Französische Romane des 19. Jahrhunderts

  • Liebes Forum,


    vor einiger Zeit sprach ich mit einem französischen Geschäftsfreund u.a. über die Romanliteratur des 19. Jahrhunderts. Erstaunt war ich über eine Aussage, die sinngemäß etwa wie folgt lautete: Die Mehrheit der heutigen Franzosen habe Stendhal längst vergessen. Flaubert werde nicht sehr geschätzt, seine „Madame Bovary“ sei eher etwas für die unterkühlten Deutschen. Zola habe sich durch seine Stellungnahme in der Dreyfus-Affäre zu sehr kompromittiert. Mit mehr oder weniger Begeisterung gelesen würden heute vielleicht noch Balzac („dieser barocke Fabulierer“), Hugo und der Tausendsassa Dumas mit seinen Abenteuerschinken.


    Ich bin bei weitem kein intimer Kenner der französischen Seele und Vorlieben und frage mich deshalb, ob diese Einschätzung wirklich stimmt.


    Über sachdienliche Hinweise und auf eine interessante Diskussion freut sich


    Sir Thomas

  • Und diese Frage zum 225. Geburtstag von Stendhal ... :breitgrins:


    Ich habe zuwenig Kontakt mit französischsprachigen Lesern, um diese Frage beantworten zu können. Diejenigen, die ich kenne, ziehen es vor, über Rimbaud zu reden, Verlaine, Breton, Prévert oder Proust. Aber das mag an meinen Bekannten liegen, und ich möchte das nicht verallgemeinern ... :zwinker:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Sir Thomas,


    Hier liegt aber wirklich ein sträflicher Irrtum vor, Zola war der einzige, der sich mutig für Dreyfuß eingesetzt hat, wodurch schließlich auch dessen Freilassung und Rehabilitierung bewirkt werden konnte. Zola ist ein Mann, auf den die Franzosen stolz sein können und es meines Wissens auch sind!
    Jetzt noch etwas zur Literatur : Ich bin nicht auf dem Laufenden, was in Frankreich momentan gelesen wird, hoffe aber es sind meine hierzulande wenig bekannten oder vergessenen "Lieblinge" Georges Bernanos, Michel Butor, Paul Claudel und Jean Giono. Um Hugo, Proust, Camus & Co mache ich mir keine Sorgen, die sind doch längst im Olymp.


    Mit etwas irritierten Grüßen


    Die Leserin


  • Hier liegt aber wirklich ein sträflicher Irrtum vor, Zola war der einzige, der sich mutig für Dreyfuß eingesetzt hat, wodurch schließlich auch dessen Freilassung und Rehabilitierung bewirkt werden konnte. Zola ist ein Mann, auf den die Franzosen stolz sein können und es meines Wissens auch sind!


    Nein, leider kein Irrtum. Mein Gesprächspartner hält einen großen Teil seiner Landsleute für antisemitisch und fremdenfeindlich, weshalb er auch der Meinung ist, Zola habe sich mit der Verteidigung des Juden und "Verräters" Dreyfus in den Augen vieler Franzosen keinen Gefallen getan - weder damals noch in der Rückschau. Vielleicht beruhigt es Dich, liebe Leserin, dass mein Geschäftsfreund diese Meinung über Zola nicht teilt, aber er sieht die fremdenfeindlichen Tendenzen seines Landes mit offenen Augen und realistischem Blick.


    Die Franzosen sollten stolz auf ihren Zola sein, sind es aber leider nicht - zumindest nicht so, wie wir es (ein wenig naiv?) vielleicht erwarten.


    Es grüßt


    Sir Thomas

  • Die Franzosen sollten stolz auf ihren Zola sein, sind es aber leider nicht - zumindest nicht so, wie wir es (ein wenig naiv?) vielleicht erwarten.


    Nun ja: Ist der Deutsche stolz auf seinen Heinrich Heine? Der Österreicher auf seinen Thomas Bernhard? Der Schweizer auf seinen Max Frisch? Nestbeschmutzer haben es immer schwer im Nest ... (Dazu hatten wir letzten Sommer eine [Mini-]Diskussion ... ;))

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  • ... hoffe aber es sind meine hierzulande wenig bekannten oder vergessenen "Lieblinge" Georges Bernanos, Michel Butor, Paul Claudel und Jean Giono.


    Liebe Leserin,


    von Deinen "Lieblingen" sind mir Michel Butor und Jean Giono vollkommen unbekannt. Auch mit Paul Claudel kann ich wenig anfangen. War er nicht Dramatiker?


    Von Bernanos ist mir immerhin "Die Sonne Satans" dem Namen nach geläufig. Ist das Buch lesenswert? Bernanos wird gern in einem Atemzug mit Julien Green genannt, dessen "Leviathan" mich sehr beeindruckt hat. Auch der Name Francois Mauriac fällt in diesem Zusammenhang. Ein weiterer Tipp, Deiner Meinung nach?


    Woher nehme ich bloß die Zeit, all das zu lesen ...


    Liebe Grüße


    Sir Thomas


  • Nun ja: Ist der Deutsche stolz auf seinen Heinrich Heine? Der Österreicher auf seinen Thomas Bernhard? Der Schweizer auf seinen Max Frisch? Nestbeschmutzer haben es immer schwer im Nest ...


    Einverstanden, obwohl Heine meines Wissens nach offiziell nicht mehr als "Nestbeschmutzer" gewertet wird. Zola wird in Frankreich auch nicht öffentlich geschmäht. Unterhalb der Ebene offizieller Stellungnahmen soll es allerdings ganz anders aussehen ...


    Es gibt halt manchmal quasi amtlich festgelegte Meinungen, die mit "Volkes Stimme" nicht übereinstimmen.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo Sir Thomas,


    ich war ewig lange nicht mehr hier, möchte dir aber jetzt verspätet antworten (obwohl du jetzt wahrscheinlich gerade ganz andere Sachen liest).
    Georges Bernanos ist das Beste, was einem passieren kann, wenn man Literatur sucht, die über die Schmerzgrenze hinaus geht (und warum wohl sonst liest man überhaupt?). Man muss ihn einfach lieben. "Die Sonne Satans" gehört in mein Universum der unverzichtbaren Bücher.
    Auch Paul Claudel schlägt sich, genau wie Bernanos es getan hat, mit seinem Glauben herum. Er schrieb, wie du schon angemerkt hast, überwiegend Dramen, die hierzulande so gut wie nie aufgeführt wurden oder werden, aus dem guten Grund, weil sie nahezu unaufführbar und eine Zumutung sind. Claudel muss man einfach schrecklich und grandios zugleich finden. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes, was der Titel eines seiner Stücke besagt,"Hartes Brot", und furchterregender als der von dir geschätzte wahnwitzige Julien Green (auch ein Gottesfürchtiger). In seiner "Adrienne Mesurat" geht er am rasantesten zur Sache, nur hat er leider auch sehr schwache Bücher geschrieben.
    Michel Butor ist ein Fachmann auf dem Gebiet des ausgeklügelten Romans. Seine Bücher sind ein intellektueller Hochgenuß. "Der Zeitplan" ist sein Meisterstück und unübertroffen an Intelligenz und Raffinement. Vergleichbar am ehesten mit Nabokov und Georges Perec (ebenfalls von mir sehr verehrte Könner).
    Jean Giono schließlich ist ein "tagheller Mystiker", um ein Wort vom großen Musil in den Mund zu nehmen. Giono ist ein Poet in Prosa, seine Bücher machen einfach nur glücklich.
    Der von dir erwähnte Mauriac ist kein schlechter Autor, kann sich mit den o.g. Riesen aber nicht messen.
    So, hoffentlich kannst du mit meinen kurzen Anmerkungen etwas anfangen. Würde mich freuen wieder von dir zu hören.


    Viele Grüße von der Leserin


  • Georges Bernanos ist das Beste, was einem passieren kann, wenn man Literatur sucht, die über die Schmerzgrenze hinaus geht (und warum wohl sonst liest man überhaupt?). Man muss ihn einfach lieben. "Die Sonne Satans" gehört in mein Universum der unverzichtbaren Bücher.


    Liebe Leserin,


    schön, mal wieder von Dir zu lesen ... :klatschen:


    Ich kann Deinem Werben für Herrn Bernanos und dessen satanischer Sonne wohl kaum noch länger wiederstehen. Ich habe es auf meine Watchlist gesetzt und werde beim nächsten Einkauf wohl "zuschlagen". Die anderen von Dir genannten Autoren sehe ich, wenn überhaupt, eher als mittel- bis langfristig interessant an. Paul Claudel scheidet komplett aus, wenn ich Dich richtig verstanden habe.


    Es grüßt


    Sir Thomas

  • Ich sag's ja nur, weil ich mich einen Moment lang gewundert habe, dass ich in einem Thread "Französische Romane des 19. Jahrhunderts" Georges Bernanos erwähnt finde ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus


  • Ich sag's ja nur, weil ich mich einen Moment lang gewundert habe, dass ich in einem Thread "Französische Romane des 19. Jahrhunderts" Georges Bernanos erwähnt finde ... :winken:


    Das sollte man vielleicht nicht allzu eng sehen ... :breitgrins:


    Hauptsache Frankreich ...


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Die von mir Genannten sind alle 20.Jahrhundert (sorry). Die Diskussion über die Französische Literatur hatte sich zum Zeitpunkt meiner Einmischung schon zu der Frage hin entwickelt, was in Frankreich heute gelesen wird (außer Houellebecq und Littell); dabei brachte ich meine Hoffnung zum Ausdruck, es mögen meine "Lieblinge" dabei sein (eben die o.g. Bernanos, Claudel, Giono und Butor).


    Lieber Sir Thomas


    Es freut mich, dass du dir "Die Sonne Satans" vornehmen willst. (Es gehört zu Handkes Lieblingsbüchern, wie ich kürzlich erfuhr. Ich weiß natürlich nicht, ob das in deinen Augen eine Empfehlung ist.) Ich hoffe du wirst dir auch die Lektüre von Butor und Giono (seine Bücher sind von Homer, Stendhal und Melville beeinflußt, sein "Der Husar auf dem Dach" ist ein gigantischer Roman). Was Claudel betrifft, habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt, ich empfehle die Lektüre seiner Stücke ganz ausdrücklich. Man muss ja nicht alles lieben, was man bewundert. Aber dabei kommt etwas zum Tragen, was Sandhofer mit anderen Worten (ich weiß gerade nicht, an welcher Stelle) problematisiert.Wie kann ich mir Bücher von Menschen, die ich überhaupt nicht kenne, empfehlen lassen? Denn in der Regel ist es doch umgekehrt: Ich lerne Menschen kennen, wenn ich weiß, was (und wie) sie lesen. Ich lerne also nicht durch Menschen Bücher kennen, sondern durch Bücher Menschen.
    Es interessiert mich, welchen Eindruck du von Bernanos hast.


    Die Leserin


  • Die Mehrheit der heutigen Franzosen habe Stendhal längst vergessen. Flaubert werde nicht sehr geschätzt, seine „Madame Bovary“ sei eher etwas für die unterkühlten Deutschen. Zola habe sich durch seine Stellungnahme in der Dreyfus-Affäre zu sehr kompromittiert. Mit mehr oder weniger Begeisterung gelesen würden heute vielleicht noch Balzac („dieser barocke Fabulierer“), Hugo und der Tausendsassa Dumas mit seinen Abenteuerschinken.


    Glaubt ihr, dass in unserem Sprachgebiet die MEHRHEIT der Leute Stendhal kennt? - Oder schreibt ihr das der Sprachbarriere zu? - Ich bin allerdings ziemlich sicher, dass etliche der deutschen Klassiker des 19. Jh. auch in Deutschland unter 50% Bekanntheitsgrad aufweisen würde. - Kenne allerdings keine Umfrage dazu.



    Grüsse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Diese Diskussion ist ja erst mal abgeschlossen. Und ein eigenes Thema zu Prosper Mérimée habe ich nicht gefunden. Ob sein Buch laufend im Buchhandel erhältlich war, weiß ich auch nicht, ich habe sein Buch "Colombo" in der DDR-Reihe "Kompass" entdeckt und stell es einfach mal vor:


    Prosper Mérimée wurde am 28. September 1803 in Paris geboren. Die Eltern des französischen Schriftstellers waren geistig interessiert und sehr anglophil.


    Er studierte Rechtswissenschaften und betätigte sich nebenbei schon als Autor. Schon mit 19 Jahren fand er den Zutritt zu Pariser Künstler- und Literatenkreisen, lernte Stendhal kennen, mit dem er befreundet blieb, und später Romantiker wie Victor Hugo.


    In seinen letzten Lebensjahren war er Vermittler der zeitgenössischen russischen Literatur in Frankreich. Unter anderem trug er als Übersetzer der Werke Puschkins, Turgenjews und Gogols wesentlich zur Verbreitung der russischen Literatur bei. Am 23. September 1870 starb Prosper Mérimée in Cannes, wo er auf dem Cimetière du Grand Jas seine letzte Ruhestätte hat.


    Am 23. September 1870 starb Prosper Mérimée in Cannes.


    1840 erschien von ihm die Novelle "Colomba", in der es um Blutrache geht. Die Schwester fordert vom Bruder, dass er den toten Vater rächen soll. Der Bruder möchte das Gericht entscheiden lassen und macht zum Schluss seine eigene Erfahrung mit der Gerichtsbarkeit.


    Die Geschichte erschien erstmalig am 1. Juli 1840 in der "Revue des Deux Mondes".


    In meiner Jugendzeit habe ich das Buch schon mal gelesen, ach was, verschlungen habe ich es. Es erschien bei uns in der Kompass-Bücherei (Band 237) vom Verlag Neues Leben Berlin.


    Vor einigen Jahren las ich in unserer Tageszeitung einen Reisebericht über Korsika, und da klingelte es schon leicht bei mir. Als dann auch noch der Name "Colomba" fiel, war die Erinnerung da. Ich habe dann gleich im Internet gesucht und das Buch glücklicherweise gefunden und mir noch einmal bestellt.