine Anthologien, sondern Gesamtausgaben und Einzelbände.
    Ich ziehe als optisch ausgerichteter Mensch das Druckbild dem Klangbild vor (und sehe das nicht als Einschränkung).
    Andere dürfen andere Gewichtungen setzen - suum cuique.

  • Vielleicht ein Tipp gefällig?
    In all den Jahren, in denen ich - mit großem Gewinn - niederländische Lyrik lese, habe ich mich immer gewundert, warum es keine deutsche Übersetzung der Gedichte des Rutger Kopland gibt - in seinem Land ein Star, der ganze Hallen füllt und Poesie-Bände mit Auflagen in den hohen Tausendern hat.


    Diesem Missstand hat nun das Lyrik-Kabinett München etwas Abhilfe geschaffen durch die Edition
    Rutger Kopland
    Dank sei den Dingen
    ISBN 978 3 446 23071 2

    (Edition Lyrik Kabinett bei Carl Hanser)

  • Liebe Lyrikfreunde,


    ich möchte Euch Stefan Zweigs Ergüsse über Hölderlins Poesie nicht vorenthalten. In "Der Kampf mit dem Dämon" heißt es:


    „Poesie ist ihm [Hölderlin] ... Aufschließung der letzten Wahrheit, das trunkene Geheimnis, Hostie und Wein, das den Leib ... glühend dem Unendlichen weiht und verbindet. ... In der Poesie erkennt er fürchtig den Atem des Göttlichen, der die Erde befruchtet und beseelt, die einzige Harmonie, in der sich der urewige Zwiespalt des Seins für selige Augenblicke löst und entspannt. ... [Für Hölderlin wird] Dichtung das einzige „freundliche Asyl“ des Allverstoßenen."


    Oh Freunde, welch ein Krampf! Und so geht es in einer Tour weiter. Ach Stefan ...!


    Es grüßt


    Tom