September 2006 - Marcel Proust

  • Hallo zusammen,



    und natürlich dürfen wir Marcel nicht alles glauben, was er schreibt.
    so z.B.


    Warum hatte sie mir nicht gesagt: Ich habe diese Neigung? Ich hätte nachgegeben, ich hätte ihr erlaubt, sie zu befriedigen, und würde sie noch in diesem Augenblick küssen


    ja, sehr glaubwürdig! Aber es ist natürlich bequem für Marcel, sein besitzergreifendes Wesen nur auf Albertines Verschweigen ihres Doppellebens zurückzuführen. Hätte sie ihm tatsächlich offen über ihre Neigung berichtet, wäre er sicher genauso eifersüchtig, wenn nicht mehr. Aber so kann er die Verantwortung Albertine zuschieben.


    Zu den Erinnerungen fand ich noch folgendes Zitat aufschlussreich:


    Zitat

    Was wir empfinden, ist das einzige, was für uns existiert, wir aber projizieren es in die Vergangenheit, in die Zukunft, ohne uns durch die fiktiven Schranken des Todes aufhalten zu lassen.


    Und tatsächlich lebt Marcel seit Albertines Flucht fast nur noch in seinen Empfindungen. Einflüsse von außen sind ganz geringfügig (Saint-Loups Besuch, Aimés Briefe) und nur insoweit interessant, als sie Marcels Gefühle beeinflussen. Er ist komplett in sich eingekapselt. Dass er seine Innenwelt als die tatsächliche und die "Außenwelt" als nicht real ansieht, zeigt sich darin, dass er den Tod als fiktiv bezeichnet.


    Bei Aimés Mitteilungen habe ich mich wieder einmal gefragt, inwiefern wir eigentlich ein realistisches Bild von Albertine erhalten. Nicht nur, dass ich Aimé als nicht unbedingt vertrauenswürdig einstufe (schließlich sichert er sich mit interessanten Nachrichten sein "Urlaubsgeld"); zudem lässt uns ja (wie wir schon beim letzten Band festgestellt haben) Proust die Figur Albertine konsequent nur durch Marcels Augen sehen. Schon vor ihrem Tod hatte sie keine eigenständige Persönlichkeit.


    Schön finde ich, dass Proust zwischen Marcels Um-sich-selbst-Kreisen immer wieder Humor durchblitzen lässt, z.B. als er von dem Mann erzählt, der zwar die Mondnächte im Wald längst vergessen hat, aber immer noch unter dem dadurch verursachten Rheuma leidet :zwinker:


    Euch ein schönes Wochenende!
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo ihr beiden !




    Und tatsächlich lebt Marcel seit Albertines Flucht fast nur noch in seinen Empfindungen. Einflüsse von außen sind ganz geringfügig (Saint-Loups Besuch, Aimés Briefe) und nur insoweit interessant, als sie Marcels Gefühle beeinflussen. Er ist komplett in sich eingekapselt. Dass er seine Innenwelt als die tatsächliche und die "Außenwelt" als nicht real ansieht, zeigt sich darin, dass er den Tod als fiktiv bezeichnet.


    Und gerade das machte es mir sehr schwer, diese Passagen zu lesen. Ich konnte manchmal seinen Gedanken nicht so recht folgen und auch, sie nachzuvollziehen war für mich streckenweise schwer.


    Doch nun bin ich bei der ersten Etappe des Vergessens, er beschreibt das mit Hilfe des Bildes einer Eisenbahnstrecke (was widerum sehr an Albertine erinnert):
    Bevor man zur Gleichgültigkeit zurückkehrt, von der man ausgegangen ist, kommt man also nicht darum herum, in umgekehrter Richtung die Strecke zurückzulegen, die man durchmessen hatte, um bei der Liebe anzulangen;


    Marcel nimmt wieder am Leben teil, er begegnet wieder jungen Mädchen, diesmal in Paris und natürlich erinnern diese Szenen auch an Balbec und die Mädchenschar. Und dadurch fällt es mir nun auch wieder leichter, Marcel zu folgen. Ob vielleicht diese "Lähmung" beim Lesen der ersten Trauer und der inneren Gefühle auch eine Intention vom Autor ist ?


    Gruß von Steffi

  • :smile:
    Liebe Proust-LeseInnen,
    inzwischen habe ich Euch wohl eingeholt. Ich habe jetzt 80 % der "Flüchtigen" gelesen. Ja, manchmal zieht es sich hin, aber bei Proust ist man vor Überraschungen nicht sicher. Und nun taucht Albertine wieder auf.
    Ich finde, gerade jetzt wandelt sich M. sehr, wird erwachsener, distanzierter. Das ist leichter zu lesen. Aber die schwierigen Teile fordern mir mehr ab und kommen mir näher.
    Wie weit seid Ihr?
    Emma

  • Hallo Emma,
    hallo zusammen,


    du hast ja ein Tempo! :smile:
    Schön, dass du dabei bist. Ich bin auf der Seite 200, da ich zur Zeit wegen Krankheit in der Familie zu abgelenkt bin um mich so richtig auf Proust zu konzentrieren. Gespannt bin ich darauf, was du damit meinst, dass Albertine wieder aufgetaucht ist. Was hat sich Proust denn nur ausgedacht :rollen:


    dass Albertine tot ist, kommt Prousts Stil sehr entgegen, denn es ist für ihn wie ein Traum und er träumt auch viel von Albertine und mit dem Tod und dem Träumen verschwinden Zeit und Raum und er kann sich dem Erinnern und dem Reflektieren hingeben.


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo, Maria, Liebe Proust-FreundInnen


    ich bin zu leichtgläubig und habe mich von Proust reinlegen lassen. :grmpf:


    Ich bin in letzter Zeit viel im Zug unterwegs gewesen. Da kann ich herrlich lesen,


    Eine freundin hat mit Volltext 5/08 gegeben. Dort stellt Ina Hartwig (FR) die deutsche Übersetzung der großen Proust-Biografie von Jean-Yves Tadié vor (Suhrkamp, 68 €, 1289 S.). Der Bericht hat mich versohnt, denn Proust ist in Wirklichkeit anders (und für mich sympathischer) als in der Suche...


    Ebenfalls wird "Schmidt liest Proust" von Jochen Schmidt, eine "hinreißende Lektüre-Anleitung", ein Blöog (wenn ich richtig verstanden habe) mit Audio-CD, 600 S., 19,90 €.


    Wir sind also mit unserer Lektüre ganz aktuell.


    Emma

  • Hallo Emma,


    du bist ja wirklich eine Schnellleserin ! Mehr als 20 Seiten Proust am Stück schaffe ich nicht, obwohl es ca. ab S.220 (JMaria !) wieder aufwärts und damit meine ich, schneller geht. Ich bin nun bei ca. S.270.


    Schön ist, dass die Guermantes wieder auftauchen :smile: Getreu Prousts These, dass man durch seine Erinnerung einen anderen, gefärbten Blick bekommt, stellt sich schnell Vertrautes ein und innerlich hab ich die beiden herzlich begrüßt. Somit wird diese Theorie bestätigt, was natürlich gut gemacht ist und auch die Handlungen der beiden bewertet man wohl anders, wenn man sie schon kennt. Denn die Swanns, also Odette und Gilberte, werden nun salonfähig !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen, herzlich willkommen Emma!


    Bei "Albertine taucht wieder auf" musste ich doch spontan an "Dallas" denken, als irgendeiner aufwacht und die Handlung der letzten 50 Folgen nur geträumt war. Das wäre ja erst noch eine Variante für Marcel :breitgrins:



    Ob vielleicht diese "Lähmung" beim Lesen der ersten Trauer und der inneren Gefühle auch eine Intention vom Autor ist ?


    Den Eindruck hatte ich auch! Wir hatten es doch schon einmal (ich glaube beim 4.Teil) davon, dass der Schreibstil die innere Leere der Handlung (damals waren es die inhaltsleeren Soireen) widerspiegelt. Ich glaube, dass es auch hier ganz bewusst so geschrieben ist.


    Sehr aufschlussreich fand ich den folgenden Satz:


    Zitat

    Es ist das Unglück der anderen, dass sie in unserem Denken nur eine sehr brauchbare Regalplanke für Dinge abgeben, die es sammelt.


    Beschreibt das nicht exakt Marcels Verhältnis zu Albertine im speziellen und anderen Menschen im allgemeinen? Insoweit ist es auch konsequent, dass er nur seine eigenen Gedanken und Gefühle schildert und sich um die der anderen keinen Kopf macht.


    Maria, vielen Dank für den Artikel. Besonders passend finde ich die Umschreibung:


    Zitat

    Prousts Methode, sich der Erinnerung anzuvertrauen, Stimmungen bis in die leisesten Schattierungen nachzufolgen und Seelenregungen oder Emotionen mit einer bis dahin nie geübten Geduld und Präzision zu analysieren,...


    Die Empfindungen des Erzählers werden wirklich bis in die letzte Feinheit erforscht und beschrieben. Manchmal ist es ein wenig anstrengend, manchmal bin ich auch erschlagen von der Fülle, aber ich genieße es trotzdem. Auf das Wiederauftauchen der Guermantes freue ich mich aber trotzdem.


    Schöne Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo zusammen,





    Den Eindruck hatte ich auch! Wir hatten es doch schon einmal (ich glaube beim 4.Teil) davon, dass der Schreibstil die innere Leere der Handlung (damals waren es die inhaltsleeren Soireen) widerspiegelt. Ich glaube, dass es auch hier ganz bewusst so geschrieben ist.


    und er seziert seine Trauer ins kleinste Detail. Ich frage mich, ob er so ausführlich reflektiert um nicht zu "vergessen". Oder ist es eher ein Vorteil um besser Vergessen zu können. :rollen:


    Der Leser ist ganz schön gefordert, wenn der Erzähler Erinnerungen aus früheren Bänden einflechtet. Die "Laterna magica" (die schon in Combray auftauchte), wirft die Kurven der Projektionen auf bunte Einschiebgläsern, die eine Unzahl von Personen in einem darstellen. Manjula, hat ja auch schon auf die "unzähligen Albertines" gedeutet. Den Vergleich fand ich sehr schön.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Liebe MitleserInnen,
    kennt Ihr das auch: ich muß beim Lesen immer meine spontanen feministischen und sozialpolitischen Vorbehalte zurückdrängen und bin heilfroh, dass ich in einer anderen zeit lebe.
    Dafür holen mich die Reflexionen von Marcel Proust an ganz anderen Stellen ein, nicht nur beim Nachdenken über Trennungen und Lieben. Z.B. war ich kürzlich wandern und rang mit mir, ob ich trotz Regen zu einem für meine Kindheit wichtigen symbolischen Platz gehe. Mein Kopf sagte: Lass das, Du wirst nichts neues entdecken. Aber "Proust sagte" mir: Du wirst immer bereuen und keine Ruhe finden, wenn Du nicht gehst. Und selbst, wenn Du das mal bei besserem Wetter nachholst, wirst Du rätseln, wie der Ort bei Regen und Nebel im Herbst aussieht.
    Das sind ganz offensichtlich Überlegungen, die ich ohne "Auf der Suche ..." nicht gehabt hätte.
    Ich bin übrigens gegangen. Es war nichts sichtbar Spektakuläres zu sehen. Aber ich bin ganz glücklich, dass ich dort war (es war die Ederquelle).
    Solche Gedanken begleiten meine Proust-Lektüre.
    Kennt Ihr das auch?
    Emma

  • Hallo zusammen !



    Liebe MitleserInnen,
    kennt Ihr das auch: ich muß beim Lesen immer meine spontanen feministischen und sozialpolitischen Vorbehalte zurückdrängen und bin heilfroh, dass ich in einer anderen zeit lebe.


    In welchem Bezug meinst du das ? Albertine ? Also, solche Gedanken kommen mir gar nicht - eher, wie Proust es schafft, diese ganzen Bezüge aufrechtzuerhalten und daneben noch seine eigene Philosophie in aller Ausführlichkeit darzulegen.


    Ich habe nun die zweite Phase des Vergessens hinter mir. Für die erste musste ja Gilberte herhalten, also seine Erinnerung an die Zeit vor Albertine, die zweite Phase gestaltet Andrée. Ob alle Anschuldigungen nun der Wahrheit entprechen, weiß man ja nicht - aber schließlich, wie schon so oft, was ist Wahrheit ? Neue Erkenntnisse treffen Marcel, nämlich dass Albertine sozusagen auch ein Leben außerhalb seines Gesichtskreises hatte (Octave z.B.). Wir haben das ja schon immer vermutet :zwinker:


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    Der Leser ist ganz schön gefordert, wenn der Erzähler Erinnerungen aus früheren Bänden einflechtet. Die "Laterna magica" (die schon in Combray auftauchte), wirft die Kurven der Projektionen auf bunte Einschiebgläsern, die eine Unzahl von Personen in einem darstellen.


    Die Laterna Magica als Sinnbild der vielen Albertines - das ist wirklich ein sehr schönes Bild von Proust. An solchen Stellen genieße ich unsere Leserunde besonders, weil viele Eurer Assoziationen mir wieder neue Aspekte eröffnen. Die Rückbeziehung auf die früheren Bände gefällt mir auch sehr gut; ich freue mich auch immer, wenn ich auf "Bekanntes" treffe. Apropos bekannt: die Szene, in der Marcel Gilberte wiedersieht, ist ja schon etwas peinlich für ihn. So sehr wird sie sich ja nicht verändert haben. Andererseits zeigt das auch wieder seine Ichbezogenheit: Für ihn existiert nur die Gilberte, die er einmal geliebt hat; die wirkliche Frau erkennt er nicht einmal. Was Gilbertes Verhältnis zu Swann betrifft, stehe ich leider etwas auf der Leitung: schämt sie sich für ihn, weil er Jude war (in Zusammenhang mit der Dreyfusaffäre)? Oder hat das noch andere Gründe?


    Seit der Begegnung mit Gilberte gewinnt das Buch wieder etwas mehr an Handlung (wie auch Marcels Leben?). Dazwischen werden immer wieder, anscheinend ganz beiläufig, sehr schöne Gedankenblitze Marcels eingestreut, z.B.


    Zitat

    Denn der Mensch ist eine Wesen ohne festes Lebensalter, ein Wesen, das die Fähigkeit besitzt, in wenigen Sekunden wieder um Jahre jünger zu werden, und das innerhalb der Wände der Zeit, in der es gelebt hat, in dieser auf und ab schwebt wie in einem Bassin, dessen Spiegel unaufhörlich auf und nieder steigt und bald mit dieser, bald mit jener Epoche auf die gleiche Ebene führt.


    Betroffen hat mich dieser Satz gemacht:


    Zitat

    Nicht weil die anderen tot sind, lässt unsere Zuneigung zu ihnen nach, sondern weil wir selbst sterben.


    Heißt das, wenn man aufhört, jemanden zu lieben, ist auch ein Stück des eigenen Ichs gestorben?



    was ist Wahrheit ?


    Sehr gute Frage :zwinker: Würde Marcel evtl. "Nur die Erinnerung" antworten?


    Emma, mit der Ederquelle weckst Du bei mir gerade auch schöne Kindheitserinnerungen - wir waren oft am Edersee. Als ich vor fünf Jahren wieder dort war, ging es mir wie Marcel mit Gilberte: ich habe nichts wieder erkannt.


    Euch allen schon mal ein schönes Wochenende
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]


  • Betroffen hat mich dieser Satz gemacht:



    Heißt das, wenn man aufhört, jemanden zu lieben, ist auch ein Stück des eigenen Ichs gestorben?


    Offenbar. Es ist tatsächlich ein schöner Satz, in mehrfacher Hinsicht. Er einnert mich an einen Satz aus Lermontows Roman "Ein Held unserer Zeit":


    "Ich hab es schon immer gesagt, daß an einem Menschen nicht viel dran sein kann, der seine alten Freunde vergißt!"

  • Hallo !



    Apropos bekannt: die Szene, in der Marcel Gilberte wiedersieht, ist ja schon etwas peinlich für ihn. So sehr wird sie sich ja nicht verändert haben. Andererseits zeigt das auch wieder seine Ichbezogenheit: Für ihn existiert nur die Gilberte, die er einmal geliebt hat; die wirkliche Frau erkennt er nicht einmal. Was Gilbertes Verhältnis zu Swann betrifft, stehe ich leider etwas auf der Leitung: schämt sie sich für ihn, weil er Jude war (in Zusammenhang mit der Dreyfusaffäre)? Oder hat das noch andere Gründe?


    Dieses erste "Wiedersehen" ist ja wirklich mehr als peinlich!
    Ich habe das auch darauf bezogen, dass er Jude war. Vielleicht auch noch, dass Swann immer insistierte, dass Odette auch zu dem erlauchten Kreis gehören sollte. Diesen Aufstieg macht jetzt Gilberte. Irritierend war, dass Proust den Herzog von Guermantes einmal für Dreyfus und einmal gegen Dreyfus sein lässt, aber das liegt wohl daran, dass dieser Band von ihm nicht mehr bearbeitet wurde (überarbeitet kann man bei Proust ja nicht unbedingt sagen).



    Zitat

    Nicht weil die anderen tot sind, lässt unsere Zuneigung zu ihnen nach, sondern weil wir selbst sterben.


    Ein sehr schöner Satz. Er bekommt auch später noch Bedeutung, als nämlich dieses ominöse Telegramm in Venedig auftaucht und er merkt, dass ihm Albertine inzwischen schon ganz egal ist.


    In Venedig gibt es wieder sehr viele Vergleiche mit der Kunst, also Architektur und Malerei und auch Bezüge zur Symbolik. Ich frage mich, ob das auch ein Hinweis ist, dass eben alle Personen in der "Recherche" als Kunstobjekt angesehen werden sollen und für etwas bestimmtes stehen. Den Zusammenhang kann ich nicht richtig ausmachen.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "Manjula"

    Seit der Begegnung mit Gilberte gewinnt das Buch wieder etwas mehr an Handlung (wie auch Marcels Leben?). Dazwischen werden immer wieder, anscheinend ganz beiläufig, sehr schöne Gedankenblitze Marcels eingestreut


    ich habe das Gefühl auch das "Vergessen" trägt dazu bei, dass wieder mehr Handlung zu spüren ist.


    S. 309 Das dritte mal nun, daß mir, wie ich mich erinnere, zu Bewußtsein kam, daß ich mich gegenüber Albertine dem Zustand völliger Gleichgültigkeit näherte....


    Das erste mal war das unerwartete Treffen mit Gilberte.
    Das zweite mal das Gespräch mit Andreé.
    Das dritte mal ist nun die Reise nach Venedig.


    Die ersten Seiten in der Venedig-Etappe wird vieles mit Combray verglichen.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)




  • Ein sehr schöner Satz. Er bekommt auch später noch Bedeutung, als nämlich dieses ominöse Telegramm in Venedig auftaucht und er merkt, dass ihm Albertine inzwischen schon ganz egal ist.


    Hallo zusammen,


    sehr ominös, wirklich. Auch seine spätere Erklärung finde ich etwas unausgegoren. Doch es passte zu seiner inneren Überprüfung, ob er Albertine noch liebt.


    Marcels Bekannten werden älter und verändern sich, manchmal dauert es etwas bis er sie erkennt; z.B. Gilberte, Madame de Villeparisis. Er sieht bereits jetzt in Albertine eine Ähnlichkeit mit ihrer Tante Madame Bontemps; korpulent, etwas männlich und mit welkem Gesicht.


    Er hält in Venedig nach Mädchen Ausschau, die mit Albertine bekannt sein könnten; doch interessant ist, dass er zugibt, dass er nicht nach Frauen Ausschau hält, die jetzt älter sein müßten als damals als Albertine sie traf, sondern er schaut weiterhin nach jungen Mädchen, als ob für ihn die Zeit stehen geblieben ist.


    Zeit bedeutet Veränderung, Veränderung bedeutet Älterwerden und das scheint für ihn ein großes Problem zu sein.


    Wunderschön fand ich die Schilderungen im Baptisterium; das Deckenmosaik mit der Darstellung der Taufe Jesu usw.


    Dann kommt die Episode, als er sich nicht entschließen kann, mit seiner Mutter abzureisen und versinkt in das Lied "O sole mio". So recht verstanden habe ich sein Verhalten nicht. Wir reisen nun ab.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen !


    Ich habe nun den Band beendet. Albertine ist tot und Gilberte sehr weit von seinem Inneren entfernt. Guermantes und Meseglises jedoch vereint. Mit kommt es auch ein bißchen vor, dass mit dem Ende des Bandes auch das Ende seiner Kindheit stattfindet. Oder besser, er sich von den Gedanken und Ideen seiner Kindheit weiterentwickelt hat.


    Dieser Band war ja mehr seinen inneren Gedanken gewidmet und weniger der Gesellschaft, sodass es mir öfters schwerfiel, den Ideen zu folgen.


    Gruß von Steffi


  • Hallo Steffi,


    schön beschrieben! Ich bin zwar noch nicht durch, doch mir kam es auch so vor, als ob seine Kindheit nun endgültig zuende ist. Er hat seinen ersten Artikel veröffentlicht, seine Freunde verheiraten sich. Charlus adoptiert Jupiens Nichte, na sowas!


    viele Grüße von
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Guten Morgen,


    ich bin nun auch mit diesem Band durch. Der Aufenthalt in Venedig erschien mir noch wichtig, weil er sich hier einen Kindheitstraum erfüllt und sich auch endlich wieder für Kunst und Politik (Norpois taucht wieder auf) begeistert, nachdem er so lange Zeit nur an "der Gesellschaft" und Frauen Interesse hatte. Nun scheint dies vorbei zu sein: Gilbertes Hochzeit und Albertines scheinbares Wiederauftauchen lassen ihn kalt, auch die Adoption der Nichte und ihre Hochzeit mit Cambremer beschäftigt ihn nicht allzusehr (in diesem Zusammenhang fand ich witzig, wie die Heiraten die gesellschaftliche Welt durcheinanderwirbeln. Und selbstverständlich sind diese Verwerfungen viel interessanter als die Tatsache, dass die Braut schon kurz nach der Trauung stirbt, was nur nebenbei erwähnt wird).


    Insgesamt hatte ich wie Steffi den Eindruck, dass Marcel in diesem Buch "erwachsener" wird. In den vorigen Bänden kam es mir eher so vor, als ob er still stünde. Zu Beginn der "Entflohenen" hätte ich nicht gedacht, dass ich zu dieser Einschätzung kommen könnte, da sich ja am Anfang vieles im Kreis drehte. Aber vielleicht war diese Phase zur Ablösung vom Alten notwendig.


    Sehr schön fand ich noch die Szene, in der Madame Sazerat unbedingt Madame de Villeparisis sehen will, die sie sich als "schön wie ein Engel, bös wie ein Teufel" vorstellt - und dann eine "kleine, abscheuliche, bucklige Person mit einem ganz roten Gesicht" sehen muss. Tja, die Vorstellungen der Kindheit halten sich hartnäckig, da kann man so manche Überraschung erleben.


    Und noch ein Zitat, das mich sehr angerührt hat:


    Zitat

    Die Wahrheit und das Leben sind beide sehr schwer zu bewältigen, und ich behielt von ihnen, ohne dass ich sie alles in allem kannte, einen Eindruck zurück, bei dem vielleicht Müdigkeit noch die Trauer überwog.


    Fühlt sich Marcel schon als alter Mann, der zu resigniert ist, um noch Gefühle zu empfinden? Wir werden es wohl bald erfahren.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]