Juni 2008 - Th. Mann: Der Tod in Venedig

  • Hallo zusammen


    In Kapitel 4 steht die Liebe Aschenbachs zu Tadzio im Vordergrund. Thomas Mann spricht von einem Knaben, nicht von einem Jüngling. Er beschreibt den Jungen in seiner aufblühenden Pubertät. Noch ist er ganz Kind und gerade das macht den Zauber aus. Ein Kind, das sich seiner aufkeimenden sinnlichen Reize in keinster Weise bewusst ist. Sicherlich kommt hier die homophile Sicht des Autors zum Tragen, doch betrachtet er den Jungen nicht als voll geschlechtsreifen Jüngling, sondern eben doch als "Knaben", den Aschenbach nie ansprechen wird. Das Tabu ist vorhanden und wirksam. Damit setzt Thomas Mann selbst das Schutzalter fest und respektiert es.


    Vor ein paar Jahren schrieb ich hier in einem anderen Tod-in-Venedig-Thread Folgendes dazu:

    Thomas Mann gelang bei seiner Novelle Tod in Venedig eine ganz besondere Atmosphäre, geprägt von einer todhaften Jenseitigkeit und schicksalhaften Fügung.


    Wie wir Menschen alle dem Tod entgegensehen, so auch der Protagonist in dieser Novelle: Entsprechend den alten Jenseits-Mythen fährt er mit dem Schiff in das seinen Tod ankündigende Venedig über, wobei der Junge Tadzio das Motiv des göttlichen Kindes, des Engelführers verkörpert, ein schönes tiefes Sinnbild und die mythischen Motive gut umgesetzt.


    Ich finde, diese Novelle wird noch weitgehend verkannt in seiner wahren Bedeutung und Intension. Das liegt nur an Tadzio und die m. M. n. falschen Spekulationen um diese Kunstfigur. Literarisch gesehen musste es dem unschuldig-göttlichen-Kind-Motiv entsprechend ein Junge sein, in Wirklichkeit jedoch übertrug Th. Mann seine Vernarrtheit in einen bereits volljährigen Schweizer Kellner auf ihn, ist also alles halb so wild.


    Zu erwähnen ist vielleicht noch, dass Th.Mann tatsächlich in Venedig einen dermaßen faszinierend schönen Jungen beobachtet hatte und so entstanden die Stoff-Übertragungsverschmelzungen, wie so oft bei Th.Mann.


  • Der nächste Punkt, dem ich schon aus meinem Berufsethos heraus widersprechen muss, ist der, dass das Alter entwürdigend wäre. Das finde ich nun überhaupt nicht. Es gibt bewunderswerte alte Menschen, deren Einstellung zum Leben und zum Tod Vorbildwirkung hat.


    Hallo, Madeleine,


    ja, diese Art von alten Menschen gibt es - und Altsein ist natürlich nicht von Natur aus würdelos.


    Aber: Kennst Du die Botox-gestählten Berufsjugendlichen, die sich - im zarten Alter von ungefähr 60 Jahren - in eine Jeanskluft werfen, die meiner 14jährigen Nichte gut stehen würde, und auf Tanzveranstaltungen mit hoffnungslos überkandidelten und grotesken Verrenkungen meinen, sie hätten soeben den Rock´n Roll erfunden? Ist das Würde?


    Kennst Du die Starrsinnigen, die - hochgradig spezialisiert auf einige eng fokussierte Themen wie die Orchideenzucht zur Zeit der Queen Victoria - mit ihren apodiktischen Rechthabereien jeder Diskussion zur Zierde gereichen?


    Noch einmal: So sind nicht alle alten Menschen - Gott sei Dank. Aber die Zahl derer, die nicht alt werden wollen oder können, steigt stetig. Und meine Generation (60er Jahre) wird diesen Trend beschleunigen.


    Nun kehre ich aber wieder zu unserer Novelle zurück. Mir fehlen nur noch wenige Seiten ...


    Bis später!


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • Hi Thomas


    Jetzt muss ich etwas grinsen, weil ich dann wohl auch so eine Berufsjugendliche bin. Ich meine: Meine Großmutter wurde fast hundert und wenn ich ihre Gene haben sollte, kann ich mich bis sechzig noch locker jung nennen. :breitgrins:


    Meine 73-jährige Mutter sieht viel jünger aus, als sie ist. Frauen in ihrem Alter sehen teilweise so alt aus wie meine fast hundertjährige Großmutter und das nur, weil sie nicht wissen, was Haarfarbe, Gesichtspflege und Mode ist. Ich denke, solche Dinge sind nicht der Jugend vorbehalten, ebenso wenig Jeans, die nun wirklich schon zu jeder Garderobe gehört, vom Baby bis zur Oma. Da ist wirklich nichts dabei. Klar sollte es etwas abgestimmt sein auf das Alter, weil es sonst zu sehr nach Teeny aussieht, aber in der heutigen Zeit ist es nicht mehr ungewöhnlich, auch mit sechzig sexy und begehrenswert auszusehen. Ich würde mir da nie etwas vorschreiben lassen, dann doch eher als würdelos gelten wollen.


    Alt werden wollen will man doch nur in dem Sinne, nicht jung zu sterben. Wer ehrlich ist, will nicht alt sein. Das nehme ich keinem ab. Vor allem aber ist es nicht wirklich toll, im Altersheim zu enden und sich von launischen PflegerInnen herumschubsen zu lassen. Gute PflegerInnen können diese Zustände nicht verhindern, denn auch sie sind dazu angehalten, die Leute möglichst schnell zu waschen etc. Da bleibt sehr wenig Zeit für ein eingehendes Gespräch. Das müssen sie dann schon nach Arbeitsende dazugeben, was auch nicht immer möglich ist.


    Ich hab meinem Neffen eingeschärft, dass ich als Tote gut aussehen will. Für mich ist das Würde. Ich will nicht wie eine vertrocknete Leiche aussehen, sondern lebendig in Erinnerung behalten werden, als Persönlichkeit.


  • Ich hab meinem Neffen eingeschärft, dass ich als Tote gut aussehen will. Für mich ist das Würde. Ich will nicht wie eine vertrocknete Leiche aussehen, sondern lebendig in Erinnerung behalten werden, als Persönlichkeit.


    Hallo, Evelyne,


    eine schöne Leich? Ich dachte, dabei handele es sich um eine speziell österreichische, wenn nicht gar wienerische Spezialität ... :breitgrins:


    Zurück zu unserer Lektüre.


    Nun ist er also gestorben, unser Gustav von Aschenbach - und zwar einen doch recht protestantischen oder meinetwegen auch wagnerischen Tod. Die bereits gezogenen Vergleiche mit dem Ableben Don Fabrizios aus dem "Leoparden" drängen sich auf, obwohl es sich bei Lampedusa mMn. um einen mystisch verklärten, "katholischen" Tod handelte (Verdi oder Puccini hätten das gut inszeniert).


    Ich möchte noch einmal kurz auf Venedig zurückkommen. Ist es eine Stadt des Todes bzw. der Alten und Toten? Oder doch eher die Stadt der Flitterwochen und Verliebten? Ich weiß es nicht, denn bislang konnte ich mich dem Drängen meiner Frau, dort einmal zu urlauben, erfolgreich widersetzen. Bald werden mir jedoch die Ausreden ausgehen, und dann muss ich mich wohl meinen Befürchtungen stellen, dass Venedig tatsächlich nicht mehr als ein überschätztes, schmutziges und mit Touristen vollgestopftes Traumgespinst sein könnte, dessen Zauber sich lediglich auf dem Papier großer Schriftsteller entfaltet. Wünschen würde ich mir natürlich das Gegenteil ...


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • Ich möchte noch einmal kurz auf Venedig zurückkommen. Ist es eine Stadt des Todes bzw. der Alten und Toten? Oder doch eher die Stadt der Flitterwochen und Verliebten? Ich weiß es nicht, denn bislang konnte ich mich dem Drängen meiner Frau, dort einmal zu urlauben, erfolgreich widersetzen. Bald werden mir jedoch die Ausreden ausgehen, und dann muss ich mich wohl meinen Befürchtungen stellen, dass Venedig tatsächlich nicht mehr als ein überschätztes, schmutziges und mit Touristen vollgestopftes Traumgespinst sein könnte, dessen Zauber sich lediglich auf dem Papier großer Schriftsteller entfaltet. Wünschen würde ich mir natürlich das Gegenteil ...


    Hallo Sir Thomas,


    bei Venedig kommt es wohl ein bißchen darauf an, wann man fährt. Ich war vor ein paar Jahren Ende November dort und da hat es mir gut gefallen. Ich muß jetzt dazu sagen, daß ich nicht der romantische Typ bin, mich bringt niemand in eine Gondel mit singendem Gondoliere ( :entsetzt: ). Mir hat damals die etwas düstere Atmosphäre sehr gut gefallen, v.a. wenn man sich in Gegenden der Stadt begibt, wo es nicht vor Japanern wimmelt. Eine Bootsfahrt zu den Inseln empfiehlt sich da auch ganz gut. Sollte ich nochmal nach Venedig fahren, dann gerne wieder im Winter, da sind nicht ganz so viele Touristen da, bei gelegentlichen Überschwemmungen gibt es auch keine Taubenplage am Markusplatz, und die Kanäle stinken nicht :zwinker:.


    Venedig muß also nicht nur die Stadt der Toten/des Todes oder die Stadt der Verliebten sein. Bei passendem nebligen Wetter ist sie auch eine sehr mystische und verwunschene Stadt. Besonders dann, wenn man sich dauernd in den Gässchen verläuft und in immer seltsamere Gegenden vordringt.


    Ich habe erst mit dem fünften Kapitel angefangen und werde das Buch wohl heute abend beenden. Jetzt geht es ja steil bergab mit dem guten Aschenbach. So extrem hatte ich das gar nicht mehr in Erinnerung (z.B. daß er liebestrunken an Tadzios Türe lehnt...).


    Viele Grüße
    thopas


  • ... Jetzt geht es ja steil bergab mit dem guten Aschenbach. So extrem hatte ich das gar nicht mehr in Erinnerung (z.B. daß er liebestrunken an Tadzios Türe lehnt...).


    ... und sich beim Coiffeur aufbrezeln lässt wie ein eitler Geck! Na ja, wo die Liebe eben so hinfällt ...


    Vielen Dank, thopas, für Deine Einschätzung zu Venedig. Das habe ich so oder ähnlich auch von anderen schon einmal gehört, neben vielen abschreckenden Geschichten über exorbitant freche Preise, tolldreiste Straßenverkäufer, betrügerische Gondolieri und andere Formen moderner Piraterie.


    Viele Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo zusammen


    Das 5. Kapitel ist sehr beeindruckend. In diesem Kapitel wird deutlich, wie sehr Aschenbach und Tadzio zusammengehören: Tadzio IST die verlorene Jugend Aschenbachs, noch mehr: Tadzio IST Aschenbachs Leben, das dieser zu verlieren droht. Deshalb sind sie am Meereshorizont vereint. Tadzio schreitet ihm voraus, Aschenbachs Leben geht in eine andere Ebene über. Der Kampf Tadzios entspricht dem Todeskampf Aschenbachs.


    In diesem Kapitel wird auch verständlich, weshalb Thomas Mann einen 14-jährigen Jungen als Liebesziel wählte und nicht einen erwachsenen Jüngling. Nur so konnte er Aschenbachs Liebe zu dem Jungen in gleicher Weise tabuisieren wie es der Verlust der Jugend für das Alter bedeutet. Der Tod selbst ist wohl der größte Tabu-Bruch überhaupt. Deshalb musste der Kontrast genug groß sein, um denselben Widerspruch im Leser auszulösen wie der Tod.


    Ich las einmal im Internet einen Thread, wo sich User über Liebespaare mit großem Altersunterschied mokierten. Das sei ja eklig etc., wobei die angeblich eklige Person in diesem Fall vierzig war und das Paar siebzehn Jahre Unterschied aufwies. Da habe ich mich wirklich alt gefühlt. Sex im Alter finden ja auch viele Junge ekelhaft. Doch die Alten fühlen sich gar nicht so alt und eklig, wie die Jungen es von ihnen verlangen. Ich denke, das ist auch heute noch ein großes Tabu-Thema.


    Verwirrte Alte rufen oft wieder nach ihrer schon längst toten Mutter, als wären sie selbst noch Jugendliche oder Kinder. Die Gegenwart ist längst vergessen, die Vergangenheit umso lebendiger. Gerade Aschenbach zeigt diese Symptome der Verwirrtheit, welche in den Kapiteln davor angedeutet wurde im wirren Durcheinander der Stadt, dem Gepäckswirrwarr, eine sich steigernde Wahrnehmungsverfremdung, immer wieder der Eindruck, sich in einem Traum zu befinden. Das alles mutet wie ein Fiebertraum an, die Wahrnehmung eines Sterbenden. Aschenbach will Tadzio nicht aus den Augen verlieren, er hängt an ihm, an seinem geliebten Leben ...


    Er war wohl doch nicht ganz bereit für den Tod.

  • Nun ist er also gestorben, unser Gustav von Aschenbach - und zwar einen doch recht protestantischen oder meinetwegen auch wagnerischen Tod.


    Da ich mit dem Wagnerischem begonnen habe (s.o.), bin ich nun einer Erläuterung schuldig geblieben, was nun das Wagnerische an diesem Tod sei. Es geht darum, Thomas Mann habe offensichtlich den Liebestod von Tristan und Isolde nachahmen wollen. Bei R.Wagner schlägt die Liebessehnsucht in Todessehnsucht um. Nur über den Tod, kann ein Einswerden der Liebenden erfolgen. Wie auch schon August Graf von Platen in einem Gedicht verlauten ließ:


    "Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben"....usw., übrigens ein Lieblingsgedicht Thomas Manns.


    Aschenbachs unmögliche Liebe zu dem Knaben kann nur unerfüllbar bleiben, und nur im Tode vereint, wenn überhaupt. Ausschlaggebend für das wagnerische Element des Schlusses ist, Tadzio, weit draußen im Meere, hat sozusagen auch schon den Boden unter den Füßen verloren, als ob dieser auch sterbe "vorm Nebelhaft - Grenzenlosen", was die Nähe des Todes symbolisieren kann, wirft er einen Blick zum Strand, wo Achenbach im Strandkorb sitzt. Aschenbach glaubt, er schaue ihn noch einmal an. Aschenbach schaut auf des Knaben Gestalt zurück und stirbt. Bemerkenswert auch die Körpergewegung des Jungen, die Aschenbach dazuverleitet, ihn anzuschauen. Es ist so, als ob Tadzio dem alten Herrn im Strandkorb eine Einladung übermittelt, mit ihm in den Tod zu gehen.


    Auch wenn Tadzio nicht stirbt, aus der Sicht von Aschenbach sterben sie gemeinsam. Die Liebe führt wie in Wagners "Tristan und Isolde" als Erlösung in den Tod.


    Es ist fast schon unglaublich aber war, Thomas Manns Essay "Über die Kunst Richard Wagners" enstand im Liegestuhl am Lido. :smile:


    Also, die Parallelen zu Wagners Musikdrama verleiten mich zusagen, dieser Tadzio ist keine Engelgestalt, wie in der Diskussion ja mal aufgeflackert ist, sondern, er ist, wie es in der Erzählung heißt, nichts anderes als ein "Menschenkind". Man denke hier auch an Aschenbachs Liebesbekenntnis am Ende des vierten Kapitels. Dieses "Ich liebe dich" würde man doch nie zu einer Engelgestalt sagen. Im dritten Kapitel heßt es: "..ruhte die Blüte des Hauptes in unvergleichbarem Liebreiz, - das Haupt des Eros". Und am Schluss der Erzählung ladet er Aschenbach zum Thanatos ein.


    Liebe Grüße
    mombour


  • ... die Parallelen zu Wagners Musikdrama verleiten mich zu sagen, dieser Tadzio ist keine Engelgestalt, ...


    Hallo, mombour,


    vielen Dank für diesen schönen Wagner-Exkurs. "Tristan und Isolde" sind jedesmal mein persönliches Martyrium. Ich weiß gar nicht, warum ich mir diese Oper schon zweimal angetan habe, denn sie ist zwar schön, aber musikalisch nicht ganz einfach und vor allem mit ihren vier bis viereinhalb Stunden Spieldauer viel zu lang. Und dann immer diese grässlichen, modernen Bühnenbilder ... :grmpf:

    Zu Tadzio: Er ist natürlich keine Engelsgestalt, höchstens ein gefallener Engel, also ein kleiner Satan, ein Verführer in wunderschöner Gestalt, was mich Miltons "Paradise Lost" assoziieren und von einem "protestantischen" Tod Aschenbachs wüst fabulieren ließ (Milton war Puritaner). Aber wilde Exegesen sind ja hier wohl ausdrücklich erlaubt. :rollen:


    Grüße aus Wagnerisch umtosten Höhen sendet


    Sir Thomas


  • ... Aschenbach will Tadzio nicht aus den Augen verlieren, er hängt an ihm, an seinem geliebten Leben ... Er war wohl doch nicht ganz bereit für den Tod.


    Hi Evelyne,


    das sehe ich anders, denn warum isst Aschenbach die Erdbeeren, wohl wissend, dass Früchte den Krankheitskeim enthalten können? Wer verbotene Früchte genießt (in diesem Fall die bereits zitierten "Früchte des unterirdischen Reichs"), weiß für gewöhnlich, welche Konsequenzen er zu erwarten hat.


    Wenn Du mich fragst, begeht Aschenbach spätestens in diesem Moment so etwas wie Selbstmord. Zumindest hat er zeitgleich mit dem Genuss der Erdbeeren mit seinem bisherigen Leben vollständig abgeschlossen.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas


  • Hi Thomas


    Könnte man meinen, doch weiß ich aus meinem persönlichen Umfeld einen ganz ähnlichen Fall, wo jemand Gift einnahm und es im nächsten Moment bereute. Aschenbach war zu diesem Zeitpunkt sicher auch nicht mehr ganz bei vollem Verstande, sondern verwirrt.

  • Ihr habt so viele interessante Gedanken, und ich so viel Arbeit im Krankenhaus... (jetzt vor meinem Urlaub täglich 10 Stunden, dazu auch noch der ganze Verwaltungs- und Bestellkram)... und irgendwie paßt das nicht zusammen!!
    Diese wunderschöne Novelle konnte ich dennoch heute im Zug auf einer ruhigen Heimfahrt zu Ende lesen.
    Würde ich an Prädestination glauben, wäre das doch ein Paradebeispiel dafür. Für den Schriftsteller Aschenbach ist in Venedig Endstation im wahrsten Sinne des Wortes. Hier erfüllt sich sein Schicksal, dem er nicht entkommen kann.
    Für mich ist dieser Knabe eine so zentrale Figur, und auch so wunderbar beschrieben, dass ich ihn mir im Detail vorstellen kann. In meinen Augen ist er sehr wohl ein Todesengel. Aschenbachs Liebe zu ihm habe ich nicht als Versuchung gesehen, sondern als Todessehnsucht. Gerade, weil er ihm so überirdisch schön erscheint, ist er für mich das Symbol einer wunderbaren jenseitigen Welt, nach der sich der Schriftsteller (unbewußt) sehnt. Und im Augenblick des Todes wird er ja auch von ihm in diese Welt geleitet. Wäre das nicht himmlisch, wenn es tatsächlich so wäre?


    Mit Altern in Würde meine ich natürlich nicht die 50jährigen Damen mit rosa Maschen im blondgefärbten Haar (das spricht in meinen Augen eher für eine gewiße Naivität), sondern alle die Menschen, die nicht verzweifelt an ihrer Jugend hängen, sondern ohne Bitterkeit das bestmögliche aus ihrem letzten Lebensabschnitt machen. Und nicht jedes Leben muss im Altersheim und als Pfegefall enden. Meine Großmutter starb mit 92 Jahren zu Hause im Kreise ihrer Familie. Bis 1 Woche vor ihrem Tod hat sie noch Bücher und Zeitungen gelesen und mit meiner Mutter gemeinsam gekocht.


    Lieber Sir Thomas, Du solltest Dich von Deiner Frau unbedingt zu einer Venedigreise verführen lassen. Wir haben am 19. September geheiratet und waren anschließend bis Anfang Oktober dort. Menschenleer ist diese Stadt ja leider nie, aber wenn die Hauptsaison vorbei ist, kann man eine Reise schon wagen.
    Ob Du Dich einem Gondoliere anvertrauen möchtest, kommt immer auf die momentane Stimmung an, aber ich hätte Venedig niemals ohne Gondelfahrt verlassen. Das wäre wie Paris ohne den Eifelturm besucht zu haben.


    Liebe Grüße


    Madeleine.


  • das sehe ich anders, denn warum isst Aschenbach die Erdbeeren, wohl wissend, dass Früchte den Krankheitskeim enthalten können? Wer verbotene Früchte genießt (in diesem Fall die bereits zitierten "Früchte des unterirdischen Reichs"), weiß für gewöhnlich, welche Konsequenzen er zu erwarten hat.


    Wenn Du mich fragst, begeht Aschenbach spätestens in diesem Moment so etwas wie Selbstmord. Zumindest hat er zeitgleich mit dem Genuss der Erdbeeren mit seinem bisherigen Leben vollständig abgeschlossen.


    Nachdem ich jetzt die Novelle auch zu Ende gelesen habe, ist mir folgendes aufgefallen: Aschenbach befindet sich (am Anfang des 5. Kapitels) in einem "Liebesrausch", ist aber noch einigermaßen bei Verstand. Nachdem die Straßensänger wieder weg sind, bleibt er noch sitzen und trinkt Granatapfelsaft und es heißt "die Zeit verfiel". Aschenbach erinnert sich an die filigrane Sanduhr, die in seinem Elternhaus stand, und an den Strudel, der entsteht, wenn in der oberen Hälfte kaum mehr Sand ist. Ich denke, spätestens ab da ist ihm bewußt, daß seine Zeit bald zu Ende ist und er sich in einem immer wilderen Strudel befindet, aus dem er bald nicht mehr heraus kann.
    Er findet dann ja heraus, daß Venedig von der Cholera verseucht ist und beschließt aber, Tadzios Familie nicht einzuweihen. Er stellt sein eigenes Vergnügen über die Gesundheit einer Familie mit vier Kindern, was sehr verantwortungslos ist. An diesem Punkt ist Aschenbach in seinem Rausch gefangen und nun ist es ihm auch egal, ob die Außenwelt etwas mitbekommt (er schminkt sich, färbt sich die Haare, folgt Tadzio nun auffällig). Ich denke, daß Aschenbach dann gar nicht mehr überlegt, ob die Erdbeeren genießbar sind, er will nur seinen Durst stillen und die Folgen sind ihm egal. Er hat daraufhin diesen "Dionysus-Traum", der quasi den Anfang vom Ende einläutet.


    Interessant finde ich, daß Tadzio, und auch seine nonnenhaften Schwestern, gar nicht wie aus dieser Welt wirken. Sie sind eher wie eine Erscheinung, die einem im Traum begegnet. Aschenbach folgt ihnen durch das Labyrinth der Gassen, was ja auch eher wie ein Traum ist. Die Tatsache, daß Tadzios Familie nichts von der Seuche weiß bzw. sich nicht darum kümmert, verstärkt noch den Eindruck, daß sie irgendwie "überirdisch" sind, und ihnen die Seuche nichts anhaben kann. Daraus erklärt sich vermutlich auch, daß es Tadzio gar nichts auszumachen scheint, permanent von Aschenbach verfolgt und von seinen Blicken verschlungen zu werden. Selbst wenn Tadzio eitel ist und sich gerne von anderen bewundern läßt, müßte er doch irgendwann eher beunruhigt sein...


    Ich finde, diese Leserunde hat sich doch sehr gelohnt, obwohl das Werk schon ziemlich überinterpretiert wurde. Für mich haben sich doch noch ein paar neue Aspekte ergeben und vor allem bleiben viele Gedanken bei mir besser hängen, wenn ich sie schriftlich formuliere und darüber diskutiere.


    ... ich habe es sogar riskiert, Wien ohne Fiakerfahrt zu verlassen. :zwinker:


    Viele Grüße


    Sir Thomas


    Mir scheint, es fehlt mir da ein bestimmtes Gen, denn ich war schon dreimal in Paris, aber noch nie auf dem Eiffelturm, unten durchgelaufen bin ich allerdings schon :winken:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Liebe Venedig-Fans,


    hier noch zwei Zitate von berühmten Venedig-Besuchern:


    “Diese schlafenden Wasser, deren düstere Stille den Fuß der alten Paläste benetzt, dieser schaurige Schatten, aus dessen Grunde man die Schmerzensschreie irgendeines berühmten Opfers zu hören glaubt, machen aus Venedig eine Art Hauptstadt des Schreckens: Sie hat den Eindruck des Unheilvollen bewahrt. Und doch, bei Sonnenschein, der Zauber des Canal Grande! Welche Spiegelungen in dieser Lagune, wo das Wasser sich in Licht verwandelt!“


    Das schrieb der französische Komponist Charles Gounod in seinen "Mémoires d'un artiste".


    Franz Werfel lässt in seinem Verdi-Roman den italienischen Maestro durch Venedig gleiten:


    „Der unirdische Monddunst dieser lau-bezaubernden Weihnacht drang durch das Wasserportal des Fenicetheaters und verklärte die finstere Mündung des langen Ganges, der vorwärts zum erleuchteten Foyer führte. An der grünspanigen Mauer, unbewegt in der Schwärze des Kanals, [...] ruhten einige Gondeln entlang des Fondamento. [...]


    Ein unnatürlich starker Mond waltete in und über Venedig. Weichlich gleißende Nebel lagen auf den Kanälen, [...] in schneeweißer Leichenstarre grinsten verzerrt die Steinmasken von den Toren des Verfalls. [...] Die Welt der kleinen Kanäle war tot. [...] Nur der Ruderer, hoch auf dem Heck der Gondel, sandte, wenn er um eine Ecke bog, seinen uralten Ruf voraus, der die vornehm-lichte und degenerierte Macht der Stadt zu beleidigen schien. [...]


    Die Nebel sind gewichen, übertrieben und ohne Plastik umstarrt die Front der Paläste die schaukelnde, silberschuppige Fläche. [...] Eine Totenstille ohne alle Wahrscheinlichkeit verschluckt selbst das schwache Glucksen des tauchenden Ruders."


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo zusammen


    Viele Suizidgefährdete sind hin und her gerissen zwischen Todessehnsucht und Lebenswillen. Das ist ein sehr unlogischer Vorgang. Aschenbach konnte seine Jugend nicht wiedererlangen bzw. kein neues Leben anfangen, also tötete er es (Tadzio) und damit sich selbst. Tadzio starb logischerweise ebenso an der Cholera, denn er blieb ja da und war ein kränkliches Kind.


  • [quote='Madeleine','http://klassikerforum.de/forum/index.php?thread/&postID=32362#post32362']
    ... ich hätte Venedig niemals ohne Gondelfahrt verlassen. Das wäre wie Paris ohne den Eifelturm besucht zu haben.


    ... ich habe es sogar riskiert, Wien ohne Fiakerfahrt zu verlassen. :zwinker:


    Viele Grüße


    Sir Thomas



    Das wiederum verstehe ich sehr gut, Sir Thomas.
    Pferdekutschenfahrten lehne ich in jeder Form ab, weil mir die armen Tiere leid tun. Ich hatte selber 19 Jahre lang ein heißgeliebtes Pferd, da habe ich ungefähr eine Ahnung von artgerechter Haltung.


  • Hallo zusammen


    Viele Suizidgefährdete sind hin und her gerissen zwischen Todessehnsucht und Lebenswillen. Das ist ein sehr unlogischer Vorgang. Aschenbach konnte seine Jugend nicht wiedererlangen bzw. kein neues Leben anfangen, also tötete er es (Tadzio) und damit sich selbst. Tadzio starb logischerweise ebenso an der Cholera, denn er blieb ja da und war ein kränkliches Kind.


    Und ich dachte, er bleibt nicht da. Es wurde ja alles für die Abreise vorbereitet.
    Glaubst Du wirklich, dass Aschenbach sich nach seiner Jugend zurücksehnte? Ein einmaliger Friseurbesuch, sogar mit kosmetischer Verschönerung, zählt für meine Begriffe noch nicht zum Jugendwahn.
    Bei meiner Interpretation steht die Todessehnsucht des Schriftstellers im Zentrum, nicht seine Suche nach einer verlorenen Jugend oder gar ein Neubeginn. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er mit seinem Leben so unzufrieden war. Aber für ihn war der Endpunkt erreicht. Und Thomas Mann versteht das in wunderschöne Worte zu fassen.
    Oder sehe ich das falsch?


    Liebe Grüße


    Madeleine

  • Hi Madeleine


    Ja, für mich ist es der Jugendwahn, der Aschenbach in den Tod trieb. Er war bereit für den Tod, weil er sich nicht mehr jung fühlte. Er sehnte sich nach seiner verlorenen Jugend zurück, verkörpert in Tadzio, doch sie blieb letztlich unerreichbar für ihn, ein Traum. Erst im Tod werden sie gleich. Ich komme zu dieser Deutung aufgrund kongruenter Parallelhandlungen von Tadzio und Aschenbach. Dieses literarische Stilmittel wird für gewöhnlich eingesetzt, um anzudeuten, dass zwei Figuren in Wirklichkeit Aspekte einer Person sind. Meine Kurzgeschichte Verwehter Sandstaub basiert auf demselben literarischen Prinzip.


    Aschenbach war bereits infiziert, Tadzio konnte es ebenfalls sein. Die Familie wurde ja von Aschenbach nicht vorgewarnt und die Touristen wurden ansonsten in Unwissenheit gehalten von den Einheimischen.


  • Aschenbach war bereits infiziert, Tadzio konnte es ebenfalls sein. Die Familie wurde ja von Aschenbach nicht vorgewarnt und die Touristen wurden ansonsten in Unwissenheit gehalten von den Einheimischen.


    Hallo Evelyne, hallo Madeleine,


    ich habe es eigentlich auch so gedeutet, daß Tadzio mit seiner Familie abreist. Ob er jetzt infiziert war mit der Cholera oder nicht, kann man nicht sagen. Dadurch, daß Tadzio ihm nun genommen wird, kann Aschenbach endlich loslassen und sterben (die Cholera steckt ja schon in ihm). Da ich Tadzio als eine eher "überirdische" Gestalt sehe, glaube ich gar nicht, daß er an der Cholera stirbt; aber da er ja kränkelnd ist, lebt er vielleicht trotzdem nicht mehr lange.


    Dann wäre es trotzdem auch möglich, daß Tadzio im Prinzip nur ein Aspekt von Aschenbachs Persönlichkeit ist (seine verloren geglaubte Jugend). Ich hatte allerdings das Gefühl, daß Aschenbach sich nur deshalb "aufbrezelt", weil er dem Geliebten gefallen möchte. Er möchte wieder jung sein, weil er begehrenswert erscheinen möchte, und glaubt, daß er als alter, verbrauchter Mann nicht begehrenswert ist.


    Viele Grüße
    thopas