Nach welchen Kriterien bewertet man eigentlich Literatur

  • Hallo Bartlebooth,
    Kriterien sind doch immer abstrakt. z.B. wenn jemand findet die Geschichte wäre da und dort nicht stimmig, hätte gleichsam eine Bruchstelle, dann ist das die konkrete Ausprägung, die wohl unter das abstrakte Kriterium der Kontinuität fällt. Wobei abstrakte Begriffe für Fachleute auch effektiver sind und das mit der Bruchstelle wirklich nicht rein subjektiv wäre.


    Gruß!

  • Literatur ist ein weites Terrain, mit Gipfeln, Hochebenen, aber auch Abgründen und Sümpfen.


    Anspruchsvolle Literatur wird den Erwartungen der Anspruchsvollen gerecht.


    Ob die persönliche intuitive Wertschätzung konsensfähig ist, zeigt die Rezeptionsgeschichte.


    Ein Kuriosum: Der numerische Gradmesser für literarische Qualität ist der Umfang der Sekundärliteratur, die der literarische Text provoziert.


    Mich spricht vor allem an, wenn hinter der vordergründigen Rahmenhandlung bedeutungsvolle Tiefenperspektiven durchscheinen. Das Lesevergnügen besteht dann in der Freude des Erkennens.


    Also, die Frage nach den Kriterien würde ich auf den Punkt bringen: Ist der Text hintergründig, hat er Tiefenperspektiven? Thomas Manns Verleger S. Fischer soll einmal ein Manuskript abgelehnt haben mit der Begründung: "Hat keine Dämonie!" Thomas Mann hat sich über diesen Kunstinstinkt amüsiert und ihn zugleich bewundert.


    Herzliche Grüße an alle Diskusionsteilnehmer,
    H.-P.Haack, Leipzig.

    "Trau deinen Augen" (Otto Dix)

  • Hallo Monolith,


    so lernt man sich im Forum kennen! Mit Ihrem Rekurs machen Sie öffentlich, dass Sie die "Lesekunst" [E. Heftrich] noch nicht erlernt haben. Wird schon noch werden. Ich habe auch klein angefangen.


    Bis zum nächsten Schlagabtausch und nichts für ungut!


    H.-P.Haack

    "Trau deinen Augen" (Otto Dix)

  • "Schlagabtausch" enthält das Wort Tausch - und ein Tausch ist etwas mehrseitiges, also war das hier kein Schlagabtausch. Ihr habt aneinander vorbei geschrieben, wobei Monolith wohl primär freundlich sein wollte, du Freundlichkeit (nicht zu verwechseln mit Förmlichkeit) aber wohl eher als Sekundärtugend ansiehst.


    Ebenfalls nichts für ungut und Gruß!

  • Hallo Stoerte,


    wenn ich Monolith falsch verstanden habe, tut mit das sehr leid, und ich ärgere mich über meinen groben Ton. Monolith bitte ich um Entschuldigung!


    H.-P.Haack

    "Trau deinen Augen" (Otto Dix)

  • Hallo,


    dann will ich mich auch mal dazu äußern:



    Mit Ihrem Rekurs machen Sie öffentlich, dass Sie die "Lesekunst" [E. Heftrich] noch nicht erlernt haben. Wird schon noch werden. Ich habe auch klein angefangen.


    Ja, da haben Sie sogar ausgesprochen recht, denn ich habe noch so gut wie gar nichts im Bereich Klassiker gelesen, deswegen wollte ich auch eher für die mir bekannte Literatur sprechen, als ich Ihnen wenig förmlich zustimmte, dass ein gewisser Tiefgang wichtig sei.


    Ich stand und stehe noch, wie oben erwähnt, ganz am Anfang, als ich dieses Forum zum ersten Mal betrat. Mich interessierte Literatur allgemein, das Interesse für Geschichte und in manchen Fällen auch für alltertümliche Sprache kamen dazu... Dann entschloss ich mich zur Registration, um Menschen zu haben, mit denen man über Gelesenes diskutieren kann, aber auch, um sich etwas beibringen zu lassen, was sicher schon in vielen Fällen vorgekommen ist.
    So viel zu meiner "Geschichte".


    Zum Thema Schlagabtausch: Davon kann wirklich keine Rede sein. So etwas hielte ich in einem Internetforum aber auch nicht für angebracht, da man sein "Gegenüber" nur sehr schwer einschätzen kann.


    HG, Monolith

  • Hallo!



    Wenn du wirklich Germanistik studierst, solltest du eigentlich schon zu Beginn gelernt haben, dass es bei einer literaturwissenschaftlichen Lektüre völlig belanglos ist, ob man subjektiv mitfühlen kann. Es geht um die ästhetischen und strukturellen Qualitäten des Romans oder um den literatur- und geistesgeschichtlichen Kontext. Ein Literaturstudium sollte es einem nicht nur ermöglichen zwischen objektiven Gegebenheiten und subjektiven Vorlieben zu unterscheiden, sondern dann auch zugunsten der Objektivität Urteile zu fällen.


    Nimm mal ein anderes Fach und stell dir vor ein Botanikstudent schreibt: Ich studiere Botanik aber diese Blume gefällt mir nicht, weil sie blau ist. Das mag ein akzeptables subjektives Urteil sein, hat aber nichts mit Botanik zu tun.


    Wenn es "um die ästhetischen Qualitäten des Romans geht" - in welcher Form könnten diese bei einem Roman beurteilt werden? gibt es eine Art allgemein akzeptierten "Goldenen Schnitt" für die Komposition von Romanen? für die Schönheit von Prosa (oder auch Gedichten) und zu welchem Ergebnis könnte man nach Anwendung eines solchen Ästhetikkatalogs (Theorie ...) kommen? Müsste man nicht jedem Kunstwerk, bei dem eine solche ästhetische Prüfung erfolgt, das Prädikat schön oder hässlich oder irgendeinen dazwischen liegenden Wert zuerkennen?


    Kann eine solche Zuerkennung ohne Subjektivität erfolgen? bzw. wäre sie nicht von der Anerkennung einer bestimmten, auf das Kunstwerk angewendeten Theorie abhängig? Wer bestimmt die Gültigkeit einer solchen Theorie und wie groß ist die Abhängigkeit solcher Theoriegebilde von der Zeit, von Moden? Wie könnte trotzdem ein "Urteil zugunsten der Objektivität" ausfallen?


    Besteht die Crux im Vergleich mit der blauen Blume nicht darin, dass kein Botaniker - für welche wissenschaftliche Klassifikation auch immer - auf eine ästhetische Beurteilung oder ästhetische Theorie zurückgreifen würde?


    Oder es besteht eine Begriffsverwirrung bezüglich der "ästhetischen Qualitäten", welche einfach anhand eines bestimmten Kataloges auf ihr Vorhandensein überprüft werden, wonach man zu einem Urteil "erfüllt", "nicht erfüllt" gelangt, das dann kein Werturteil der Art "schön" oder "hässlich" einschließt, sondern rein deskriptiven Charakter hat wie etwa die Analyse der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge. Oder was wäre sonst unter "ästhetischen Qualitäten" zu verstehen?


    Grüße


    s.

  • Hallo scheichsbeutel,


    eine Diskussion zu diesem Thema mussten wir hier leider wegen unüberwindlicher Kommunikationsprobleme abbrechen.
    :breitgrins:
    Möchtest Du reaktivieren?

  • Hallo Bartlebooth!



    eine Diskussion zu diesem Thema mussten wir hier leider wegen unüberwindlicher Kommunikationsprobleme abbrechen.
    :breitgrins:
    Möchtest Du reaktivieren?


    Keinesfalls, und das meine ich ernst, möchte ich einen irgendwie gearteten Streit entfachen - und wie schnell Missverständnissen Tür und Tor geöffnet werden kann, sah ich im Nachbarforum.


    Mir ist also an einer Reaktivierung bislang unbekannter Kommunikationsprobleme nicht gelegen, mit babylonischer Sprachverwirrung bin ich im Alltag schon geschlagen. (Ich überlege, die gesammelten Telefongespräche mit Hotline-Mitarbeitern und (semi-)offiziellen Stellen herauszugeben, um für den nicht unerheblichen Ärger eine finanzielle Entschädigung zu lukrieren.)


    Tatsächlich hab ich mir bei der Frage aber etwas gedacht. Denn in einem Literaturforum angekommen sehe ich erstaunt, dass Bücher in die unterschiedlichsten Teilbereiche und Rubriken unterteilt werden. Was zum einen hilfreich sein kann, zum anderen aber Erstaunliches (für mich) zeitigt: Etwa die Weigerung aus der Rubrik xy ein Buch zu lesen. Und _das_ erstaunt mich, weil _ich_ hauptsächlich zwischen guten (interessanten) und schlechten (langweiligen) Büchern unterscheide. Mir ist es im Grunde egal, ob ein Buch einer bestimmten Kategorie angehört, ob es von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde, von einem bisexuellen Eskimo oder einem hämorrhoidengeplagten Beduinen. "Gut" sollte es sein - oder interessant, wie auch immer die - positiv konnotierte - Bezeichnung ausfällt. Weil ich festzustellen glaubte, dass zwischen guten Büchern (Autoren) eine sehr viel stärkere Verbindung besteht, als zwischen Autoren, die zufällig das gleiche Genre beackern, wovon der eine des Schreibens und Denkens fähig ist, während der andere in den Niederungen der Einfalt und Trivialität seine Existenz fristet.


    Tja, und deshalb würden mich diese Wertungskriterien interessieren. Ich _weiß_ mit Bestimmtheit, dass die Buddenbrooks "besser" sind als irgendein Coelho-Elaborat, ich kann für diese These - hoffentlich nachvollziehbare - Argumente anführen, aber es bleibt immer ein Gran Zweifel zurück; oft meine ich, dass der schlecht beurteilte Autor durch eine Verteidigung meinerseits gut aufgehoben wäre, ich finde dann nur schwerlich Gegenargumente für meine eigene (vorgestellte) Verteidigungssuada.


    Und hier stellt sich eben die Frage, ob die Literaturwissenschaft mir Argumente an die Hand geben könnte, um einen solchen Beweis zu führen. Selbst wenn eine solche wissenschaftliche Analyse weitgehend _wertfreie_ Fakten liefert (liefern soll?), habe ich das Gefühl (das selbstverständlich trügen kann bzw. nur für mich allein diese Bedeutung hat), dass neben bloßer Beschreibung eben Argumentationsgrundlagen geliefert werden soll(t)en. Und wenn nicht - bin ich dann nicht in einer Situation, die mit einer "physikalischen" Bildbeschreibung vergleichbar wäre (genaue Größe, Materialverwendung, Häufigkeit der verwendeten Farben Blau, Rot ..., Anzahl der Personen auf dem Bild, der Sträucher, Hunde etc.) und ginge eine solche Beschreibung nicht am "Eigentlichen" eines Bildes vorbei?


    Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, diverse Theorien auf Romane angewendet zu sehen (etwa eine Raum-Zeit-Theorie auf Romane des 18. Jahrhunderts, ein psychoanalytischer Ansatz wurde - selbstredend - dem armen Kafka aufgepfropft), aber stets den Eindruck, dass dadurch über die Bücher selbst nichts oder Bedeutungsloses ausgesagt wurde. Die Ergebnisse waren nicht einmal dürftig, sie waren schlicht beliebig. Als ob man die besitzanzeigenden Fürwörter von Romanen zählen wollte und aus ihrer Anzahl auf einen (nicht-)kapitalistischen Hintergrund des Schriftstellers schließen wolle.


    Vielleicht kann man aber diese Grundsatzdiskussion gar nicht führen, ich fühle mich selbst nicht recht wohl dabei. Eventuell das Pferd von hinten aufzäumen: Was veranlasst den Einzelnen, ein Buch als lesenswert/nicht lesenswert zu beurteilen und spielen dabei literaturwissenschaftliche Überlegungen eine Rolle? Können, sollen sie das? Schlüpfriges Terrain, allüberall. Vielleicht ist das mit Reaktivierung doch keine so gute Idee :-).


    Irgendwie so. Grüße


    s.

  • Hallo scheichsbeutel,


    das Wörtchen "hier" in meinem vorigen Posting war verlinkt. Du kannst in dem entsprechenden Thread nachlesen, was ich und andere dazu gesagt haben. Eine Reaktivierung würde sich meiner Ansicht nach schon lohnen. Und schlüpfriges Terrain gibt es ja sogar da, wo man es niemals vermuten würde.


    Meiner unmaßgeblichen Meinung nach kann man sich Qualität nur diskursiv nähern und sie ist natprlich deshalb auch historisch veränderlich. Ich halte sie nicht für objektiv feststellbar und nicht für willkürlich. Es gibt Kriterien, anhand derer man sich einer Kategorie wie "Qualität" recht problemlos nähern kann, wenn man das mal akzeptiert hat. Und genau dann wird ein Gespräch über Literatur nach meinem Dafürhalten interessant.

  • Hallo Bartlebooth!



    das Wörtchen "hier" in meinem vorigen Posting war verlinkt. Du kannst in dem entsprechenden Thread nachlesen, was ich und andere dazu gesagt haben. Eine Reaktivierung würde sich meiner Ansicht nach schon lohnen. Und schlüpfriges Terrain gibt es ja sogar da, wo man es niemals vermuten würde.


    Meiner unmaßgeblichen Meinung nach kann man sich Qualität nur diskursiv nähern und sie ist natprlich deshalb auch historisch veränderlich. Ich halte sie nicht für objektiv feststellbar und nicht für willkürlich. Es gibt Kriterien, anhand derer man sich einer Kategorie wie "Qualität" recht problemlos nähern kann, wenn man das mal akzeptiert hat. Und genau dann wird ein Gespräch über Literatur nach meinem Dafürhalten interessant.


    Tja, der Link funktioniert, wenn man "forum/" aus der Url löscht :-), weil sich die Standardseite geändert hat. Werde mich mal schlau machen, für mich bei diesem Thema dringend notwendig.


    Grüße


    s.

  • Hallo!



    das Wörtchen "hier" in meinem vorigen Posting war verlinkt. Du kannst in dem entsprechenden Thread nachlesen, was ich und andere dazu gesagt haben. Eine Reaktivierung würde sich meiner Ansicht nach schon lohnen. Und schlüpfriges Terrain gibt es ja sogar da, wo man es niemals vermuten würde.


    Meiner unmaßgeblichen Meinung nach kann man sich Qualität nur diskursiv nähern und sie ist natprlich deshalb auch historisch veränderlich. Ich halte sie nicht für objektiv feststellbar und nicht für willkürlich. Es gibt Kriterien, anhand derer man sich einer Kategorie wie "Qualität" recht problemlos nähern kann, wenn man das mal akzeptiert hat. Und genau dann wird ein Gespräch über Literatur nach meinem Dafürhalten interessant.


    Dieser Thread hat einigen Unterhaltungswert! Und hat mich an den anderweitig aufgetauchten Luhman nebst seinen Autopoiesis-Konzepten erinnert.


    Der in meinem ersten - gelöschten - Posting vorgeschlagene Diskurs mit nachvollziehbaren Argumenten dürfte in etwa dem entsprochen haben, was du mit deinen Beiträgen (mehrfach :-) ) auszudrücken versuchtest, womit du aber nicht immer zum Ohr des Empfängers durchgedrungen zu sein scheinst.


    Meine Probleme sind anders gelagert, ich muss sie noch mal überdenken und ausformulieren. Sie stoßen sich mehr am Begriff "Wissenschaft", an Theorien (z. B. Ästhetiktheorien), die nicht falsifizierbar sind, an einer "Wissenschaft", die u. a. oder v. a. der Bewertung von Kunst dient (was mir suspekt erscheint), an der Differenz von Literaturkritik und Literaturwissenschaft.


    Grüße


    s.

  • Hallo allerseits!


    Zur Kritik bzw. Berechtigung des Begriffes Literaturwissenschaft:


    1. Unterscheidung der Wissenschaft von Mythos, Kunst, Religion, Meinen, Glauben. Diese Unterscheidung allein schließt offenbar nicht aus, über die genannten Bereiche - insbesondere den der Kunst - wissenschaftlich sprechen zu können.


    2. Empirische Bestätigung einer Theorie: Bereits vorhandene oder zukünftige literarische Produkte müssten die einmal aufgestellte Theorie vorläufig bestätigen oder falsifizieren.


    3. Reproduzierbarkeit: Das Problem der Geistes/Sozialwissenschaften schlechthin.


    Die Hermeneutik wird als ein Versuch zur "wissenschaftlichen" Interpretation von Texten angesehen. Doch schon deren historische Betrachtung beleuchtet den schwankenden Boden: Sie fand ihre erste Anwendung in der Auslegung der Bibel (Kirchenväterzeit), wobei die "innere Haltung" des Interpreten eine entscheidende Rolle spielte. (Exkurs I: Dies ist trotz der offenkundigen Ähnlichkeit mit dem Rosenthal-Effekt bezüglich der Voreingenommenheit des Forschers in Hinsicht auf die zu erzielenden Ergebnisse m. E. nicht vergleichbar: Ist es beim Rosenthal-Effekt so, dass dieser sozusagen "ungewollt" Einfluss nimmt, wird bei der hermeneutischen Methode die Subjektivität zu einem konstituierenden Faktor.)


    Reproduzierbarkeit der Ergebnisse müsste also umgedeutet werden in den schon erwähnten logisch-argumentativen Diskurs. Nachvollziehbar statt reproduzierbar. Allerdings kann eine Theorie in sich stimmig und widerspruchsfrei sein - und trotzdem falsch. (Alles führt zu allem: Hier müsste ein seitenlanger Exkurs über die Wahrheit und deren Verhältnis zur Wirklichkeit stehen. Ich gehe hier von einer zumindest minimalen, objektiven Wirklichkeit aus und betrachte Sätze als wahr, die eine Entsprechung in dieser Wirklichkeit haben.)


    In einem weiteren Bereich kann die Bibelauslegung als beispielhaft für das entstehende Problem gelten: In der Unsicherheit, ob Textstellen metaphorisch oder wortwörtlich zu nehmen sind und welche Interpretation eines Gleichnisses für das richtige gilt. Daran ändern auch Versuche (etwa Schleiermachers) nichts, Texte in einen objektiven (Sprache) und subjektiven (vom Autor als Individuum) erstellten Teil zu unterscheiden. Dieser Spagat wird bei ihm dann in der weiteren Unterscheidung zwischen einer sprachlich-historischen und einer divinatorischen (auf intuitives Erfassen gerichtete) Analyse deutlich.


    (Exkurs II: Hier ist nun Zeit für einen literaturwissenschaftlichen Bauchfleck. Denn auf Hermeneutik folgt häufig Postmoderne, Poststrukturalismus. Zitat Bartlebooth: "Die Postmoderne ist - im Gegenteil - eine einzige Aufforderung zu Begründung, Plausibilisierung, kurz gesagt: zum Dialog. Das was beim gemeinen Fußvolk davon angekommen ist, ist leider mal wieder das Gegenteil, nämlich ein permanentes Abwürgen von Diskussion mit dem Hinweis auf die Nicht-Existenz von Objektivität." - Leider muss ich mich hier teilweise zum ordinären Fußvolk zählen, wenngleich noch ein paar mehr Dinge bei mir angekommen sind: Eine sehr unpräzise Sprache und schwammige Terminologie (sodass man nie recht weiß, was der Betreffende unter einem bestimmten Begriff gerade versteht), ein Wissensrelativismus, der in letzter Konsequenz immer sich selbst ad absurdum führt, eine Art phänomenologische Beliebigkeit und übermäßige Betonung der "Intuition". Das Hauptärgernis bestand für mich immer in der Art der Sprache: Ich hatte ständig das Gefühl, dass ich die Bedeutung vieler Worte einfach nicht verstand, dass ich ein eigenes postmodernes Wörterbuch gebraucht hätte - und selbst dieses wäre oft nutzlos: Weil die Begriffe kontextbezogen waren und von Seite zu Seite in einem anderen Licht, einer anderen Bedeutung erschienen. Es ist nicht so, dass ich gar nichts von alledem gelesen hätte (oder es nicht wenigstens versuchte), ich weiß auch, dass sich nicht jeder Text dem Leser sofort erschließt, aber nach einigem Quälen stellt sich mir dann die Sinnfrage (ob denn da überhaupt etwas zu verstehen sei) - und ob der Autor eigentlich nicht verpflichtet wäre, sich mehr um Verständlichkeit zu bemühen. Mein Lesen und Verstehenwollen erinnerte mehr Kabbalistik und Bibelexegese als an Philosophieren. - Nebenher: "Überwachen und Strafen" sowie "Archäologie des Wissens" sind vorbestellt, vielleicht komm ich ja auf diese Weise der Sache näher:-).)


    Diltheys Teilung in Natur- und Geisteswissenschaften, in idiographische und nomothetische Methoden gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. Oder - was Dilthey als den Unterschied zwischen Erkennen (Nawi) und Verstehen (Gewi) bezeichnete. So ist die "Geschichtswissenschaft" - nomothetisch betrieben - offenkundiger Unsinn und führt zu eschatologischen Szenarien (wie im Marxismus) oder prophetisch-nostradamischen Nonsens (wie bei Spengler). Die nomothetische Minimalvariante (etwa: Der Einmarsch einer fremden Armee auf ein Staatsgebiet führt zu Verteidigungsmaßnahmen) ist hingegen trivial; sobald sie jedoch zu überschreiten versucht wird, befindet man sich wieder auf der Ebene der Prophetie.


    Wissenschaft als kein bloßes Sammeln von Fakten, sondern der Versuch, die Ursachen derselben erklären. Wobei es nicht um Einzelursachen, sondern um das Erkennen allgemein zugrunde liegender Strukturen gehen soll. Aufgrund dieses Erkennens soll eine allgemeine Theorie formuliert werden können, welche die Einzelerscheinungen zusammenfasst und erklärt. Und diese Theorie soll dann wieder in begründbaren, wahren Sätzen formuliert werden. (Ich kenne eine Uniprofessorin, welche sich die Mühe machte (Mühe, weil in Vorcomputerzeit), die Häufigkeit eines bestimmten Wortes im Gesamtwerk Canettis zu ermitteln. Und aus dieser Häufigkeit immerhin soviel (kurz-) geschlossen hat, dass es für einen Aufsatz über den armen Elias reichte.) Nun kann man natürlich mit dummen Beispielen die beste Theorie diskreditieren, in literaturwissenschaftlich Kreisen scheint ein solches Verfahren aber eher die Regel denn die Ausnahme zu sein.)


    Denkbar wäre aber auch eine "Sozio-kulturelle, diachrone Analyse gigantomanischer Romanfiguren von Rabelais' Gargantua und Pantagruel über Swift zu Rowlings Hagrid unter besonderer Berücksichtigung dislozierter Wohnbedingungen und deren Funktion für die soziale Kohärenz und/oder Gruppenbildung". Mit feinsinnigsten Beweisen für die Gründe einer solchen Dislokation bei Rowling und ihres Bezuges zum hogwartschen Sozialgefüge. Ad infinitum.


    Ergebnis wäre, dass von Literatur_wissenschaft_ nicht gesprochen werden kann, da Kriterien wie Reproduzierbarkeit, empirische Bestätigung nicht erfüllbar sind. Ein Sprechen über Literatur daher nur in unzähligen Einzeltheorien möglich ist, deren Bedingung ihre innere logische Kohärenz ist. Die Subjektivität darf dabei nicht selbst begründend sein (es ist schön, weil es schön ist; es ist schön, weil es mir gefällt; es gefällt mir, weil es schön ist etc.), sondern muss sich auf intersubjektiv nachvollziebare Argumente stützen. Jeder logisch unanfechtbare Begründungskosmos ist gleichberechtigt, kritisiert wird aufgrund deduktiver Regeln.


    Dennoch ist offenkundig, dass die deduktive Logik hier an ihre Grenzen stößt. Immer ließe sich spitzfindig aus dem dümmsten Buch die klügste Interpretation ableiten (ich glaube aus Hagrids Hütte vor dem Schloss so manch schlaues Sätzchen mir abringen zu können), ein dämlicher Dialog sich als vielschichtig darstellen (die Intelligenz liegt in der Dummheit der Darstellung, diese Einfachheit ist Stilmittel und weist auf die Raffinesse der intelligent dargestellten Dummheit hin etc.). Weshalb man dann doch wieder bei Schleiermachers divinatorischen Auslegungen endet.


    Postulieren einer Kritik der reinen, literarischen Hausverstandslogik?? - Hausverstand, der die Existenz von Antipoden über Jahrhunderte schlagend widerlegte.


    Liebe Grüße


    s.

  • Hallo zusammen!


    Ich habe den wissenschaftstheoretischen Teil des Werther-Threads mal abgetrennt und zum Kriterien-Thread hinzugefügt. Scheint mir hier passender, und es wurde auch schon hierher verlinkt. :winken:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo scheichsbeutel,


    ich glaube, ich bin zunächst mit deiner einleitenden Trias nicht vollkommen einverstanden: Wissenschaft muss zwar tatsächlich von Mythos, Kunst usw. zu unterscheiden sein (ist sie ja auch), aber mE nicht durch die zwei folgenden Punkte (empirische Bestätigung und Reproduzierbarkeit, wobei es mir, ehrlich gesagt, schwer fällt, beides in deiner Argumentation auseinanderzuhalten). Diesen Begriff von Wissenschaft, der sich auf eine Existenz in der "Wirklichkeit" stützt, die er als "Wahrheit" zu erkennen hilft, indem er objektive und also empirisch nachzuweisende und immer eins zu eins reproduzierbare Thesen produziert, ist für die Betrachtung von Kunst und Literatur offenkundig unbrauchbar - weil sie es eben immer auch mit der Beschreibung von höchst unterschiedlichen Meinungen und ästhetischem Empfinden zu tun hat.


    Dieser Schwierigkeit wurde in einer eher traditionell hermeneutischen Lit.wiss. Rechnung getragen, indem auf so etwas wie "tieferen Sinn" rekurriert wurde: Das ist in der christlichen Bibelexegese, die du als Beispiel nennst, nicht viel anders als bei Dilthey (bei dem ich mich, zugegeben, nicht wirklich gut auskenne) und seinem emphatischen Erlebnisbegriff.


    Der Strukturalismus versuchte seinerseits eher positivistisch auf die genannte Schwierigkeit zu reagieren: Da wurden Texte zB auf Worthäufigkeiten, Ideolekte (also: bestimmte Fach- oder Gruppensprachen) oder Handlungsschemata hin abgeklopft, eine Analyse bezog sich vor allem auf das vorhandene Sprachmaterial, das als vermeintlich "objektiv" zugängliche Ebene eines Textes betrachtet wurde. Der Strukturalismus hat damit einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Wissenschaftsbegriffs in Bezug auf Literatur geleistet, indem er das Material, das auf dem Papier steht, als den zentral zu analysierenden Baustein auswies (das Schlagwort heißt linguistic turn in der Lit. wiss.). Viele strukturalistische Studien kann man immer noch mit großem Gewinn lesen.


    Der Poststrukturalismus behält die Fixierung aufs Textmaterial bei, weist aber darauf hin, dass individuelle Rezeption, diskursive Verortung, historischer Zeitpunkt u. dgl. mehr, ganz viel mit dem Material anstellen, so dass dieses keineswegs objektiven Charakter (im Sinne eines Apfels, der vom Baum fällt) hat. Diese Grundthese verbindet (so sehe ich das wenigstens) alle poststrukturalistischen Herangehensweisen, wobei die Methoden ansonsten sehr unterschiedlich sind, weshalb es auch schwerlich möglich ist von "dem Poststrukturalismus" zu sprechen, vor allem, wenn man ihn in Bausch und Bogen verdammen will :breitgrins: ;-). Die wichtige Erkenntnis des PS ist: Die vermeintliche Objektivität des Materials ist ein Trugschluss, seine Verbindung mit einem "Sinn" hängt von vielen Faktoren ab, die nicht erschöpfend zu behandeln sind. Gleichzeitig verhindert die Skepsis gegenüber universellen geteilten Sinnstrukturen, dass die lit.wissenschaftliche Analyse wieder in klassisch hermeneutischem "tieferem Sinn" versinkt.


    Die Wissenschaftlichkeit der Lit. wissenschaft bestünde demnach nicht in der Suche nach allgemein gültigen Prinzipien, auf die sich jeder Text zurückführen lassen muss, sondern in einer analytischen Herangehensweise, die aufzeigt, wie die Rezeption zu bestimmten historischen Zeitpunkten vor sich geht; wie es zur Bildung vorherrschender ästhetischer Empfindungen kommt; warum nicht die eindeutige "Bedeutung", sondern das mehrdeutige "Bedeutende" im Zentrum der Aufmerksamkeit einer Textbetrachtung stehen muss.


    Ein entsprechendes Verständnis von "Wissenschaftlichkeit" (und es ist das meinige) hat also nichts mit immer identischer Reproduzierbarkeit im Sinne unerschütterlicher allgemeiner Gültigkeit zu tun. Es hat etwas mit der Bereitschaft zu tun, sich von intuitiver Hermeneutik und ihrer Verwurzelung in subjektiver und unhintergehbarer Selbstverständlichkeit zu lösen. Wissenschaftliche Textanalyse wäre also eine, die vom unmittelbaren "Erleben" zurücktritt und bereit ist, dieses Erleben kritisch zu hinterfragen und es vor allem nicht als Argument ins Feld führen zu wollen.


    Die wissenschaftliche Leistung bestünde somit allgemein gesprochen darin, ein Feld zu bereiten, auf dem man sich unabhängig von Subjektivität über Ästhetik unterhalten kann, ohne dass zugleich eine Diktatur des "richtigen" ästhetischen Empfindens eingeführt wird. Maxime wäre: Was ich in Bezug auf einen Text überzeugend begründen kann, hat solange Gültigkeit, bis man mir die Stützen meiner Argumentation argumentativ wegschlägt. Was ist das anderes als Falsifizierbarkeit? Und ein Wissenschaftsbegriff, der auf letzte Wahrheiten zielt, ist auch in den Naturwissenschaften nicht mehr der letzte Schrei. Dass man so in Beliebigkeit im Sinne einer Bewisbarkeit jeder These verfiele, halte ich für ein Gerücht. Der Zirkelschluss in deinem angefangenen "Dummheit der Darstellung = Intelligenz"-Beispiel springt wenigstens mir sofort ins Auge. :breitgrins:


    P.S. Schön, dass du meinen Lektüreempfehlungen gefolgt bist. Und bevor du sie eventuell wieder frustriert beiseite legst, lass es mich wissen. Es wären doch eigentlich Texte wie die "Archäologie des Wissens", denen man sich mal in einer Leserunde widmen könnte. Sowas entstaubt die Gehirnwindungen.

  • Hallo Bartlebooth,



    ich glaube, ich bin zunächst mit deiner einleitenden Trias nicht vollkommen einverstanden: Wissenschaft muss zwar tatsächlich von Mythos, Kunst usw. zu unterscheiden sein (ist sie ja auch), aber mE nicht durch die zwei folgenden Punkte (empirische Bestätigung und Reproduzierbarkeit, wobei es mir, ehrlich gesagt, schwer fällt, beides in deiner Argumentation auseinanderzuhalten). Diesen Begriff von Wissenschaft, der sich auf eine Existenz in der "Wirklichkeit" stützt, die er als "Wahrheit" zu erkennen hilft, indem er objektive und also empirisch nachzuweisende und immer eins zu eins reproduzierbare Thesen produziert, ist für die Betrachtung von Kunst und Literatur offenkundig unbrauchbar - weil sie es eben immer auch mit der Beschreibung von höchst unterschiedlichen Meinungen und ästhetischem Empfinden zu tun hat.


    Vorweg: Ich habe bewusst eine stark an der Naturwissenschaft sich orientierende Definition für Wissenschaft herangezogen. Unter empirischer Bestätigung verstand ich den Beleg der These durch unterschiedliche Texte, während die Reproduzierbarkeit darauf abzielt, unter gleichen Voraussetzungen beim selben Text zum selben Ergebnis zu kommen. Das aber ist nicht so wichtig, ich habe diese Dinge eigentlich nur deshalb hervorgehoben, weil ihre Verwirklichung in der Literaturwissenschaft offenkundig unmöglich ist, um diesen Gegensatz (provokativ) zu betonen.


    Das Ganze könnte zu einer Definitionsfrage verkommen. Wolfgang Neuser im Metzler Phil.lexikon definiert Wissenschaft als eine theoretische Erklärung von Wirklichkeitszusammenhängen und fordert "die prinzipielle Reproduzierbarkeit der Ergebnisse" als Kriterium für strenge Wissenschaftlichkeit. All das kann die Lit.wissenschaft nicht erfüllen, entsprechend dieser Forderung (die Akzeptanz der Definition vorausgesetzt) müsste sie man ihr also einen anderen Namen geben. Aber diese Kindstaufe ist im Grunde ohnehin sekundär.



    Dieser Schwierigkeit wurde in einer eher traditionell hermeneutischen Lit.wiss. Rechnung getragen, indem auf so etwas wie "tieferen Sinn" rekurriert wurde: Das ist in der christlichen Bibelexegese, die du als Beispiel nennst, nicht viel anders als bei Dilthey (bei dem ich mich, zugegeben, nicht wirklich gut auskenne) und seinem emphatischen Erlebnisbegriff.


    Schon bei Dilthey (den ich keinesfalls gut zu kennen glaube) beginnt bei mir das Stirnrunzeln. Das, was er unter Anlehnung an Schleiermacher postuliert, mutet für mich als simple Selbstverständlichkeit an. Im Grunde ist es die Abkehr von einem Offenbarungsverständnis, der Text als solcher ist nicht das einzig entscheidende, der lesende (interpretierende) Mensch hat auf diese Rezeption einen Einfluss. Nun weiß ich nicht, ob Schleiermacher der erste war, welcher auf diesen Zusammenhang hinwies, mir will diese Erkenntnis als Binsenweisheit erscheinen.


    Dieser nun nicht mehr automatenhaft funktionierende Leser soll sich in den Autor einfühlen können (oder es zumindest versuchen), um dessen Intentionen zu durchschauen, des weiteren wird ein hermeneutischer Zirkel (Dilthey) beschrieben, der von einem Vorwissen des Lesers ausgeht, welches im Lesen selbst eine Modifikation erfährt. Beide Dinge scheinen eng miteiander verknüpft und ebenfalls nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein: Dass jemand, der ein Buch liest, etwas dazulernt, dass sein Wissen vergrößert, modifiziert wird, dass diese erweiterte Erkenntnis wieder auf das Lesen zurückwirkt, dass eine Kenntnis der Lebensumstände des Autors eine veränderte Betrachtungsweise bewirken - dies alles ist wirklich keine große Einsicht. Auf diesem Prinzip ruht jede Schulausbildung; irgendwie glaubt man, dass den Rackern etwas beizubringen ist und manchmal ist man tatsächlich versucht, diesem Glauben zuzustimmen. Wer liest - lernt etwas; und dieses Gelernte wird beim Lesen erneut auf das Verständnis des Textes rückwirken.


    Was mich so ausführlich über derlei schreiben lässt ist ein m. E. schon bei der Hermeneutik erkennbarer Vorgang, in hochkomplizierter Terminologie (von Zirkeln sprechend, welche sich auf Götterboten berufen) Gemeinplätze breitzutreten und ihnen den Nimbus des Hochgeistigen zu verleihen.


    (Der diltheysche Erlebnisbegriff - soweit ich ihn kenne bzw. verstanden habe, hat etwas ähnlich Plattes: Der Dichter gestaltet ein Erlebnis auf individuelle und beispielhafte Weise; ausgehend von einer weitgehenden Homogenität unserer Kultur kann sich nun der Leser einfühlen. Kritik an diesem Konzept wurde z. B. von jenen geübt, die an ein solches kulturübergreifendes Verstehen nicht glauben. Ich habe aber schlicht den Eindruck, dass auch diese Kritik nur ausspricht, was ohnehin selbstevident ist: Je ähnlicher das kulturelle Umfeld von Autor und Leser einander sind, desto eher werden sie einander verstehen. Lernen auch hier nicht ausgeschlossen ;-)).



    Der Strukturalismus versuchte seinerseits eher positivistisch auf die genannte Schwierigkeit zu reagieren: Da wurden Texte zB auf Worthäufigkeiten, Ideolekte (also: bestimmte Fach- oder Gruppensprachen) oder Handlungsschemata hin abgeklopft, eine Analyse bezog sich vor allem auf das vorhandene Sprachmaterial, das als vermeintlich "objektiv" zugängliche Ebene eines Textes betrachtet wurde. Der Strukturalismus hat damit einen wichtigen Beitrag zur Klärung des Wissenschaftsbegriffs in Bezug auf Literatur geleistet, indem er das Material, das auf dem Papier steht, als den zentral zu analysierenden Baustein auswies (das Schlagwort heißt linguistic turn in der Lit. wiss.). Viele strukturalistische Studien kann man immer noch mit großem Gewinn lesen.


    Diesem linguistic turn kann ich zumindest in der Philosophie nichts abgewinnen (Popper sprach davon, dass ihm die Sprachphilosophen wie Zimmerleute vorkämen, die ihre gesamte Arbeitszeit mit dem Schärfen der Werkzeuge verbringen). Ein Primat der Sprache als wirklichkeitsproduzierend (-konstituierend) erscheint mir abstrus, wäre aber eine völlig andere Diskussion. In der Literaturwissenschaft habe ich hingegen häufig die Abenteuerlichkeit zum Prinzip erhoben gesehen. Oder aber den Eindruck gewonnen, dass die Analyse in jedem Fall eine vorgefertigte Meinung bestätigen soll, was sich mit einiger Kreativität sich bewerkstelligen ließ. (Das müsste man natürlich für jede einzelne Arbeit kritisieren, ich will - und kann - nicht ausschließen, dass sich unter diesen Arbeiten auch Hervorragendes verbergen könnte. Meine Erinnerung ist die an strukturalistische Erbsenzählerei. Im übrigen versuche ich vergeblich, mir eine genaue Vorstellung einer strukturellen Analyse zu bilden, hier wird in Teile zerlegt und nach neuen Gesichtspunkten zusammengefügt, die neuen Strukturen interpretiert, verglichen - und irgendwie hat die Vorgehensweise etwas Beliebiges. Aber - wie erwähnt, kann man diese Kritik wohl nur an konkreten Arbeiten festmachen.)



    Der Poststrukturalismus behält die Fixierung aufs Textmaterial bei, weist aber darauf hin, dass individuelle Rezeption, diskursive Verortung, historischer Zeitpunkt u. dgl. mehr, ganz viel mit dem Material anstellen, so dass dieses keineswegs objektiven Charakter (im Sinne eines Apfels, der vom Baum fällt) hat.


    Ups - da war eine Wortbildung, bei welcher sich meine Nackenhaare sträubend meldeten und die mir erklärungsbedürftig erscheint: Diskursive Verortung. Ein von Foucault eingeführter Begriff? (Diese Art von Wörtern sind es im übrigen, die mich bei der Lektüre verärgern. Ich pflege langsam zu lesen und versuche zumindest, den vor mir liegenden Text zu verstehen. Stoße ich auf einen Satz, der mir unklar ist, so lese ich ihn nochmal, lese vielleicht noch einen Absatz, eine oder mehrere Seiten weiter. Wird mir keine Erleuchtung zuteil, geschieht das im Gegenteil immer und immer wieder - lege ich meist das Buch weg. Wobei es eben meist Begriffe wie der oben erwähnte sind, die die Dunkelheit der Textstellen verursachen, selten hingegen Fremdwörter (welche nachgeschlagen werden können und zumeist eine relativ klar umrissene Bedeutung haben)).



    Diese Grundthese verbindet (so sehe ich das wenigstens) alle poststrukturalistischen Herangehensweisen, wobei die Methoden ansonsten sehr unterschiedlich sind, weshalb es auch schwerlich möglich ist von "dem Poststrukturalismus" zu sprechen, vor allem, wenn man ihn in Bausch und Bogen verdammen will :breitgrins: ;-). Die wichtige Erkenntnis des PS ist: Die vermeintliche Objektivität des Materials ist ein Trugschluss, seine Verbindung mit einem "Sinn" hängt von vielen Faktoren ab, die nicht erschöpfend zu behandeln sind.


    Der letzte Satz ist auch ein Stolperstein - auch wenn ich ihm zustimmen kann: Er scheint zu sagen, dass es keinen rein objektiven Text gibt, sondern dieser noch - irgendeiner - Art von Interpretation, einer Sinngebung bedarf. Das aber ist schwer, weil von so vielen Faktoren abhängig. Gebe ich alles zu. Aber im Grunde ließe sich die Aussagen auf ein "es ist alles sehr kompliziert" reduzieren - und das scheint dann doch wieder wenig zu sein.



    Gleichzeitig verhindert die Skepsis gegenüber universellen geteilten Sinnstrukturen, dass die lit.wissenschaftliche Analyse wieder in klassisch hermeneutischem "tieferem Sinn" versinkt.


    Wenn ich das richtig verstehe, so heißt das, dass es eben nicht _einen_ richtigen Sinn gibt (der irgendwie zu finden wäre wie im hermeneutischen Konzept - wobei ich gar nicht so sicher bin, abgesehen von dieser Erlebnisterminologie, ob dies in der Hermeneutik so sein soll), sondern mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten. Auch dem stimme ich zu, aber es läuft dann doch wieder auf den "sehr kompliziert"-Satz hinaus.



    Die Wissenschaftlichkeit der Lit. wissenschaft bestünde demnach nicht in der Suche nach allgemein gültigen Prinzipien, auf die sich jeder Text zurückführen lassen muss, sondern in einer analytischen Herangehensweise, die aufzeigt, wie die Rezeption zu bestimmten historischen Zeitpunkten vor sich geht; wie es zur Bildung vorherrschender ästhetischer Empfindungen kommt; warum nicht die eindeutige "Bedeutung", sondern das mehrdeutige "Bedeutende" im Zentrum der Aufmerksamkeit einer Textbetrachtung stehen muss.


    Ein entsprechendes Verständnis von "Wissenschaftlichkeit" (und es ist das meinige) hat also nichts mit immer identischer Reproduzierbarkeit im Sinne unerschütterlicher allgemeiner Gültigkeit zu tun. Es hat etwas mit der Bereitschaft zu tun, sich von intuitiver Hermeneutik und ihrer Verwurzelung in subjektiver und unhintergehbarer Selbstverständlichkeit zu lösen. Wissenschaftliche Textanalyse wäre also eine, die vom unmittelbaren "Erleben" zurücktritt und bereit ist, dieses Erleben kritisch zu hinterfragen und es vor allem nicht als Argument ins Feld führen zu wollen.


    Dem kann ich nur zustimmen - und es scheint mir auch nicht (wie oben ausgeführt) weiter wichtig, ob dies nun per definitionem "wissenschaftlich" sei (oder mit einem anderen Wort zu belegen). Diese Bezeichnungsfrage war, wie ebenfalls erwähnt, eher provokativ. Ob allerdings die Hermeneutik mit "unhintergehbarer Selbstverständlichkeit" Dinge behauptet (bzw. zu behaupten beabsichtigt), ob nicht im Rahmen des hermeneutischen Zirkels eine ständige Neuinterpretation, Neubetrachtung erfolgt (und wegen des sich ändernden Erkenntnisstandes erfolgen _muss_), sei bezweifelt. Wenn ich dich richtig verstehe, so besteht der Unterschied zwischen deiner Herangehensweise und dem hermeneutischen Ansatz darin, dass dieser der Subjektivität ein Primat einräumt, während dir an bewusster, analytischer Reflexion des "unmittelbaren Erlebens" gelegen ist.



    Die wissenschaftliche Leistung bestünde somit allgemein gesprochen darin, ein Feld zu bereiten, auf dem man sich unabhängig von Subjektivität über Ästhetik unterhalten kann, ohne dass zugleich eine Diktatur des "richtigen" ästhetischen Empfindens eingeführt wird. Maxime wäre: Was ich in Bezug auf einen Text überzeugend begründen kann, hat solange Gültigkeit, bis man mir die Stützen meiner Argumentation argumentativ wegschlägt. Was ist das anderes als Falsifizierbarkeit? Und ein Wissenschaftsbegriff, der auf letzte Wahrheiten zielt, ist auch in den Naturwissenschaften nicht mehr der letzte Schrei.


    Letzteres ist mir durchaus bewusst :-). Wenngleich man den Wahrheitsanspruch nicht fallen lassen sollte - vielmehr jenen auf Gewissheit. Deine andere Darstellung (inklusive der Falsifizierbarkeit) gefällt mir sehr gut. Obschon man natürlich bei allen Argumentationen in die subjektive Ebene abgleiten kann, dann, wenn etwa zwei konkurrierende Ansichten über Ästhetik als Grund für die Beweisführung einer bestimmten These herangezogen würden. Aber entscheidend wäre ja (weil der naturwissenschaftliche Ansatz ohnehin aufgegeben werden muss), dass man mit einer in sich logischen Beweisführung keine Probleme hätte, zwei konkurrierende - wenn widerspruchsfrei und gut begründet - ohne weiteres stehen lassen kann.



    Dass man so in Beliebigkeit im Sinne einer Bewisbarkeit jeder These verfiele, halte ich für ein Gerücht. Der Zirkelschluss in deinem angefangenen "Dummheit der Darstellung = Intelligenz"-Beispiel springt wenigstens mir sofort ins Auge. :breitgrins:


    Ich weiß nicht ;-). Mir schwebte ein höchst kurioser Dialog aus der unseligen Veronika (Coelho) vor, der derart platt und aufgesetzt wirkte, dass ich nicht zu glauben vermochte, dies könne ernst gemeint sein. Die ganze Szene hatte etwas von einem absurden Theaterstück. Damals hab ich mir derartige Interpretationsmöglichkeiten überlegt, inwieweit man dem Autor in der Hölzernheit und Einfalt der Gesprächsführung nicht doch Raffinesse der Darstellung hätte konzedieren können, Plattheit als Stilmittel, um sowohl situationsspezifische als auch personenspezifische Feinheiten auszudrücken. Allerdings geb ich zu, dass der Widerspruch bei diesem Buch offenkundig wäre, weil eine derartige Darstellung dem gesamten anderen trivialen Inhalt eklatant widersprechen würde.



    P.S. Schön, dass du meinen Lektüreempfehlungen gefolgt bist. Und bevor du sie eventuell wieder frustriert beiseite legst, lass es mich wissen. Es wären doch eigentlich Texte wie die "Archäologie des Wissens", denen man sich mal in einer Leserunde widmen könnte. Sowas entstaubt die Gehirnwindungen.


    Die Idee halte ich für sehr interessant, das könnte eine (die einzige?) Möglichkeit sein, dass mir eine Auseinandersetzung mit diesen Ideen gelingt; wann genau meine Entlehnwünsche bei den diversen Bibliotheken in Erfüllung gehen, kann ich allerdings noch nicht sagen. Ärchologie des Wissens oder Überwachen und Strafe? (Ich hoffe, die Werke sind nicht allzu umfangreich.) Und obs mit dem Entstauben klappt?? - bisher hatte ich eher immer das Gefühl des Verklebens und Verpappens :-).


    Überhaupt glaube ich, dass mögliche Differenzen in der Herangehensweise an Literatur bzw. an die Interpretation derselben am ehesten in einer "Leserunde" zu Tage treten und dort anhand des zu lesenden Werkes offenkundig würden. An solch einem konkreten Beispiel könnte mir etwa klar werden, inwieweit sich deine poststrukturalistische Methode von der meinen (einer namenlosen "Kompliziert-Theorie"? :-) ) unterscheidet.


    Liebe Grüße


    s.

  • Hallo scheichsbeutel,


    nicht böse sein, aber manchmal kommen mir die Kritiker des PS vor wie die Frauen, die die Frauenbewegung kritisieren :breitgrins:. Es mag ja sein, dass dir heute viele Dinge als selbstverständlich erscheinen (zB dass der Leser an der Sinnproduktion teilnimmt), aber das macht aus ihnen nun wahrlich noch keine Binsenweisheiten. Frag doch mal wen auch immer, wie Verstehen funktioniert und dir wird in Bezug auf Texte serviert werden: Es kommt darauf an herauszufinden, was der Autor sagen wollte. Selbst an unserem Schulunterricht ist die "Binsenweisheit", dass dies nicht so ohne weiteres stimmt, ziemlich spurlos vorübergegangen. "Der Tod des Autors" - ein zugegeben sehr polemisch zugespitzter Text, den man nicht bis zur letzten Verästelung verteidigen kann - ist aus den frühen 60ern. Die Differenzierung dieses Gedankens erfolgte später.
    Auch das klassische Kommunikationsmodell (Container-Modell von Shannon/Weaver) ist, glaube ich, von Ende der 40er und für viele heute noch absolut selbstverständlich in Kraft: Ein Gedanke wird vom Sender enkodiert in eine Botschaft, übermittelt und muss vom Empfänger wieder dekodiert werden. Hat er den richtigen Code, funktioniert's, ansonsten gibt's eine Fehlkommunikation.


    Der Witz an der klassischen Hermeneutik ist, dass sie ziemlich genau nach solchen Mustern funktioniert. Zwar erlaubt auch der hermeneutische Zirkel eine Vielzahl von Interpretationen, aber eben in einem bestimmten Rahmen. Eine Neuausdeutung eines Textes mit modernerem Wissen, ist hermeneutisch mit ziemlicher Sicherheit ein Anachronismus. Das zusätzliche Wissen, das das Textverständnis immer genauer macht, bezieht sich, wenn mich nicht alles täuscht, auf eine Verfeinerung des Verständnisses des "Gemeinten" - eben indem man die Zeit des Autors bzw. vor allem sein Leben besser kennenlernt, indem man den kulturellen Code besser begreift (Shannon/Weaver lassen grüßen) usw. Der Unterschied ist, dass der hermeneutischen Textvorstellung ein Sinn unterliegt, dem man sich immer weiter nähert, der Akzent liegt also auf der Bedeutung. Im PS (und auch bereits im Strukturalismus) liegt er wie gesagt auf dem Bedeutenden, was ganz andere Möglichkeiten erschließt. Ein "Primat der Subjektivität" in der Hermeneutik kann ich nicht erkennen.


    Natürlich kann ich so prinzipiell auch einander völlig widersprechende Interpretationen desselben Textes abliefern (Paul de Man hat das etwa in den "Allegorien des Lesens" auch zu meiner ursprünglichen heillosen Verwirrung vorgeführt), aber das halten wir ja beide nicht für problematisch, insofern: an dieser Stelle Konsens :-).


    Deine Kritik am Strukturalismus ist tatsächlich nur im Detail zu widerlegen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Wortzählerei wirklich ein Auswuchs ist. Normalerweise geht es um Handlungsschemata (etwa das Aktantenschema von Algirdas Greimas), strukturale Sequenzanalysen (zB die "Morphologie des Märchens" von Vladimir Propp, der für die europäischen Märchen eine klar begrenzte Zahl möglicher Verläufe definiert) oder um Analysen von Sprachebenen (zB bei Bachtin) u. dgl. mehr. Diese ganzen Schematismen sind natürlich nicht unangreifbar, aber sie helfen doch ganz großartig bei einer ersten Annäherung an einen Text.


    Zitat von "scheichsbeutel"

    Ups - da war eine Wortbildung, bei welcher sich meine Nackenhaare sträubend meldeten und die mir erklärungsbedürftig erscheint: Diskursive Verortung. Ein von Foucault eingeführter Begriff?


    Den Diskursbegriff verwende ich in Anlehnung an Foucault. Er hat ihn allerdings selbst nie ganz geklärt. Zwischen "Diskurs" und "diskursiver Formation" zu unterscheiden, die Rolle des "Archivs" oder der "Episteme" zu beschreiben, ist nicht ganz leicht, weil Foucault terminologisch nicht ganz sauber arbeitet. Das sind aber nur Nuancen, die man dann halt für den Gebrauch selbst entscheiden muss. Und mal ehrlich: Kannst du Begriffe von Kant, Hegel oder Heidegger im Konversationslexikon nachschlagen und bekommst dann eine klar umrissene Bedeutung? Wir dürfen nicht vergessen, dass Foucault Philosoph ist und seine Begriffe Bausteine eines ziemlich umfänglichen Theoriegebäudes sind, das eben nicht so einfach in drei Sätzen präzise zu beschreiben ist. Ich fordere da Nachsicht. :-)


    Zitat von "scheichsbeutel"

    Er [der Satz] scheint zu sagen, dass es keinen rein objektiven Text gibt, sondern dieser noch - irgendeiner - Art von Interpretation, einer Sinngebung bedarf. Das aber ist schwer, weil von so vielen Faktoren abhängig. Gebe ich alles zu. Aber im Grunde ließe sich die Aussagen auf ein "es ist alles sehr kompliziert" reduzieren - und das scheint dann doch wieder wenig zu sein.


    Naja, das ließe sich sicher, aber interessanter wäre es doch, einzelne historisch dominante Sinngebungsprozesse zu beschreiben ;-). Die Aussage, die ich als eine grundlegende poststrukturalistische beschrieben habe, ist ja nicht Endpunkt, sondern eben theoretische Grundlage einer Analyse.


    Herzlich, B.